Jesu Einzug in Jerusalem
Matthäus 21,1-11; Markus 11,1-10; Lukas 19,29-44; Johannes 12,12-19
»Juble laut, du Volk von Zion! Freut euch, ihr Bewohner von Jerusalem! ‚Seht, euer König kommt zu euch. Er ist gerecht und siegreich, und doch ist er demütig und reitet auf einem Esel – ja, auf dem Fohlen eines Esels, dem Jungen einer Eselin.« (Sacharja 9,9 NLB) 500 Jahre bevor Jesus geboren wurde, hatte der Prophet Sacharja mit diesen Worten dem Volk Israel das Kommen seines Königs vorausgesagt. Diese Weissagung sollte sich jetzt erfüllen. Er, der so lange königliche Ehren abgelehnt hatte, kam nun als der verheißene Erbe des Thrones Davids nach Jerusalem. Es war am ersten Tag der Woche, als Christus mit großem Triumph in Jerusalem einzog. Scharen von Menschen, die nach Betanien geströmt waren, um ihn zu sehen, begleiteten ihn jetzt und wollten unbedingt seinen Empfang miterleben. Viele Menschen waren auf dem Weg in die Stadt, um das Passafest zu feiern. Auch sie schlossen sich der Menge an, die auf Jesus wartete. Die ganze Schöpfung schien sich zu freuen. Die Bäume waren in zartes Grün gekleidet, und ihre Blüten erfüllten die Luft mit köstlichem Duft. Neues Leben und Freude beseelte die Menschen. Wieder erwachte die Hoffnung auf das neue Königreich.
Jesus beabsichtigte, in Jerusalem einzuziehen, und hatte zwei seiner Jünger beauftragt, ihm eine Eselin mit deren Fohlen zu bringen. Schon bei seiner Geburt war der Erlöser von der Gastfreundschaft Fremder abhängig gewesen. Die Krippe, in der er einst gelegen hatte, war ausgeliehen gewesen. Und auch jetzt – obwohl ihm alles Vieh auf den umliegenden Hügeln gehörte – war er auf die Freundlichkeit eines Fremden angewiesen, der ihm ein Tier lieh, auf dem er als König in die Stadt Jerusalem einziehen konnte. Doch erneut offenbarte sich seine Göttlichkeit, selbst in den kleinsten Anweisungen, die er seinen Jüngern diesbezüglich gab. So, wie er es vorausgesagt hatte, wurde der Bitte: »Der Herr bedarf ihrer« (Matthäus 21,3b) bereitwillig entsprochen. Jesus wählte für sich das Fohlen aus, auf dem noch nie jemand gesessen hatte. Ganz begeistert legten die Jünger ihre Kleider auf den Rücken des Tieres und halfen ihrem Meister, sich darauf zu setzen. Weil Jesus bisher stets zu Fuß gegangen war, hatten sich die Jünger darüber gewundert, dass er lieber reiten wollte. Doch der freudige Gedanke, dass er nun in die Hauptstadt einziehen, sich zum König ausrufen lassen und seine königliche Macht bekunden würde, erfüllte ihre Herzen mit Hoffnung. Auf ihrem Botengang teilten sie den Freunden von Jesus ganz begeistert ihre Erwartungen mit. Überall machte sich Aufregung breit, die Spannung der Menschen steigerte sich ins Unermessliche. Beim königlichen Einzug hielt sich Jesus an den jüdischen Brauch. Das Tier, auf dem er ritt, war – wie bereits bei den israelitischen Königen – ein Esel (vgl. 2. Samuel 16,2; 1. Könige 1,33.38). Die Propheten hatten vorausgesagt, dass der Messias auf diese Weise in sein Reich einziehen werde (vgl. Sacharja 9,9). Kaum saß Jesus auf dem Tier, zerriss lautes Triumphgeschrei die Luft. Die Menge begrüßte ihn freudig als Messias, als ihren König. Jesus nahm nun die Ehrerbietung an, die er vorher nie zugelassen hatte. Die Jünger sahen dies als Beweis dafür, dass ihre freudige Hoffnung nun in Erfüllung gehen würde und sie zusehen könnten, wie ihr Herr den Thron