Der Glaubenskampf

Paulus hatte es sich zum Ziel gesetzt, den Gläubigen in Korinth die Bedeutung entschiedener Selbstbeherrschung, verantwortungsbewusster Mäßigkeit und unermüdlicher Einsatzbereitschaft im Dienst für Christus einzuprägen. Deshalb verglich er in seinem ersten Brief den Glaubenskampf des Christen mit den berühmten Wettkämpfen, die zu bestimmten Zeiten in der Nähe von Korinth durchgeführt wurden (1. Korinther 9,24-27). Bei allen von Griechen und Römern veranstalteten Spielen gehörte der Wettlauf zu den ältesten Sportarten und war nicht zuletzt deshalb besonders geschätzt. Selbst Könige, Fürsten und Staatsmänner wohnten den Kämpfen bei. Angesehene und wohlhabende junge Leute nahmen an den Kämpfen teil; sie scheuten sich nicht, all ihre Kräfte einzusetzen, um den Preis zu erlangen. Für diese Wettkämpfe galten strenge Regeln, die keine Ausnahme duldeten. Wer sich als Mitkämpfer um den Preis bewerben wollte, musste sich zuvor einem harten Training unterziehen. Schädigende Genusssucht und alles andere, was die geistige oder körperliche Leistungsfähigkeit schmälern konnte, waren streng untersagt. Nur wer feste, geschmeidige Muskeln und volle Kontrolle über seine nervlichen Reaktionen besaß, konnte hier, wo es auf Stärke und Schnelligkeit ankam, den Sieg erhoffen. Jede Bewegung musste beherrscht, jeder Schritt geschwind und sicher erfolgen; die körperliche Leistungsfähigkeit musste den höchsten Stand erreichen. Während die Wettläufer vor der wartenden Menge erschienen, wurden ihre Namen aufgerufen und die Regeln des Wettlaufs laut verlesen.

Dann starteten alle Läufer gleichzeitig, und die gespannte Aufmerksamkeit der Zuschauer trug zu ihrem Siegeswillen bei. Nahe am Ziel saßen die Preisrichter, so dass sie den Wettlauf von Anfang bis Ende genau beobachten und den wahren Sieger ermitteln konnten. Hatte etwa ein Läufer sich einen unerlaubten Vorteil verschafft und dadurch das Ziel als erster erreicht, so wurde ihm der Preis nicht zuerkannt. Bei diesen Wettkämpfen wurde viel gewagt. Manche erholten sich nie wieder von den ungeheuren körperlichen Anstrengungen. Es kam vor, dass Männer, aus Mund und Nase blutend, während des Laufs zusammenbrachen, ja, dass Wettläufer sogar tot umfielen, wenn sie den Siegespreis in Empfang nehmen wollten. Aber angesichts der hohen Ehre, die dem siegreichen Kämpfer winkte, wurden weder eine lebenslängliche Schädigung der Gesundheit noch der Tod als zu hoher Einsatz angesehen. Erreichte der Sieger das Ziel, empfing ihn donnernder Beifall, dessen Echo von den umliegenden Bergen und Höhlen widerhallte. Vor allen Zuschauern überreichte der Kampfrichter dem Läufer die Zeichen des Sieges — einen Lorbeerkranz und einen Palmzweig, den der Sieger in seiner Rechten tragen musste. Im ganzen Lande erscholl sein Ruhm; seine Eltern teilten mit ihm die Ehre, und selbst die Stadt, in der er wohnte, stand in hohem Ansehen, weil sie einen so erfolgreichen Wettkämpfer hervorgebracht hatte. Unter Hinweis auf diese Wettläufe als ein Bild für den Kampf des Glaubens hob Paulus hervor, wie wichtig gute Vorbereitungen für den Erfolg der Wettkämpfer sind: strenge Selbstzucht, Enthaltsamkeit und maßvolle Lebensweise. „Ein jeglicher aber, der da kämpft“, erklärte Paulus, „enthält sich alles Dinges.“ (1.Korinther 9,25) Die Läufer verzichteten auf jeden Genuss, der ihre körperlichen Kräfte hätte schwächen können, und suchten durch anhaltendes, straffes Training ihre Muskeln zu stärken, damit sie am Wettkampftage ihrem Körper das Äußerste abverlangen konnten. Wieviel wichtiger ist es dann für den Christen, seine Begierden und Leidenschaften der Vernunft und dem Willen Gottes unterzuordnen, steht doch bei ihm das ewige Heil auf dem Spiele! Niemals darf er sich durch Vergnügungen, Genusssucht oder Bequemlichkeit von seinem Ziel ablenken lassen. All seine Gewohnheiten und Neigungen gehören unter strenge Selbstzucht. Ein durch das Wort Gottes erleuchteter und vom Heiligen Geist geleiteter Verstand muss über alles die Kontrolle ausüben. Selbst wenn dies geschehen ist, muss sich der Christ noch aufs äußerste anstrengen, um den Sieg zu erlangen.

