Die Stillung des Sturms

Die Stillung des Sturms

Matthäus 8,23-27; Markus 4,35-41; 5,1-20; Lukas 8,22-25

Es war ein ereignisreicher Tag im Leben von Jesus gewesen. Am See Genezareth hatte er seine ersten Gleichnisse erzählt. Anhand bekannter Bilder aus der Natur hatte er seinen Zuhörern erneut das Wesen seines Reiches vor Augen geführt und ihnen erklärt, wie er es errichten wolle. Er hatte sein eigenes Werk mit der Arbeit eines Sämanns, die Entfaltung seines Reiches mit dem Wachstum eines Senfkorns und mit der Auswirkung des Sauerteigs in einem Scheffel Mehl verglichen. Die endgültige Trennung der Gerechten von den Gottlosen am Jüngsten Tag hatte er durch die Gleichnisse von Unkraut und Weizen und dem des Fischernetzes dargestellt. Die außergewöhnliche Kostbarkeit der Wahrheit, die er lehrte, hatte er mit einem Schatz im Acker und einer kostbaren Perle verglichen. Durch das Gleichnis vom Hausverwalter hatte Jesus seine Jünger gelehrt, wie sie als seine Stellvertreter wirken sollten (vgl. Matthäus 13,1-52). [Siehe: Gleichnisse von Jesus] Den ganzen Tag über hatte er gelehrt und geheilt. Als es Abend wurde, drängte sich die Menge immer noch um ihn. Tag für Tag hatte er sich um die Menschen gekümmert und kaum innegehalten, um zu essen oder zu ruhen. Die bösartige Kritik und die Unterstellungen, mit welchen ihn die Pharisäer ständig verfolgten, waren zermürbend und erschwerten seine Arbeit sehr. Jetzt, am Ende des Tages, war er so erschöpft, dass er beschloss, einen einsamen Ort auf der anderen Seite des Sees aufzusuchen, um Ruhe zu finden. Am östlichen Ufer des Sees Genezareth gab es da und dort einige Dörfer, doch im Vergleich zum westlichen Ufer war es eine trostlose Gegend. In der überwiegend heidnischen Bevölkerung lebten nur wenige Juden, und man unterhielt kaum Beziehungen zu Galiläa. Dort fand Jesus die Abgeschiedenheit, die er suchte. Er lud seine Jünger ein, ihn dorthin zu begleiten. Nachdem er sich von der Menge verabschiedet hatte, nahmen ihn die Jünger gerade so, »wie er war« (Markus 4,36b Elb.), mit ins Boot und stießen hastig ab. Doch sie taten das nicht allein. Da waren andere Fischerboote, die am Strand lagen. Diese waren schnell mit Menschen gefüllt, die Jesus folgten und begierig darauf waren, ihn noch weiter zu sehen und zu hören. Endlich war Jesus vom Druck der Menge befreit. Überwältigt von Müdigkeit und Hunger legte er sich hinten ins Boot und schlief kurz darauf ein. Der Abend war ruhig und wohltuend. Eine tiefe Stille lag über dem See. Doch plötzlich überzogen dunkle Wolken den Himmel. Ein heftiger Wind kam von den Bergklüften her und fegte am östlichen Seeufer entlang. Es braute sich ein wilder Sturm über dem See zusammen.

