Der Pharisäer und der Zöllner

Der Pharisäer und der Zöllner

Lukas 18,9-14

Zu „etlichen, die bei sich dachten, dass sie fromm wären, und verachteten die andern,“ sprach Christus das Gleichnis vom Pharisäer und Zöllner. Der Pharisäer geht in den Tempel um anzubeten, aber nicht, weil er fühlt, dass er ein Sünder ist, und der Vergebung bedarf, sondern weil er sich für gerecht hält und Lob erwartet. Er betrachtet seine Anbetung als eine Handlung die ihn vor Gott angenehm macht und gleichzeitig dem Volke eine hohe Meinung von seiner Frömmigkeit gibt. Er will sich die Gunst Gottes und der Menschen sichern. Sein eigenes Interesse treibt ihn zur Anbetung. Er ist voller Selbstlob. Das ist aus seinen Blicken, aus seiner ganzen Haltung und sogar aus seinem Gebet ersichtlich. Sich von den anderen absondernd, als ob er sagen wolle: „komm mir nicht näher, denn heiliger bin ich als du“ (Jesaja 65,5), steht er und betet „mit sich selbst“. Mit sich selbst vollkommen zufrieden, glaubt er, dass Gott und Menschen ihn auch mit demselben Wohlgefallen betrachten.

„Ich danke dir, Gott,“ sagt er, „Dass ich nicht bin wie die andern Leute: Räuber, Ungerechte, Ehebrecher, oder auch wie dieser Zöllner.“ Er beurteilt seinen Charakter nicht nach dem heiligen Charakter Gottes, sondern nach dem Charakter anderer Menschen. Seine Gedanken sind nicht auf Gott, sondern auf Menschen gerichtet. Hier liegt das Geheimnis seiner Selbstzufriedenheit. Er zählt seine guten Werke auf: „Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, das ich habe.“ Die Religion des Pharisäers berührt nicht die Seele, sie strebt nicht nach einem gottähnlichen Charakter und einem von Liebe und Barmherzigkeit erfüllten Herzen. Der Pharisäer gibt sich mit einer Religion zufrieden, die es nur mit dem äußerlichen Leben zu tun hat. Seine Gerechtigkeit ist seine eigene — die Frucht seiner eigenen Werke, die vom menschlichen Standpunkte aus beurteilt wird. Ein jeder, welcher denkt, dass er gerecht ist, wird andere verachten. Wie der Pharisäer sich selbst nach anderen Menschen beurteilt, so beurteilt er andere Menschen nach sich. Seine Gerechtigkeit wird nach der ihrigen abgeschätzt und je schlechter sie sind, desto gerechter erscheint er im Vergleich mit ihnen. Seine Selbstgerechtigkeit führt zum Beschuldigen anderer. „Die andern Leute“ verdammt er als Übertreter des Gesetzes Gottes. Dadurch bekundet er den Geist Satans, des Verklägers der Brüder. Mit diesem Geiste aber ist es unmöglich für ihn, in Gemeinschaft mit Gott zu kommen; er geht, des göttlichen Segens bar, hinab in sein Haus.

Der Zöllner war mit anderen Anbetern zusammen in den Tempel gegangen, hatte sich aber bald von ihnen zurückgezogen, weil er sich unwürdig fühlte, zusammen mit ihnen anzubeten. Von ferne stehend, wollte er „auch seine Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug“ in bitterer Reue sich selbst verachtend „an seine Brust“. Er fühlte, dass er vor Gott gesündigt habe, dass er unrein und befleckt war. Er konnte von seiner Umgebung nicht einmal Mitleid erwarten, denn alle blickten mit Verachtung auf ihn herab. Er wusste, dass er nichts hatte, wodurch er sich bei Gott angenehm machen konnte, und an sich selbst verzweifelnd, rief er aus: „Gott, sei mir Sünder gnädig!“ Er verglich sich nicht mit anderen. Überwältigt von dem Schuldgefühl stand er, alles um sich vergessend, allein in der Gegenwart Gottes. Sein einziges Verlangen war Vergebung und Frieden zu empfangen, gestützt einzig und allein auf die Gnade Gottes; und er wurde gesegnet. „Ich sage euch,“ sagte Christus, „dieser ging hinab gerechtfertigt in sein Haus vor jenem.“