Israels aufrichtete. Die Menge war überzeugt, dass die Stunde ihrer Befreiung kurz bevorstand. Sie bildeten sich ein, das römische Heer würde aus Jerusalem vertrieben, und Israel würde einmal mehr zu einer unabhängigen Nation werden. Alle waren fröhlich und begeistert. Die Menschen versuchten, sich in der Ehrerbietung, die sie Jesus entgegenbrachten, gegenseitig zu übertreffen. Sie konnten zwar nicht mit äußerlichem Prunk aufwarten, doch sie verehrten ihn mit ihren frohen Herzen. Es war ihnen nicht möglich, ihn mit kostspieligen Gaben zu beschenken, aber sie breiteten ihre Obergewänder als Teppich auf seinem Weg aus und bestreuten diesen mit Oliven und Palmzweigen. Der triumphale Umzug konnte nicht nach königlichem Maßstab ausgeführt werden, doch die Leute schnitten breitgefächerte Palmzweige ab und schwenkten sie als Siegeszeichen der Natur, begleitet von lautem Beifall und Hosiannarufen. Je weiter sich der Zug vorwärtsbewegte, desto länger wurde er. All jene, die hörten, dass Jesus unterwegs war, eilten herbei, um sich dem Zug anzuschließen. Neugierige mischten sich unter die Menge und fragten: »Wer ist dieser?« (Matthäus 21,10b Elb.) Sie fragten sich auch, was denn dieser Tumult bedeuten sollte. Sie hatten alle von Jesus gehört und erwartet, er werde nach Jerusalem kommen. Doch sie wussten, dass er bis dahin jede Anstrengung, ihn auf den Thron zu erheben, verhindert hatte. Sie waren darum höchst erstaunt, als sie merkten, dass er es tatsächlich war. Sie fragten sich, was ihn wohl zu dieser Sinnesänderung bewogen haben könnte, da er doch erklärt hatte, sein Reich sei nicht von dieser Welt.
Ihre Fragen gingen im lauten Triumphgeschrei unter. Immer wieder hörte man die Jubelrufe der erwartungsvollen Menge. Jene, die weiter weg waren, stimmten in die Jubelrufe ein, sodass diese von den umliegenden Hügeln und Tälern widerhallten. Und nun stieß der Umzug auf die Menge, die von Jerusalem her kam. Von den Scharen von Menschen, die sich zum Passafest versammelt hatten, zogen Tausende Jesus entgegen, um ihn willkommen zu heißen. Sie begrüßten ihn mit wedelnden Palmzweigen und lautem, geistlichem Gesang. Zur selben Zeit bliesen die Priester im Tempel die Posaune zum Abendgottesdienst, doch nur wenige folgten der Einladung. Die obersten Würdenträger waren bestürzt und sagten zueinander: »Alle Welt läuft ihm nach!« (Johannes 12,19b) Nie zuvor hatte Jesus während seines Erdenlebens eine solche Kundgebung erlaubt. Er sah die Folgen klar voraus. Dies würde ihn ans Kreuz bringen. Doch es war seine Absicht, sich öffentlich als Erlöser vorzustellen. Er wollte die Aufmerksamkeit auf das Opfer lenken, das sein Wirken für eine gefallene Welt krönen sollte. Während sich das Volk in Jerusalem versammelte, um das Passafest zu feiern, weihte er sich selbst, das wahre Lamm Gottes, freiwillig als Opfergabe. In allen künftigen Zeiten würde es für seine Gemeinde notwendig sein, grundlegend und tief über seinen sühnenden Tod für die Welt nachzudenken. Alle damit verbundenen Ereignisse sollten ohne jeden Zweifel bestätigt werden können. Darum war es wichtig, dass der Blick des ganzen Volkes auf ihn gelenkt wurde. Die Ereignisse, die seinem großen Opfer vorausgingen, mussten so sein, dass sie die Aufmerksamkeit auf das Opfer selbst lenkten. Nach einer solchen Kundgebung, die seinen Einzug in Jerusalem begleitete, würden nun