Bei den Korinthischen Spielen setzten die Wettläufer auf der letzten Wegstrecke ihre ganze Energie ein, um ihre Geschwindigkeit unvermindert beizubehalten. So wird auch der Christ, je näher er dem Ziel kommt, mit noch mehr Eifer und Entschlossenheit als zu Beginn des Laufes voranstreben. Paulus zeigt ferner den Unterschied auf zwischen dem verwelkenden Lorbeerkranz des Siegers eines Wettlaufs und der unvergänglichen Krone der Herrlichkeit für alle, die den Glaubenskampf siegreich bestehen. Jene setzen sich ein, so sagt er, „dass sie einen vergänglichen Kranz empfangen, wir aber einen unvergänglichen“. (1.Korinther 9,25) Die griechischen Wettläufer scheuten weder Mühe noch Disziplin, um einen vergänglichen Preis zu erwerben. Wir aber streben nach einem unendlich wertvolleren Preis, nach der Krone des ewigen Lebens. Wieviel sorgfältiger sollten da wir uns bemühen, wieviel mehr sollten wir zu Opfer und Selbstverleugnung bereit sein!

Im Brief an die Hebräer wird besonders hervorgehoben, dass Zielstrebigkeit den Lauf des Christen um das ewige Leben kennzeichnen muss: „Lasst uns ablegen alles, was uns beschwert, und die Sünde, die uns ständig umstrickt, und lasst uns laufen mit Geduld in dem Kampf, der uns verordnet ist, und aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens.“ (Hebräer 12,1.2) Neid, Hass, Argwohn, Verleumdung und Habsucht sind hinderliche Lasten, die der Christ abwerfen muss, wenn er den Lauf um das ewige Leben siegreich beenden will. Alle Gewohnheiten und Praktiken, die zur Sünde verleiten und Christus verunehren, müssen unbedingt abgelegt werden. Denn den Segen des Himmels kann niemand erlangen, der sich über Gottes ewiges Recht hinwegsetzt. Nähren wir auch nur eine Sünde in uns, so reicht das aus, um unseren Charakter zu verderben und andere Menschen in irrezuführen. „Wenn aber deine Hand dir Ärgernis schafft, so haue sie ab.“ sagte der Heiland. „Es ist dir besser, dass du als ein Krüppel zum Leben eingehest, als dass du zwei Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer … Wenn dir dein Fuß Ärgernis schafft, so haue ihn ab! Es ist besser, dass du lahm zum Leben eingehest, als dass du zwei Füße habest und werdest in die Hölle geworfen.“ (Markus 9,43-45)

