Vom verlorenen Schaf

Vom verlorenen Schaf

Lukas 15,1-7

Die Schriftgelehrten zeigten offen ihre Verärgerung darüber, dass Christus von „Zöllnern und Sündern“ umgeben war: „Dieser nimmt die Sünder an und isst mit ihnen.“ Lukas 15,1.2. Sie unterstellten Christus damit, sich in einer sündigen verdorbenen Umgebung wohl zu fühlen und gegenüber dem Bösen unempfindlich zu sein. Die Schriftgelehrten waren von Christus enttäuscht. Warum suchte er nicht lieber ihre Gesellschaft, wenn er eine solch herausragende Persönlichkeit zu sein beanspruchte? Warum lehrte er nicht in der gleichen Weise wie sie? Lieber zog er anscheinend ganz anspruchslos im Land herum und gab sich mit allen möglichen Leuten ab! Als echter Prophet, so meinten sie, müsste er sich mit ihnen doch bestens verstehen und den Zöllnern und Sündern mit verächtlicher Gleichgültigkeit begegnen. Es ärgerte diese Tugendwächter, dass Jesus, mit dem sie überhaupt nicht zurechtkamen, durch sein vorbildliches Leben sie in Staunen versetzte und zugleich ein Vorwurf für sie war, während er den Randgruppen der Gesellschaft so offenkundig mit Sympathie begegnete. Von seinen Methoden hielten sie überhaupt nichts. Sie glaubten von sich selbst, gebildet, vornehm und außerordentlich fromm zu sein; aber Christi Vorbild entlarvte ihre Ichbezogenheit.

Und noch etwas ärgerte sie: Viele von denen, die sich um Jesus drängten und ihm jedes Wort von den Lippen lasen, verachteten die Rabbis und ließen sich so gut wie nie in der Synagoge sehen. Die Schriftgelehrten und Pharisäer kamen sich in der Nähe Christi verloren und verdammt vor. Wie war es dann möglich, dass sich die Zöllner und Sünder von ihm förmlich angezogen fühlten? Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatten sie selbst dafür die Erklärung geliefert, als sie voller Verachtung feststellten: „Dieser nimmt die Sünder an.“ Die Menschen kamen zu Jesus, weil sie spürten, dass es in seiner Gegenwart noch Rettung vor dem tiefsten Abgrund der Sünde gab. Die Pharisäer hatten nur Verachtung für sie übrig. Christus dagegen nannte sie Kinder Gottes, die sich zwar dem Vaterhaus entfremdet hatten, von Gott aber dennoch nicht vergessen waren. Gerade weil sie so elend und in die Sünde verstrickt waren, brauchten sie — das wusste Christus — seine Liebe und sein Mitgefühl. Je weiter sie sich von ihm entfernt hatten, desto größer war sein Wunsch, sie zu retten — koste es, was es wolle. All das hätten die Lehrer Israels aus ihren heiligen Schriften lernen können. Schließlich waren sie stolz darauf, diese in ihrer Obhut zu haben und von Berufs wegen auslegen zu können. Hatte nicht gerade David, nachdem er schwer gesündigt hatte, geschrieben: „Ich bin wie ein verirrtes und verlorenes Schaf; suche deinen Knecht“? Psalm 119,176. Und hatte nicht auch Micha davon gesprochen, wie sehr Gott die Sünder liebt, als er sagte: „Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die übrig geblieben sind von seinem Erbteil; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er ist barmherzig!“ Micha 7,18.

Bei diesem Gleichnis ging Christus nicht von einem Wort der Heiligen Schrift aus, sondern appellierte an die Alltagserfahrung seiner Zuhörer. Die ausgedehnten Hochebenen östlich des Jordans boten reiches Weideland für Viehherden. Schon oft hatten sich Schafe in den Schluchten und auf den bewaldeten Hügeln verirrt, wo nur ein fürsorglicher Hirte sie wiederfinden konnte. Unter den Zuhörern Jesu befanden sich Hirten und Besitzer von Schafherden. Sie alle verstanden seinen Vergleich gut: „Welcher Mensch ist unter euch, der hundert Schafe hat und, wenn er eins von ihnen verliert, nicht die neunundneunzig in der Wüste lässt und geht dem verlorenen nach, bis er‘s findet?“ Lukas 15,4. Auch die Menschen, die ihr verachtet, sagte Jesus, sind Gottes Eigentum. Sie sind wertvoll, weil er sie erschaffen und erlöst hat. Wie der Hirte seine Schafe liebt und keine Ruhe hat, wenn nur ein einziges fehlt, so liebt auch Gott — allerdings unvergleichlich stärker — jeden Ausgestoßenen der Gesellschaft. Ein Mensch mag sich gegen diese Liebe wehren, seine eigenen Wege gehen und sich einen anderen Herrn wählen: Er bleibt dennoch Gottes Eigentum, das dieser unbedingt zurückgewinnen will. Gott sagt: „Wie ein Hirte seine Schafe sucht, wenn sie von seiner Herde verirrt sind, so will ich meine Schafe suchen und will sie erretten von allen Orten, wohin sie zerstreut waren zur Zeit, als es trüb und finster war.“ Hesekiel 34,12. Der Hirte im Gleichnis sucht nach einem einzigen Schaf — die kleinste zählbare Menge. Ebenso wäre Christus gestorben, selbst wenn er dadurch nur einen einzigen Menschen hätte retten können.