Der Pharisäer und der Zöllner stellen zwei große Klassen dar, in welche sich die Anbeter Gottes teilen lassen. Ihre ersten beiden Vertreter werden in den ersten beiden Kindern gefunden, die auf dieser Erde geboren wurden. Kain hielt sich selbst für gerecht und kam nur mit einem Dankopfer zu Gott. Er legte kein Sündenbekenntnis ab und erkannte nicht die Notwendigkeit der Gnade an. Abel dagegen kam mit dem Blut, welches auf das Lamm Gottes hinwies. Er kam als Sünder und bekannte, dass er verloren sei und dass seine einzige Hoffnung in der unverdienten Liebe Gottes lag. Der Herr sah sein Opfer gnädig an, aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Das Gefühl unserer Bedürftigkeit, die Erkenntnis unserer Armut und unserer Sünde sind die ersten Bedingungen zu unserer Annahme bei Gott. „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn das Himmelreich ist ihr.“ Matthäus 5,3. In der Geschichte des Apostels Petrus findet sich eine Lehre für jede der beiden Klassen, die durch den Pharisäer und Zöllner dargestellt werden. In der ersten Zeit seiner Jüngerschaft hielt Petrus sich für stark. Gleich dem Pharisäer war er in seinen Augen nicht „wie die andern Leute“. Als Christus am Abend, ehe er verraten wurde, seinen Jüngern sagte: „Ihr werdet euch in dieser Nacht alle an mir ärgern“, da erklärte Petrus zuversichtlich: „Und wenn sie sich alle ärgerten, so wollte doch ich mich nicht ärgern.“ Markus 14,27.29. Petrus kannte seine eigene Gefahr nicht. Sein Selbstvertrauen führte ihn irre. Er glaubte imstande zu sein, der Versuchung zu widerstehen; aber nur wenige kurze Stunden darauf kam die Prüfung, und mit Fluchen und Schwören verleugnete er seinen Meister. Als das Krähen des Hahnes ihn an die Worte Christi erinnerte, wandte er sich, erstaunt und erschrocken über das, was er eben getan hatte, um und blickte seinen Meister an. In demselben Augenblick richtete auch Christus seine Augen auf Petrus, und unter jenem bekümmerten Blick, in welchem Mitleid und Liebe zu ihm vermischt waren, erkannte Petrus sich selbst. Er ging hinaus und weinte bitterlich. Jener Blick Christi brach sein Herz. Petrus war zum Wendepunkt gekommen und beweinte seine Sünde bitterlich. Er war dem Zöllner gleich in seiner Buße und Reue, und auch er fand Gnade. Der Blick Christi sicherte ihm Vergebung zu. Jetzt war sein Selbstvertrauen dahin und nie wieder wurden die alten prahlerischen Behauptungen wiederholt. Nach seiner Auferstehung prüfte Christus den Petrus dreimal. „Simon Jona,“ sagte er, „hast du mich lieber, denn mich diese haben?“ Petrus erhob sich jetzt nicht über seine Brüder. Er wandte sich zu dem Einen, der sein Herz lesen konnte. „Herr,“ sagte er, „du weißt alle Dinge, du weißt, dass ich dich liebhabe.“ Johannes 21,15.17. Daraufhin erhielt er seinen Auftrag vom Herrn. Es wurde ihm ein größeres und köstlicheres Werk aufgetragen, als er bisher gehabt hatte. Christus gebot ihm, die Schafe und die Lämmer zu weiden. Indem er seiner Fürsorge die Seelen anvertraute, für welche er sein Leben dahin gegeben hatte, gab Christus dem Petrus den stärksten Beweis, dass er von seiner aufrichtigen Reue und seiner Umkehr überzeugt sei. Der einstmals so ruhelose, prahlerische, sich selbst vertrauende Jünger war unterwürfig und bußfertig geworden. Hinfort folgte er seinem Herrn in Selbstverleugnung und Aufopferung. Er war ein Teilhaber der Leiden Christi; und wenn Christus auf dem Thron seiner Herrlichkeit sitzen wird, dann wird Petrus auch ein Teilhaber seiner Herrlichkeit sein.