Die Sonne war bereits untergegangen, und die schwarze Nacht legte sich über den stürmischen See. Von heulenden Winden angetrieben, schlugen die peitschenden Wellen über das Boot der Jünger und drohten es zu verschlingen. Die abgehärteten Fischer hatten ihr ganzes Leben auf dem See zugebracht und ihre Schiffe sicher durch manches Unwetter gesteuert, doch nun nützten ihnen all ihre Kraft und ihr Können nichts. Sie waren den Gewalten des Sturms hilflos ausgeliefert und verloren alle Hoffnung, als sie sahen, wie sich ihr Boot mit Wasser füllte. Im Kampf ums Überleben hatten sie ganz vergessen, dass Jesus auch mit an Bord war. Als sie nun merkten, dass ihre Rettungsversuche vergebens waren und der sichere Tod auf sie wartete, erinnerten sie sich an den, der ihnen geboten hatte, den See zu überqueren. Jesus war ihre einzige Hoffnung. In ihrer Hilflosigkeit und Verzweiflung schrien sie: »Meister! Meister!« (Lukas 8,24b) Aber die tiefe Finsternis verbarg ihn vor ihren Augen. Das Heulen des Sturmes übertönte ihre Stimmen. Es kam keine Antwort zurück. Angst und Zweifel überfielen sie. Hatte Jesus sie vergessen? War er, der Krankheit, Dämonen und sogar den Tod bezwungen hatte, jetzt machtlos, seinen Jüngern zu helfen? Kümmerte er sich nicht um sie in ihrer Not? Wieder riefen sie. Doch es kam erneut keine Antwort. Nur das Heulen des tobenden Sturmes war zu hören. Schon begann ihr Schiff zu sinken. Noch einen Augenblick, so schien es, dann würden die hungrigen Wellen sie verschlingen. Plötzlich erhellte ein Blitzstrahl die Finsternis. Da sahen die Jünger, dass Jesus trotz des starken Unwetters ungestört auf dem Boden schlief. Verblüfft und verzweifelt riefen sie aus: »Meister, macht es dir nichts aus, dass wir umkommen?« (Markus 4,38b NGÜ) Wie konnte er so friedlich schlafen, während sie in Gefahr waren und mit dem Tod rangen? Ihr Schreien weckte Jesus auf. Als Blitzlichter die Nacht erhellten, sahen sie, wie himmlischer Friede auf seinem Angesicht lag. In seinem Blick erkannten sie seine selbstlose, mitfühlende Liebe. Ihre Herzen wandten sich ihm zu, und sie schrien: »Herr, rette uns, wir kommen um!« (Matthäus 8,25b Elb.) Noch nie war ein solcher Hilferuf ungehört geblieben. Als die Jünger nach ihren Rudern griffen, um einen letzten Versuch zu unternehmen, erhob sich Jesus. Nun stand er mitten unter seinen Jüngern, während das Unwetter tobte und die Wellen über ihnen zusammenschlugen. Grelle Blitze erleuchteten das Angesicht von Jesus. Er hob seine Hand, die schon so oft Taten der Barmherzigkeit vollbracht hatte, und gebot dem stürmischen See: »Schweig! Sei still!« (Markus 4,39b NLB) Der Sturm ließ nach, und die Wogen glätteten sich. Die Wolken zogen ab, und die Sterne begannen zu leuchten. Sachte schaukelte das Boot auf dem ruhigen See. Jesus aber wandte sich an seine Jünger und fragte sie voller Sorge: »Was seid ihr so furchtsam? Habt ihr noch keinen Glauben?« (Markus 4,40) Die Jünger wurden ganz still. Nicht einmal Petrus versuchte, die Ehrfurcht, die sein Herz erfüllte, in Worte zu fassen. Die Boote, die hinausgefahren waren, um Jesus zu folgen, befanden sich in derselben Gefahr wie das Boot der Jünger. Angst und Verzweiflung hatten ihre Besitzer ergriffen, aber der Befehl von Jesus hatte den Schrecken beendet. Durch die Heftigkeit des Sturms waren die Boote zusammengetrieben worden, sodass alle, die an Bord waren, das Wunder miterlebt hatten. In der Stille, die folgte, war alle Furcht vergessen. Die Leute flüsterten einander zu: »Wer ist dieser Mann? Sogar Wind und Wellen gehorchen ihm!« (Matthäus 8,27b NLB) Als Jesus geweckt wurde, um dem Sturm Einhalt zu gebieten, war er innerlich ganz ruhig. Weder in seinen Worten noch in seinem Blick gab es Anzeichen von Angst, denn sein Herz war frei von Furcht. Aber er verließ sich nicht darauf, allmächtige Kraft zu besitzen. Er fand nicht Ruhe, weil er der »Herr der Erde, des Himmels und der Meere« war. Diese Macht hatte er niedergelegt, denn er sagte: »Ich kann nichts von mir aus tun.« (Johannes 5,30a) Er vertraute auf die Macht seines Vaters und ruhte im Glauben an die Liebe und Fürsorge Gottes. Die Kraft des Wortes, die den Sturm stillte, war die Kraft Gottes.