alle Menschen die rasche Entwicklung der abschließenden Geschehnisse verfolgen. Ereignisse, die mit diesem triumphalen Einzug im Zusammenhang standen, würden in aller Munde sein, und jeder müsste an Jesus denken. Nach seiner Kreuzigung würden sich viele an diese Ereignisse im Zusammenhang mit seinem Verhör und seinem Tod erinnern. Dadurch würden sie veranlasst, die Weissagungen zu überprüfen. Sie würden zur Überzeugung gelangen, dass Jesus der Messias ist. In allen Ländern würde sich die Zahl derer, die zum Glauben an ihn kommen, vervielfachen. Bei diesem einzigen triumphalen Ereignis seines irdischen Lebens hätte der Erlöser in Begleitung himmlischer Engel und durch die Posaune Gottes angekündigt erscheinen können. Doch ein derartiger Auftritt hätte dem Zweck seiner Mission und dem Gesetz, das sein Leben bestimmte, widersprochen. Seinem bescheidenen Los, das er auf sich genommen hatte, blieb er treu. Die Last des Menschseins musste er so lange tragen, bis sein Leben für das Leben der Welt dahingegeben war. Dieser Tag, der den Jüngern wie die Krönung ihres Lebens erschien, wäre schnell von dunklen Wolken überschattet worden, hätten sie gewusst, dass dieser fröhliche Schauplatz nur der Auftakt für das Leiden und den Tod ihres Meisters war. Obwohl er ihnen wiederholt von seinem sicheren Opfertod erzählt hatte, vergaßen sie im fröhlichen Siegeszug seine bekümmerten Worte und sahen seiner erfolgreichen Herrschaft auf dem Thron Davids freudig entgegen. Immer mehr Menschen schlossen sich dem Umzug an. Die meisten wurden von den Wogen der Begeisterung mitgerissen und stimmten in die Hosiannarufe ein, die von Hügeln und Tälern widerhallten. Fortwährend ertönten die Rufe: »Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!« (Matthäus 21,9b) Noch nie zuvor hatte die Welt einen solchen Triumphzug erlebt. Er glich nicht dem Einzug berühmter Welteroberer. Kein Tross von traurigen Gefangenen wurde als Beute der königlichen Heldentaten in diesem Geschehen zur Schau gestellt. Der Erlöser war vielmehr von den glorreichen Siegestrophäen seines Dienstes der Liebe für die sündige Menschheit umgeben. Da waren die Gefangenen, die er aus Satans Macht befreit hatte und die Gott jetzt für ihre Errettung priesen. Die Blinden, denen Jesus das Augenlicht zurückgegeben hatte, führten den Zug an. Stumme, deren Zunge er gelöst hatte, riefen am lautesten »Hosianna«. Gelähmte, die er geheilt hatte, sprangen vor Freude, brachen die meisten Palmzweige ab und schwenkten sie vor dem Erlöser hin und her. Witwen und Waisen priesen Jesus dafür, dass er ihnen Barmherzigkeit erwiesen hatte. Die Aussätzigen, die er rein gemacht hatte, breiteten ihre fleckenlosen Kleider über seinen Weg aus und jubelten ihm als König der Herrlichkeit zu. Auch jene, die durch seine Stimme aus dem Todesschlaf auferweckt worden waren, befanden sich in der Menge. Lazarus, dessen Körper im Grab bereits am Verwesen gewesen war, sich nun aber der Stärke eines prächtigen Mannes erfreute, führte das Tier, auf dem Jesus ritt. Viele Pharisäer waren Zeugen dieses Geschehens. Voller Neid und Arglist bemühten sie sich, die momentane Stimmung im Volk zu wenden. Mit ihrer ganzen Autorität versuchten sie, die Leute zum Schweigen zu bringen. Aber ihre Aufrufe und Drohungen ließen die Begeisterung nur noch ansteigen. Sie befürchteten, die Masse, die in so großer Überzahl war, werde Jesus zum König ausrufen. Nun blieb ihnen nur noch ein Ausweg. Sie zwängten sich durch die Menge bis zum Erlöser hin und belästigten ihn mit tadelnden und drohenden Worten: »Meister, weise doch deine Jünger zurecht!