Ginge es darum, den Leib vor dem Tode zu retten, ließe man durchaus den Fuß oder die Hand vom Körper trennen oder sich des Augenlichtes berauben. Wieviel mehr sollte dann ein Christ darauf bedacht sein, von der Sünde zu lassen, die den ewigen Tod bringt! (Römer 6,23) Bei aller Selbstverleugnung und strengen Selbstzucht konnten die Teilnehmer an jenen alten Wettkämpfen des Sieges nicht völlig sicher sein. „Wisset ihr nicht“, fragte Paulus, „dass die, so in der Kampfbahn laufen, die laufen alle, aber einer empfängt den Siegespreis?“ (1.Korinther 9,24) Wie eifrig und ernstlich die Läufer auch kämpften: der Preis konnte doch nur einem zuerkannt werden. Nur eine Hand konnte den begehrten Siegeskranz ergreifen. Wie oft mögen manche nach äußerster Kraftanstrengung bereits die Hand nach dem Kampfpreis ausgestreckt haben; doch dann kam ihnen im letzten Augenblick ein anderer zuvor und sicherte sich das begehrte Kleinod! Im Glaubenskampf kommt so etwas nicht vor. Keiner, der sich den geltenden Regeln unterwirft, wird am Ende enttäuscht sein. Wer sich rückhaltlos einsetzt und darin beharrt, wird auch siegreich sein; denn hier geht es nicht um einen Wettlauf nur der Schnellen oder einen Kampf nur der Starken. Der schwächste Gläubige kann ebenso wie der stärkste die Krone der unvergänglichen Herrlichkeit erlangen. Sieger kann jeder werden, der durch die Kraft der göttlichen Gnade sein Leben dem Willen Christi unterwirft. Oft wird das praktische Ausleben der im Worte Gottes für den Alltag festgelegten Grundsätze als zu unwichtig und zu geringfügig angesehen, um sich ernstlich mit ihm zu befassen. Erkennt man jedoch, was auf dem Spiele steht, dann ist nichts nebensächlich, das die Erreichung dieses Zieles fördert oder behindert. Jede einzelne Tat wirft ihr Gewicht in die Waagschale und entscheidet mit über Sieg oder Niederlage. Selbst der Lohn, der auf die Sieger wartet, wird sich nach dem Eifer und der Tatkraft richten, die sie auf den Kampf verwandten.

Der Apostel verglich sich selbst mit einem Teilnehmer am Wettkampf, der seine ganze Kraft einsetzt, um den Sieg zu erringen. „Ich laufe aber so, nicht als aufs Ungewisse“, bekannte er; „ich fechte so, nicht als der in die Luft schlägt, sondern ich züchtige meinen Leib und zähme ihn, dass ich nicht den anderen predige und selbst verworfen werde.“ (1.Korinther 9,26.27) Um nicht „aufs Ungewisse“ zu laufen oder ohne Zielbewusstsein am Glaubenslauf teilzunehmen, unterwarf Paulus sich einer strengen Übung. Die Worte „Ich züchtige meinen Leib“ bedeuten buchstäblich, durch Selbstbeherrschung alle Wünsche, Triebe und Leidenschaften in der Gewalt zu haben.
Paulus sorgte sich darüber, dass er selber verworfen werden könnte, obwohl er anderen gepredigt hatte. Es war ihm klar, dass all seine Bemühungen um andere ihm nichts hülfen, wenn er die Grundsätze, die er glaubte und lehrte, nicht selbst auslebte. Sein Umgang, sein Einfluss, sein Verzicht auf die Befriedigung eigener Wünsche mussten zeigen, dass sein Glaube nicht nur ein Lippenbekenntnis war, sondern in der täglichen lebendigen Verbindung mit Gott bestand. Stets stand ihm ein Ziel vor Augen, „nämlich die Gerechtigkeit, die aus Gott kommt, auf Grund des Glaubens“, (Philipper 3,9) und er setzte alles ein, um es zu erreichen. Paulus wusste, dass sein Kampf gegen das Böse zu seinen Lebzeiten nicht aufhören würde. Desto deutlicher spürte er, wie notwendig es ist, auf sich selbst zu achten, damit irdische Wünsche nicht den geistlichen Eifer unterdrückten. Mit aller Kraft bekämpfte er seine natürlichen Neigungen. Dabei schaute er stets auf das Ziel, das er in willigem Gehorsam gegen Gottes Gebote zu erreichen suchte. Sein Reden und Handeln sowie seine Empfindungen stellte er unter die Herrschaft des Geistes Gottes. Die gleiche Entschlossenheit, den Kampf um die Krone des ewigen Lebens zu gewinnen, wollte Paulus auch im Leben der Gläubigen von Korinth offenbart sehen. Er wusste, dass ihnen ein lebenslanger Kampf bevorstand, der keinem erlassen werden konnte, der das von Christus gesteckte Ziel erreichen wollte. Ernstlich bat er sie, recht zu kämpfen und täglich nach Frömmigkeit und sittlicher Vervollkommnung zu trachten. Er forderte sie auf, alle hindernden Lasten abzulegen und dem Ziel der Vollkommenheit in Christus nachzujagen (Hebräer 12,1-4).

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