Dasselbe Übel, welches Petrus zum Fall führte und den Pharisäer von der Gemeinschaft mit Gott ausschloss, erweist sich auch heute als das Verderben von Tausenden. Nichts ist Gott so missfällig oder der menschlichen Seele so gefährlich, als Stolz und Eigendünkel. Dies ist von allen Sünden die hoffnungsloseste und unheilbarste. Der Fall Petri war kein plötzlicher; er ging allmählich vor sich. Selbstvertrauen hatte Petrus zu dem Glauben verleitet, dass er gerettet sei, und Schritt für Schritt ging er den abwärtsführenden Pfad hinab, bis er seinen Meister verleugnen konnte. Wir können niemals mit Sicherheit Vertrauen in uns selbst setzen, oder diesseits des Himmels fühlen, dass wir gegen Versuchungen sicher sind. Man sollte niemals die, welche den Heiland annehmen, gleichviel wie aufrichtig ihre Bekehrung auch sein mag, lehren, zu sagen oder zu fühlen, dass sie gerettet sind. Dies ist irreführend. Sicherlich sollte jeder gelehrt werden, Hoffnung und Glauben zu nähren; aber selbst, wenn wir uns Christo übergeben haben und wissen, dass er uns angenommen hat, sind wir nicht außer dem Bereich der Versuchung. Das Wort Gottes sagt: „Viele werden gereinigt, geläutert und bewährt werden.“ Daniel 12,10. Nur der, „der die Anfechtung erduldet“, wird „die Krone des Lebens empfangen“. Jakobus 1,12. Die, welche Christus annehmen und in ihrer ersten Zuversicht sagen: ich bin gerettet, sind in Gefahr, ihr Vertrauen auf sich selbst zu setzen. Sie verlieren das Bewusstsein ihrer Schwäche und ihr beständiges Bedürfnis göttlicher Kraft aus den Augen. Sie sind unvorbereitet auf die Kunstgriffe Satans und viele fallen gleich wie Petrus in den Versuchungen in die tiefsten Tiefen der Sünde. Wir werden ermahnt: „Wer sich lässet dünken, er stehe, mag wohl zusehen, dass er nicht falle.“ 1.Korinther 10,12. Unsere einzige Sicherheit liegt in einem beständigen Misstrauen des eigenen Ich und der völligen Abhängigkeit von Christo.

Es war für Petrus notwendig, seine eigenen Charaktermängel und sein Bedürfnis der Kraft und Gnade Christi kennen zu lernen. Der Herr konnte ihn nicht vor Versuchungen bewahren, aber er hätte ihn vor dem Unterliegen bewahren können. Hätte Petrus die Warnung Christi angenommen, so hätte er gewacht und gebetet, wäre mit Furcht und Zittern gewandelt, auf dass seine Füße nicht straucheln möchten und würde göttliche Hilfe erhalten haben, so dass Satan den Sieg nicht hätte gewinnen können. Petrus fiel infolge seines übergroßen Selbstvertrauens, seines Eigendünkels; aber durch Reue und Demütigung wurden seine Füße wieder aufgerichtet. In dem Bericht von seiner Erfahrung kann jeder bußfertige Sünder Ermutigung finden. Obgleich Petrus schwer gesündigt hatte, wurde er doch nicht sich selbst überlassen. Die Worte Christi: „Ich aber habe für dich gebeten, dass dein Glaube nicht aufhöre“ (Lukas 22,32), standen ihm vor der Seele. In seiner quälenden Reue und Gewissensangst gaben dies Gebet und die Erinnerung an den Blick Christi so voller Liebe und Mitleid ihm Hoffnung. Nach seiner Auferstehung gedachte Christus an Petrus und gab dem Engel die Botschaft für die Frauen: „Gehet aber hin und sagt‘s seinen Jüngern und Petrus, dass er vor euch hingehen wird nach Galiläa; da werdet ihr ihn sehen.“ Markus 16,7. Petri Reue und Buße waren von dem sündenvergebenden Heiland angenommen worden.