So wie Jesus im Glauben an die Fürsorge seines Vaters ruhte, sollen auch wir uns in der Fürsorge unseres Erlösers geborgen wissen. Wenn die Jünger dem Herrn vertraut hätten, wären sie ruhig geblieben. Ihre Angst in der Stunde der Gefahr offenbarte ihren Unglauben. In ihrer Anstrengung, sich selbst zu retten, vergaßen sie Jesus. Erst als sie in ihrer Verzweiflung ihre Abhängigkeit erkannten und sich an ihn wandten, konnte er ihnen helfen. Wie oft machen wir dieselbe Erfahrung wie die Jünger. Wenn Stürme der Versuchung aufziehen, grelle Blitze zucken und die Wogen über uns zusammenschlagen, kämpfen wir oft allein gegen diese Macht und vergessen, dass einer da ist, der uns helfen kann. Wir vertrauen auf unsere eigene Kraft, bis wir unsere Hoffnung verlieren und dem Verderben nahe sind. Erst dann erinnern wir uns an Jesus. Rufen wir ihn an, damit er uns errette, wird unsere Bitte nicht vergeblich sein. Er wird traurig unseren Unglauben und unsere Selbstsicherheit tadeln, doch er wird uns immer die Hilfe, die wir brauchen, zuteilwerden lassen. Ob wir auf dem Land oder auf dem Wasser sind; wenn wir Jesus im Herzen haben, brauchen wir uns nicht zu fürchten. Ein lebendiger Glaube an den Erlöser glättet die Wogen des Lebens und rettet uns aus der Gefahr, sodass es zu unserem Besten ist. Das Wunder von der Stillung des Sturms lehrt uns noch mehr. Die Erfahrung eines jeden Menschen bezeugt die Wahrheit der Worte in der Heiligen Schrift: »Die Gottlosen sind wie das ungestüme Meer, das nicht still sein kann … Die Gottlosen haben keinen Frieden, spricht mein Gott.« (Jesaja 57,20a.21) Die Sünde hat unseren Herzensfrieden zerstört. Solange unser Ich nicht bezwungen ist, finden wir keine Ruhe. Keine menschliche Kraft kann die mächtigen Begierden des Herzens unter Kontrolle halten. Hier sind wir so hilflos wie die Jünger, die den tobenden Sturm nicht niederringen konnten. Aber er, der den Wogen des Galiläischen Meeres Ruhe gebot, hat jedem Menschen das Wort des Friedens verheißen. Wie heftig der Sturm auch toben mag, wer sich mit dem Hilferuf an Jesus wendet: »Herr, errette mich!«, wird Befreiung finden! Seine Gnade, die uns mit Gott versöhnt, stillt den Sturm der menschlichen Leidenschaft. In seiner Liebe findet unser Herz Ruhe. »Er stillte den Sturm, dass er schwieg und die Wellen sich beruhigten; und jene freuten sich, dass sie sich legten; und er führte sie in den ersehnten Hafen.« (Psalm 107,29.30 Schl.) »Da wir nun durch den Glauben von Gott für gerecht erklärt worden sind, haben wir Frieden mit Gott durch das, was Jesus, unser Herr, für uns tat.« (Römer 5,1 NLB) »Das Werk der Gerechtigkeit wird Friede sein und der Ertrag der Gerechtigkeit Ruhe und Sicherheit für ewig.« (Jesaja 32,17 Elb.)

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