Ein Schaf, das sich verirrt hat, ist völlig hilflos. Der Schäfer muss es suchen, denn allein findet es nicht zurück. So geht es auch dem Menschen, der sich von Gott entfernt hat. Ohne Gottes rettende Liebe könnte er den Weg zu ihm nie mehr finden. Wenn der Schäfer merkt, dass eins seiner Tiere fehlt, begnügt er sich angesichts seiner restlichen Herde, die ja gut untergebracht ist, nicht damit zu sagen: „Ich habe ja noch neunundneunzig; das eine zu suchen ist viel zu aufwendig. Wenn es von selbst zurückkommt, werde ich ihm das Gatter öffnen und es in die Hürde lassen.“ Er macht sich vielmehr große Sorgen, sobald er ein Schaf vermisst. Immer wieder zählt er die Tiere, bis er sicher weiß, dass eines fehlt. Jetzt lässt er die neunundneunzig in der Hürde zurück und begibt sich auf die Suche nach dem verlorenen Schaf. Je dunkler und stürmischer die Nacht, je gefährlicher der Weg, desto mehr sorgt er sich um das Tier, und desto eifriger sucht er. Keine Mühe scheut er, um es wieder zu finden. Wie groß ist die Erleichterung, wenn er aus der Ferne den ersten schwachen Klagelaut vernimmt! Er folgt ihm, erklettert die steilsten Hänge, kriecht bis zum Rande des Abgrunds, setzt sein Leben aufs Spiel. Das Blöken wird immer schwächer; offensichtlich ist das Schaf zu Tode erschöpft. Doch schließlich wird die Mühe des Hirten belohnt: Er findet das Tier! Nun aber schilt er es nicht etwa, weil er seinetwegen so viel ausgestanden hat. Er treibt es auch nicht mit der Peitsche vor sich her und versucht noch nicht einmal, es behutsam nach Hause zu führen. In seiner Freude lädt er sich das zitternde Geschöpf auf die Schultern, nimmt es sogar auf den Arm, wenn es verletzt ist, und drückt es an sich, um es mit seiner eigenen Körperwärme am Leben zu halten. Froh darüber, dass seine Suche nicht vergeblich war, trägt er es zur Herde zurück. Gott sei Dank, dass Jesus uns nicht das Bild eines Hirten vor Augen geführt hat, der traurig und ohne das verlorene Schaf zurückkehren muss. Das Gleichnis erzählt nicht von einem Fehlschlag, sondern von Erfolg und Freude. Damit ist uns die Gewissheit gegeben, dass Gott kein einziges verirrtes Schaf übersieht und sich selbst überlässt. Christus rettet jeden, der sich erlösen lassen will, aus dem Abgrund des Verderbens, dem Dornengestrüpp der Sünde. Auch wer schwer gesündigt hat, darf also Mut fassen! Niemand soll denken, dass Gott nur eventuell seine Schuld vergibt und ihm erlaubt, zu ihm zu kommen. Gott hat bereits den ersten Schritt getan! Als du dich noch gegen ihn auflehntest, hat er dich schon gesucht. Wie der Hirte im Gleichnis verließ er die neunundneunzig und ging hinaus, um das verlorene Schaf zu finden. Er nimmt den in seiner Seele verwundeten Menschen, der keinen Lebensmut mehr hat, in die Arme und bringt ihn voller Freude nach Hause.