Dasselbe Mitleid, welches die Hand ausstreckte, um Petrus zu retten, wird einer jeden Seele, die in der Versuchung gefallen ist, angeboten. Satan legt seine Pläne, bringt den Menschen in die Sünde und lässt ihn dann in einem hilflosen, zagenden Zustand, in dem er sich fürchtet, um Vergebung zu flehen. Aber warum sollten wir uns fürchten, da doch Gott gesagt hat, dass er uns bei unserer Kraft erhalten und uns Frieden schaffen wird? Jesaja 27,5. Es sind alle möglichen Vorkehrungen getroffen, und wir werden in jeder Weise ermutigt, zu Christo zu kommen. Christus bot seinen gebrochenen Leib dar, um das Erbteil Gottes zurück zu kaufen, und dem Menschen eine weitere Prüfungszeit zu geben. „Daher er auch selig machen kann immerdar die durch ihn zu Gott kommen, und lebet immerdar und bittet für sie.“ Hebräer 7,25. Durch sein fleckenloses Leben, seinen Gehorsam, seinen Tod am Kreuze auf Golgatha trat Christus für das verlorene Geschlecht ein und auch jetzt noch verwendet er, der Herzog unserer Seligkeit, sich für uns, nicht nur als Bittender, sondern als Sieger, der Anspruch macht auf das, was er errungen hat. Sein Opfer ist ein vollkommenes und als unser Vermittler führt er sein sich selbst auferlegtes Werk aus und hält das Räucherfass mit seinen eigenen tadellosen Verdiensten und mit den Gebeten, Bekenntnissen und Danksagungen seiner Nachfolger vor Gott dar. Mit dem Weihrauch seiner Gerechtigkeit erfüllt steigen sie wie ein süßer Geruch zu Gott empor. Das Opfer ist in jeder Beziehung dem Herrn angenehm und er deckt alle Übertretungen mit Vergebung. Christus hat es auf sich genommen, unser Stellvertreter und Bürge zu sein und er vernachlässigt niemand. Er, der es nicht ertragen konnte, menschliche Wesen dem ewigen Verderben ausgesetzt zu sehen, sondern seine Seele für sie in den Tod gab, wird mit Mitleid und Erbarmen auf jede Seele blicken, die erkennt, dass sie sich nicht selbst retten kann. Er wird keinen Zagenden, der bittend zu ihm kommt, ansehen, ohne ihn aufzurichten. Er, der durch seine Versöhnung den Menschen einen reichen Schatz geistiger Kraft zur Verfügung stellte, wird es nicht unterlassen, diese Kraft zu ihren Gunsten anzuwenden. Wir dürfen unsere Sünden und Sorgen zu seinen Füßen legen, denn er liebt uns. Sein ganzer Blick und jedes seiner Worte erwecken unser Vertrauen. Er wird unsere Charaktere nach seinem Willen bilden und formen. In der ganzen satanischen Macht ist nicht Kraft genug, eine einzige Seele zu überwinden, die sich vertrauensvoll auf Christus wirft. „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden.“ Jesaja 40,29. „So wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt, und reiniget uns von aller Untugend.“ Der Herr sagt: „Allein erkenne deine Missetat, dass du wider den Herrn, deinen Gott, gesündigt hast.“ „Und will rein Wasser über euch sprengen, dass ihr rein werdet; von all eurer Unreinigkeit und von allen euren Götzen will ich euch reinigen.“ Römer 8,26.