« (Lukas 19,39) Sie erklärten, dass solch lärmige Kundgebungen widerrechtlich und von den Behörden nicht erlaubt seien. Aber die Antwort von Jesus ließ sie verstummen: »Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.« (Lukas 19,40) Gott selbst hatte diesen triumphalen Einzug in seinem Plan festgelegt. Dies wurde bereits durch den Propheten vorhergesagt, und Menschen waren machtlos, Gottes Absicht zu durchkreuzen. Hätten sie Gottes Plan nicht ausgeführt, hätte er den leblosen Steinen eine Stimme verliehen. Diese hätten seinem Sohn dann mit Beifall und Lob zugejubelt. Als sich die zum Schweigen gebrachten Pharisäer zurückzogen, stimmten hunderte von Menschen in die Worte des Propheten Sacharja ein: »Juble laut, du Volk von Zion! Freut euch, ihr Bewohner von Jerusalem! Seht, euer König kommt zu euch. Er ist gerecht und siegreich, und doch ist er demütig und reitet auf einem Esel – ja, auf dem Fohlen eines Esels, dem Jungen einer Eselin.« (Sacharja 9,9 NLB)
Als der Umzug die Hügelkuppe erreicht hatte und im Begriff war, in die Stadt hinunter zu ziehen, hielt Jesus an und mit ihm die ganze Menge. Vor ihnen lag Jerusalem in seiner ganzen Pracht und erstrahlte im Licht der untergehenden Sonne. Der Tempel zog alle Blicke auf sich. In seiner stattlichen Erhabenheit überragte er alles andere, und es schien, als würde er zum Himmel zeigen, um das Volk auf den einzig wahren und lebendigen Gott hinzuweisen. Schon seit langer Zeit war der Tempel der ganze Stolz und Ruhm der jüdischen Nation. Selbst die Römer brüsteten sich mit seiner Herrlichkeit. Ein durch die Römer eingesetzter König hatte sich mit den Juden geeinigt, ihn umzubauen und zu verzieren, und der römische Kaiser sandte kostbare Geschenke für den Tempel in Jerusalem. Seine Erhabenheit, sein Reichtum und seine Pracht ließen ihn zu einem der Weltwunder werden. Während die Sonne langsam im Westen sank und den Himmel in Feuer verwandelte, ließen ihre Strahlen den reinen, weißen Marmor der Tempelmauern rot aufleuchten, und die mit Gold verzierten Säulen glänzten. Vom Gipfel des Hügels aus, wo Jesus und seine Nachfolger standen, schien es, als wäre der Tempel ein gewaltiges Bauwerk aus Schnee, besetzt mit goldenen Zinnen. Am Eingang des Tempels stand ein von den geschicktesten Künstlern geschaffener Weinstock aus Gold und Silber mit grünen Blättern und großen Trauben. Dieses Werk stellte Israel als fruchtbaren Weinstock dar. Gold, Silber und lebendiges Grün waren von auserlesenem Geschmack und in ausgezeichneter Kunstfertigkeit miteinander verarbeitet worden. Seine Ranken wanden sich anmutig um die weißen, gleißenden Säulen und verbanden sich mit deren goldenen Ornamenten. Der Glanz der untergehenden Sonne ließ den Weinstock erstrahlen, als hätte ihm der Himmel seine Herrlichkeit verliehen. Die Augen von Jesus schweiften über die Ebene. Die riesige Menge stand wie gebannt, und die Jubelrufe verstummten beim Anblick solch unerwarteter Schönheit. Alle Augen richteten sich auf den Erlöser. Sie erwarteten, dass sich auf seinem Angesicht dieselbe Bewunderung breitmachen werde, die sie selbst empfanden. Stattdessen bemerkten sie einen