Aber ehe wir Vergebung und Frieden finden können, müssen wir Selbsterkenntnis besitzen, eine Erkenntnis, die Reue in uns schafft. Der Pharisäer fühlte nicht, dass er sündig sei. Der Heilige Geist konnte nicht an ihm wirken. Seine Seele war umschlossen von einem Panzer der Selbstgerechtigkeit, den die Pfeile Gottes, von Engeln gespitzt und gut gezielt, nicht durchdringen konnten. Christus kann nur den retten, der weiß, dass er ein Sünder ist. Er kam, „zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ Aber „die Gesunden bedürfen des Arztes nicht.“ Lukas 4,18; Lukas 5,31. Wir müssen unseren wahren Zustand verstehen, sonst werden wir nicht das Bedürfnis der Hilfe Christi fühlen. Wir müssen unsere Gefahr erkennen, sonst werden wir nicht nach der Zufluchtsstätte eilen. Wir müssen den Schmerz unserer Wunden fühlen, sonst werden wir nicht nach Heilung verlangen. Der Herr sagt: „Du sprichst: Ich bin reich und habe gar satt und bedarf nichts; und weißt nicht, dass du bist elend und jämmerlich, arm, blind und bloß. Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufest, das mit Feuer durchläutert ist, dass du reich werdest; und weiße Kleider, dass du dich antust, und nicht offenbaret werde die Schande deiner Blöße; und salbe deine Augen mit Augensalbe, dass du sehen mögest.“ Offenbarung 3,17.18. Das im Feuer durchläuterte Gold ist der Glaube, der durch die Liebe tätig ist. Nur durch ihn können wir in Harmonie mit Gott gebracht werden. Wir mögen tätig sein, mögen viel Arbeit verrichten; aber ohne Liebe, solche Liebe, wie sie in dem Herzen Christi wohnte, können wir nie zu der himmlischen Familie gezählt werden. Kein Mensch kann aus sich selbst seinen Irrtum erkennen. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ Jeremia 17,9. Die Lippen können eine Seelenarmut ausdrücken, ohne dass das Herz eine solche anerkennt. Während wir zu Gott von unserer Geistesarmut reden, kann das Herz sich überheben in Dünkel und Betrug über seine höhere Demut und Gerechtigkeit. Nur auf eine Weise kann wahre Selbsterkenntnis erlangt werden. Wir müssen auf Christus blicken. Die Unkenntnis über Christus ist es, wodurch die Menschen eine so hohe Meinung von ihrer eigenen Gerechtigkeit haben. Wenn wir über seine Reinheit und über seine Vorzüge nachdenken, dann werden wir unsere Schwäche, unsere Armut und unsere Mängel erkennen, wie sie wirklich sind. Wir werden sehen, dass wir verloren und hoffnungslos mit den Gewändern der Selbstgerechtigkeit bekleidet sind, wie alle anderen Sünder. Wir werden sehen, dass, wenn wir jemals selig werden, es nicht durch unser eigenes Gutsein, sondern durch Gottes unendliche Gnade geschieht.

Das Gebet des Zöllners wurde erhört, weil es zeigte, dass der Beter sich ganz auf den Allmächtigen verließ. An sich selbst sah der Zöllner nichts Gutes. So müssen sich alle ansehen, die Gott suchen. Im Glauben — einem Glauben, der alles Selbstvertrauen aufgibt — muss der hilfsbedürftige Bittsteller die göttliche Kraft ergreifen. Keine äußerliche Form kann die Stelle einfältigen Glaubens und vollständiger Selbstübergabe einnehmen. Aber kein Mensch kann sich selbst des eigenen Ichs entleeren; er kann nur einwilligen, dass Christus das für ihn tut. Dann wird die Sprache der Seele sein: Herr nimm mein Herz, denn ich kann es nicht geben. Es ist dein Eigentum. Halte es rein, denn ich kann es nicht rein halten für dich. Rette mich trotz meines eigenen, schwachen, Christo so unähnlichen Ichs. Bilde mich, forme mich, erhebe mich in eine reine und heilige Atmosphäre, wo der volle Strom deiner Liebe durch meine Seele fließen kann. Es ist nicht genug, dass diese Übergabe des eigenen Ich nur am Anfang des christlichen Lebens gemacht werde. Sie muss bei einem jeden weiteren, himmelwärts genommenen Schritt erneuert werden. Alle unsere guten Werke entspringen einer Kraft, die nicht in uns ist. Deshalb muss das Herz beständig nach Gott verlangen, und ein ernstes von Herzen kommendes Bekenntnis der Sünde und eine Seelendemütigung vor ihm muss stattfinden. Nur durch beständiges Verleugnen des eigenen Ich und Vertrauen auf Christus können wir sicher wandeln. Je näher wir zu Jesu kommen und je klarer wir die Reinheit seines Charakters erkennen, desto klarer werden wir die außerordentliche Sündhaftigkeit der Sünde begreifen und um so weniger werden wir geneigt sein, uns zu erheben. Die, welche der Himmel als heilig stempelt, sind die letzten, die mit ihrer eigenen Güte prahlen. Der Apostel Petrus war ein treuer Diener Christi, er wurde hoch geehrt durch die Mitteilung göttlichen Lichtes und göttlicher Kraft. Er nahm tätigen Anteil am Aufbau der Gemeinde Christi, aber er vergaß nie die furchtbare Erfahrung seiner Demütigung; seine Sünde war zwar vergeben, aber er wusste, dass nur durch die Gnade Christi jene Charakterschwäche, die seinen Fall verursacht hatte, geheilt werden konnte. In sich selbst fand er nichts, dessen er sich hätte rühmen können. Keiner der Apostel oder Propheten hat jemals behauptet, ohne Sünde zu sein. Menschen, die Gott am nächsten lebten, die lieber ihr Leben opferten, als wissentlich eine ungerechte Handlung zu begehen, Menschen, die Gott durch Mitteilung seiner Kraft geehrt hat, haben die Sündhaftigkeit ihrer eigenen Natur bekannt. Sie haben kein Vertrauen in Fleisch gesetzt, haben keine eigene Gerechtigkeit beansprucht, sondern sich einzig und allein auf die Gerechtigkeit Christi verlassen. So wird es mit allen sein, die auf Christus blicken.