bekümmerten Ausdruck in seinem Gesicht. Sie waren überrascht und enttäuscht, als sie sahen, wie sich seine Augen mit Tränen füllten und sein Körper hin und herschwankte wie ein Baum vor dem herannahenden Sturm. Wie aus der Tiefe eines gebrochenen Herzens kam ein gequältes Seufzen über seine bebenden Lippen. Welch ein Anblick war es für die Engel, ihren geliebten Befehlshaber qualvoll weinen zu sehen! Welch ein Anblick für die fröhliche Menge, die ihn mit Jubelrufen und wedelnden Palmzweigen, in der sehnlichsten Hoffnung, er werde dort seine Herrschaft antreten, zur prächtigen Stadt begleitet hatte! Jesus hatte am Grab von Lazarus geweint, doch dies geschah aus göttlichem Schmerz heraus, aus Mitgefühl menschlichem Leid gegenüber. Dieser unerwartete Kummer aber war wie ein klagender Ton in einem großen Jubelchor. Mitten in diesem freudigen Geschehen, wo ihn alle ehrten, stand der König Israels und weinte. Es waren keine stillen Freudentränen, sondern Tränen und Seufzer aus einer Qual heraus, die nicht unterdrückt werden konnte. Plötzlich machte sich eine drückende Stimmung in der Menge breit. Der Jubel war verstummt. Viele weinten aus Mitgefühl mit einem Kummer, den sie nicht nachvollziehen konnten. Jesus weinte nicht in der Vorahnung auf sein eigenes Leiden. Gleich unterhalb von ihm lag Gethsemane, wo ihn bald die Schrecken einer großen Finsternis überschatten würden. Von dort aus konnte man auch das Schaftor sehen, durch welches jahrhundertelang die Tiere zur Opferung geführt wurden. Dieses Tor sollte schon bald geöffnet werden – für ihn, das große eigentliche Opfer für die Sünden der Welt, auf das all diese Tieropfer symbolisch hingewiesen hatten. Nicht weit davon entfernt lag Golgatha, der Schauplatz seiner bevorstehenden Todesqualen. Doch der Erlöser weinte nicht und litt nicht an Seelenangst, weil all diese Dinge ihn an seinen grausamen Tod denken ließen. Sein Schmerz kam nicht aus einem eigennützigen Grund. Der Gedanke an das eigene Leiden konnte sein edles, selbstaufopferndes Wesen nicht einschüchtern. Es war der Anblick von Jerusalem, der ihn ins Herz traf – der Stadt, die den Sohn Gottes verworfen und seine Liebe verschmäht hatte, die es abgelehnt hatte, sich durch seine machtvollen Wunder überzeugen zu lassen, und nun im Begriff war, ihn zu töten. Jesus sah, wie es um sie stand. Er sah, wie sie ihren Erlöser verwarf und damit Schuld auf sich lud. Er wusste, was sie hätte sein können, wenn sie den Erlöser, der allein ihre Wunden hätte heilen können, angenommen hätte. Er war gekommen, Jerusalem zu retten. Wie konnte er es aufgeben? Israel war ein bevorzugtes Volk. Gott hatte ihren Tempel zu seiner Wohnung gemacht. Dieser war »eine Freude für die ganze Welt« (Psalm 48,3b GNB) und bezeugte die über 1000 Jahre währende Fürsorge von Christus und die herzliche Liebe, wie sie ein Vater seinem einzigen Kind erweist. In diesem Tempel hatten die Propheten ihre ernsten Warnungen ausgesprochen. Hier wurden die Räuchergefäße geschwenkt, während der Weihrauch mit den Gebeten der Gläubigen zu Gott emporstieg. Hier floss das Blut der Opfertiere als Sinnbild für das Blut von Jesus, und hier offenbarte Jahwe seine Herrlichkeit über dem Gnadenthron. Hier versahen die Priester ihren Dienst, und hier fanden die prunkvollen, symbolischen Zeremonien seit Jahrhunderten statt. Doch all das sollte nun ein Ende haben.