Bei jedem weiteren Schritt in unserer Erfahrung wird unsere Buße eine tiefere. Solchen, denen der Herr vergeben hat und die er als die Seinen anerkennt, sagt er: „Alsdann werdet ihr an euer böses Wesen gedenken und eures Tuns, das nicht gut war, und wird euch eure Sünde und Abgötterei gereuen.“ Hesekiel 36,31. Wiederum sagt er: „Ich will meinen Bund mit dir aufrichten, dass du erfahren sollst, dass ich der Herr sei, auf dass du dran gedenkest und dich schämest, und vor Schande nicht mehr deinen Mund auftun dürfest, wenn ich dir alles vergeben werde, was du getan hast, spricht der Herr, Herr.“ Hesekiel 16,62.63. Dann werden unsere Lippen sich nicht zur Selbstverherrlichung öffnen. Wir werden wissen, dass wir nur in Christo volle Genüge haben. Wir werden des Apostels Bekenntnis: „Ich weiß, dass in mir, das ist in meinem Fleische, wohnt nichts Gutes“; „es sei aber ferne von mir, rühmen, denn allein von dem Kreuz unsers Herrn Jesu Christi, durch welchen mir die Welt gekreuzigt ist und ich der Welt“ (Römer 7,8; Galater 6,14), zu dem unsrigen machen.

Im Einklang mit dieser Erfahrung ist die Mahnung: „Schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist‘s, der in euch wirket beide, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.“ Philipper 2,12.13. Gott will nicht, dass ihr fürchtet, er werde es unterlassen, seine Verheißungen zu erfüllen, oder seine Geduld werde ermüden, oder sein Mitleid nachlassen. Aber fürchtet, dass euer Wille dem Willen Christi nicht untertan bleibe, dass eure angeerbten, eure anerzogenen und von euch genährten Charakterzüge euer Leben beherrschen. „Denn Gott ist‘s der in euch wirket beide, das Wollen und das Vollbringen.“ Fürchtet, dass das eigene Ich sich zwischen eure Seele und den großen Meister dränge, fürchtet, dass das eigene Ich den hohen Zweck vereitle, den Gott durch euch zu erreichen wünscht. Fürchtet, eurer eigenen Kraft zu vertrauen; fürchtet, eure Hand der Hand Christi zu entziehen und zu versuchen, den Pfad des Lebens ohne seine stetige Gegenwart zu wandeln. Wir sollten alles meiden, was den Stolz und übergroßes Selbstvertrauen ermutigen kann, sollten uns deshalb in acht nehmen, Schmeicheleien oder Lobpreisungen anzunehmen oder zu geben. Das Schmeicheln ist Satans Werk. Er schmeichelt, er beschuldigt und verdammt. Auf diese Weise versucht er das Verderben der Seele herbeizuführen. Wer Menschen schmeichelt, wird von Satan als sein Werkzeug benutzt. Die Arbeiter Christi sollten jede Lobeserhebung von sich abweisen; das eigene Ich sollte aus den Augen verloren werden. Christus allein soll erhöht werden. Auf ihn, „der uns geliebt hat und gewaschen von den Sünden mit seinem Blut“ (Offenbarung 1,5), werde ein jedes Auge gewiesen und ein jedes Herz lobe ihn.