Jesus erhob seine Hand, jene Hand, die so oft Kranke und Leidende gesegnet hatte. Indem er auf die dem Untergang geweihte Stadt zeigte, rief er mit schmerzerfüllter Stimme aus: »Wenn doch auch du erkannt hättest, wenigstens noch an diesem deinem Tag, was zu deinem Frieden dient!« (Lukas 19,42a Schl.) Hier hielt der Erlöser inne. Die Worte blieben unausgesprochen, wie die Sache für Jerusalem ausgegangen wäre, wenn es die Hilfe, die Gott in der Gabe seines geliebten Sohnes zu geben wünschte, in Anspruch genommen hätte. Wenn Jerusalem sein Vorrecht erkannt und auf das vom Himmel gesandte Licht geachtet hätte, hätte es im Stolz seines Wohlstands hervortreten können. Als Königin der Königreiche wäre es, dank der von Gott verliehenen Macht, frei geblieben. Keine bewaffneten Soldaten wären an seinen Toren gestanden, und keine römischen Fahnen hätten an seinen Mauern geweht. Der Sohn Gottes sah vor seinen Augen die wunderbare Vorsehung, mit der Jerusalem gesegnet worden wäre, hätte es seinen Erlöser angenommen. Er sah, dass die Stadt durch ihn von ihrer schweren Krankheit geheilt und aus der Knechtschaft befreit, zur mächtigsten Metropole der Welt hätte werden können. Von ihren Mauern wären die Friedenstauben zu allen Völkern geflogen, und Jerusalem wäre zum kostbarsten Diadem der Welt geworden (vgl. Jesaja 62,3). Aber das herrliche Bild dessen, was Jerusalem hätte sein können, verblasste vor den Augen des Erlösers. Er erkannte, wie es um die Stadt stand, die vom römischen Joch unterdrückt, bei Gott in Ungnade gefallen und dem Untergang durch das göttliche Gericht der Vergeltung geweiht war. Dann fuhr er mit seiner Klage fort: »Jetzt aber bleibt es vor deinen Augen verborgen. Denn es werden Tage über dich kommen, da werden deine Feinde einen Wall um dich aufwerfen und dich umzingeln und dich von allen Seiten bedrängen; und sie werden dich samt deinen Kindern zerschmettern, und sie werden keinen Stein in dir auf dem anderen lassen, weil du die Zeit der Heimsuchung nicht erkannt hast.« (Lukas 19,42b-44 ZÜ) Jesus kam, um die Stadt Jerusalem und deren Kinder zu retten. Doch pharisäischer Stolz, Heuchelei, Eifersucht und Bosheit hatten ihn daran gehindert, sein Ziel zu erreichen. Jesus wusste, welch schreckliche Vergeltung die todgeweihte Stadt heimsuchen würde. Er sah, wie die Mauern Jerusalems von Armeen eingeschlossen und die Einwohner der belagerten Stadt in den Hungertod getrieben wurden. Er sah, wie Mütter die toten Körper ihrer eigenen Kinder verzehrten und wie sich Eltern und Kinder gegenseitig um den letzten Bissen stritten, weil die natürliche Zuneigung durch den quälenden Hunger zerstört worden war. Er sah, dass die Juden in derselben Halsstarrigkeit, wie sie seine Rettung ausgeschlagen hatten, auch eine Unterwerfung unter die angreifende Armee zurückweisen würden. Er sah den Hügel Golgatha, auf dem »der Menschensohn erhöht werden« sollte (Johannes 3,14), übersät mit Kreuzen wie die Bäume eines Waldes. Er sah das Elend der Einwohner, wie sie gefoltert und gekreuzigt und ihre wunderschönen Paläste zerstört wurden. Er erblickte den Tempel, wie er in Trümmern lag, wie von seinen ehemals mächtigen Mauern kein Stein auf dem anderen geblieben war und wie die Stadt einem gepflügten Acker glich. Es ist verständlich, dass der Erlöser in Anbetracht dieser furchtbaren Szenen von Schmerz erfüllt weinte. Jerusalem war das Kind seiner besonderen Fürsorge. Wie ein liebevoller Vater über seinen widerspenstigen Sohn klagt, so weinte Jesus über die geliebte Stadt. »Wie kann ich dich aufgeben? Wie kann ich zusehen, wenn du dem Untergang geweiht bist? Muss ich dich gehen lassen, um die Schale deiner Bosheit aufzufüllen?« Ein einziger Mensch ist so wertvoll, dass im Vergleich dazu Welten bedeutungslos werden. Hier aber ging eine ganze Nation verloren! Mit der rasch untergehenden Sonne würde auch Jerusalems Gnadenzeit zu Ende gehen. Als der Zug auf der Höhe des Ölbergs anhielt, war es für Jerusalem noch nicht zu spät, um umzukehren. Der Engel der Barmherzigkeit faltete bereits seine Flügel, um vom goldenen Thron herabzusteigen und der Gerechtigkeit und dem schnell hereinbrechenden Gericht Platz zu machen. Doch das Herz von Jesus, das mit großer Liebe erfüllt war, flehte immer noch um die Stadt, die seine Gnadentaten verschmäht und seine Warnungen verachtet hatte, und nun im Begriff stand, ihre Hände mit seinem Blut zu beflecken. Wenn Jerusalem doch nur bereuen würde! Noch war es nicht zu spät. Könnte nicht, während die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf den Tempel, die Türme und Zinnen fielen, ein guter Engel die Stadt zu ihrem liebevollen Erlöser führen und ihren Untergang abwenden? Die wunderschöne aber unheilige Stadt, die die Propheten gesteinigt und den Sohn Gottes verworfen hatte, legte sich nun selbst durch ihre Verstocktheit die Fesseln der Knechtschaft an. Ihre Gnadenzeit war so gut wie abgelaufen! Noch einmal sprach Gottes Geist zu Jerusalem. Bevor der Tag zu Ende ging, wurde ein weiteres Zeugnis für Christus gelegt. Die Zeugnis gebende Stimme wurde als Antwort auf den Ruf aus einer prophetischen Vergangenheit erhoben. Sollte Jerusalem den Ruf hören und den Erlöser aufnehmen, der durch ihre Tore eintrat, wäre noch Rettung möglich.
Berichte darüber, dass sich Jesus mit einer großen Menge der Stadt näherte, erreichten die Obersten in Jerusalem. Doch sie hießen den Sohn Gottes nicht willkommen. Voller Angst gingen sie ihm entgegen und hofften, sie könnten die Menschenmenge vertreiben. Als sich der Festzug anschickte, den Ölberg hinunterzugehen, wurde er von den Obersten aufgehalten. Sie erkundigten sich nach dem Grund der ungestümen Freude. »Wer ist dieser?« (Matthäus 21,10b Elb.), wollten sie wissen. Vom Geist der Eingebung erfüllt, beantworteten die Jünger die Frage. Beredt zitierten sie die folgenden messianischen Weissagungen: Adam wird euch sagen: Er ist der Nachkomme der Frau, welcher der Schlange den Kopf zertreten soll (vgl. 1. Mose 3,15). Fragt Abraham, er wird euch sagen: Er ist »Melchisedek, der König von Salem«, der König des Friedens (1. Mose 14,18a). Jakob wird euch sagen: Er ist »Schilo« aus dem Stamm Juda (vgl. 1. Mose 49,10 Elb.). Jesaja wird euch sagen: Er ist »Immanuel!« (Jesaja 7,14b) Und er heißt: »Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friede-Fürst.« (Jesaja 9,5b). Jeremia wird euch sagen: Er ist der Spross Davids, »der Herr unserer Gerechtigkeit« (Jeremia 23,6b). Daniel wird euch sagen: Er ist der Messias (vgl. Daniel, 9,25-27). Hosea wird zu euch sagen: Er »ist der Gott Zebaoth, Herr ist sein Name« (Hosea 12,6). Johannes der Täufer wird euch sagen: Er ist »das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt« (Johannes 1,29b ZÜ). Gott selbst hat vom Himmel herab verkündigt: »Dieser ist mein geliebter Sohn.« (Matthäus 3,17b Elb.) Wir, seine Jünger, bekennen: Dieser Jesus ist der Messias, der Fürst des Lebens, der Erlöser der Welt! Sogar der Fürst der Mächte der Finsternis erkannte ihn an, indem er sagte: »Ich weiß, wer du bist: der Heilige Gottes!« (Markus 1,24b)