Das Leben, in welchem die Furcht des Herrn genährt wird, wird kein Leben der Traurigkeit und des Trübsinns sein. Nur die Abwesenheit Christi macht den Gesichtsausdruck traurig und das Leben zu einer Pilgerfahrt mit Seufzen. Menschen, die voller Überhebung und Selbstliebe sind, fühlen das Bedürfnis nach einer lebendigen, persönlichen Verbindung mit Christo nicht. Das Herz, welches nicht auf den Felsen gefallen ist, brüstet sich mit seiner eigenen Güte. Die Menschen verlangen nach einer Religion, die ihnen Würde verleiht. Sie wünschen auf einem Pfade zu wandeln, der breit genug ist, um allen ihren eigenen Neigungen und Eigenschaften Raum zu lassen. Ihre Liebe zum eigenen Ich, ihre Sucht beliebt zu sein und Menschenlob zu erhaschen, schließen den Heiland aus ihren Herzen aus, und ohne ihn ist nur Traurigkeit und Trübsinn da. Wenn aber Christus in der Seele wohnt, so ist eine Quelle der Freude daselbst. Allen, die ihn annehmen, ist das Wort Gottes eine beständige Quelle der Freude. „Denn also spricht der Hohe und Erhabene, der ewiglich wohnet, des Name heilig ist: Der ich in der Höhe und im Heiligtum wohne, und bei denen, so zerschlagenen und demütigen Geistes sind, auf dass ich erquicke den Geist der Gedemütigten und das Herz der Zerschlagenen.“ Jesaja 57,15.

Als Moses in der Felsenkluft verborgen war, da sah er die Herrlichkeit Gottes und wenn wir uns in der Felsspalte des Heils verbergen, wird Christus uns mit seiner durchbohrten Hand bedecken und wir werden hören, was der Herr seinen Knechten sagt. Unser Gott wird sich uns, wie ehemals Moses offenbaren, als „barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue. Der da bewahret Gnade in tausend Glieder und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde.“ 2.Mose 34,6.7. Das Erlösungswerk zieht Folgen nach sich, von denen der Mensch sich nur sehr schwer einen Begriff machen kann. „Das kein Auge gesehen hat, und kein Ohr gehöret hat, und in keines Menschen Herz kommen ist, das Gott bereitet hat denen, die ihn lieben.“ 1.Korinther 2,9. Indem der Sünder, durch die Kraft Christi gezogen, sich dem aufgerichteten Kreuze naht und sich vor demselben anbetend demütigt, wird er neu geboren. Ein neues Herz wird ihm gegeben. Er wird eine neue Kreatur in Christo Jesu. Die Heiligkeit hat nichts mehr zu fordern. Gott selbst macht gerecht „den, der da ist des Glaubens an Jesus“; und „welche er aber hat gerecht gemacht, die hat er auch herrlich gemacht“. Römer 3,26; Römer 8,30. So groß auch die durch die Sünde verursachte Schande und Entartung sein mag, so wird doch die durch die erlösende Liebe gegebene Ehre und Erhöhung noch größer sein. Menschliche Wesen, die darnach streben, dem göttlichen Ebenbilde ähnlich zu werden, werden aus der Schatzkammer des Himmels mit einer Kraft ausgestattet, welche sie noch höher stellen wird, als selbst die Engel, die nie gefallen sind. „So spricht der Herr, der Erlöser Israels, sein Heiliger, zu der verachteten Seele, zu dem Volk, des man Greuel hat … Könige sollen sehen und aufstehen, und Fürsten sollen niederfallen um des Herrn willen, der treu ist, um des Heiligen in Israel willen, der dich erwählet hat.“ Jesaja 49,7. „Denn wer sich selbst erhöhet, der wird erniedriget werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöhet werden.“ Lukas 18,14

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