Die Juden lehrten, dass Gott nur dem seine Liebe schenkt, der vorher Buße getan hat. Ihrer Meinung nach konnte man sich durch Buße die Gunst des Himmels verdienen. Eben diese Vorstellung ließ die Pharisäer so erstaunt und ärgerlich die Feststellung treffen: „Dieser nimmt die Sünder an!“ Wäre es nach ihnen gegangen, dann hätte Christus nur solche Menschen um sich dulden dürfen, die vorher Buße getan hatten. Aber genau das Gegenteil lehrte Christus im Gleichnis vom verlorenen Schaf: Das Heil wird uns nicht geschenkt, weil wir Gott suchen, sondern weil er uns sucht. „Da ist keiner, der verständig ist; da ist keiner, der nach Gott fragt. Sie sind alle abgewichen und allesamt verdorben.“ Römer 3,11.12. Wir tun nicht Buße, damit Gott uns lieben kann; vielmehr erweist er uns zuerst seine Liebe, damit wir Buße tun können. Wenn das verirrte Schaf endlich wieder in Sicherheit gebracht ist, ist der Hirte voller Dankbarkeit und Freude: Er holt seine Freunde und Nachbarn herbei und sagt ihnen: „Freut euch mit mir; denn ich habe mein Schaf gefunden, das verloren war.“ Lukas 15,6. Genauso ist es, wenn der Große Hirte einen irrenden Menschen rettet; dann stimmen Himmel und Erde einen Lob- und Dankgesang an. „So wird auch Freude im Himmel sein über einen Sünder, der Buße tut, mehr als über neunundneunzig Gerechte, die der Buße nicht bedürfen.“ Lukas 15,7. Christus wollte damit sagen: Ihr Pharisäer meint, die Lieblinge des Himmels zu sein, und vertraut auf eure eigene Gerechtigkeit. Lasst euch aber gesagt sein: Wenn ihr glaubt, keine Buße nötig zu haben, dann bin ich nicht für euch gekommen. Ich bin hier, um Menschen zu retten, die unter ihrer geistlichen Armut und ihrer Verstrickung in die Sünde leiden. Diesen Verlorenen, die ihr verachtet, wenden die Engel im Himmel ihre Aufmerksamkeit zu. Ihr beschwert euch und stichelt, wenn ein solcher Mensch sich mir anschließt. Für die Engel ist dies jedoch ein Grund zur Freude, und im Himmel erschallt ihr Siegeslied. Die Rabbis hatten ein Sprichwort, dass man sich im Himmel jedes Mal freue, wenn ein Sünder vernichtet wird. Jesus lehrte dagegen, dass Gott nicht zerstören will. Wenn man sich im Himmel freut, dann darüber, dass in Menschen, die Gott schuf, erneut sein Ebenbild sichtbar wird.

Wer sich tief in der Sünde verirrt hat und zu Gott zurückkehren will, wird mit Sicherheit auf Kritik und Misstrauen stoßen. Oft wird die Aufrichtigkeit seiner Buße infrage gestellt, und hinter vorgehaltener Hand heißt es dann: „Der ist viel zu labil; seine Umkehr wird nicht lange anhalten.“ Wer so redet, arbeitet nicht mit Gott zusammen, sondern mit Satan, dem Verkläger unserer Brüder. Der Teufel will damit den, der Buße tut, entmutigen, ihm alle Hoffnung nehmen und ihn noch mehr von Gott entfremden. Daher wollen wir jedem, der zu Gott zurückkehrt, sagen, welche Freude im Himmel herrscht über die Rückkehr eines einzigen Menschen, der verloren schien. Wir wollen ihm helfen, in der Liebe Gottes inneren Frieden zu finden und sich auf keinen Fall durch die Verachtung und Unterstellungen der Selbstgerechten entmutigen zu lassen. Die Rabbis verstanden das Gleichnis Christi so, dass es sich auf die Zöllner und Sünder bezog; es hat aber noch eine umfassendere Bedeutung. Das verlorene Schaf steht nicht nur für den einzelnen Sünder, sondern auch für diese ganze Erde, die von Gott abgefallen und von der Sünde verdorben ist. Unsere Welt ist nur ein winziges Atom im riesigen All, über das Gott regiert, und dennoch: Diese kleine, abgefallene Welt — das eine verlorene Schaf — ist in seinen Augen wichtiger als die neunundneunzig anderen, die bei der Herde geblieben sind. Christus, der geliebte Herr der himmlischen Familie, gab seine hohe Stellung und die Herrlichkeit auf, die er beim Vater hatte, um die verlorene Welt zu retten. Ihretwegen verließ er die sündlosen Welten im All, die neunundneunzig, die ihn liebten, und kam auf diese Erde, damit er „um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen“ werde. Jesaja 53,5. Gott opferte sich selbst in seinem Sohn, um die Freude erleben zu können, das verlorene Schaf wieder heimzuholen. „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen.“ 1.Johannes 3,1. Und Christus sagt: „Wie du mich gesandt hast in die Welt, so sende ich sie auch in die Welt“ (Johannes 17,18), um das zu erbringen, „was an den Leiden Christi noch fehlt, für seinen Leib, das ist die Gemeinde“ vollendet Paulus. Kolosser 1,24. Jeder, der durch Christus Rettung erfahren hat, ist dazu aufgerufen, im Namen Jesu anderen Verlorenen das Evangelium zu bringen. Diese Aufgabe hatte man in Israel vernachlässigt. Und hapert es nicht auch heute damit bei den so genannten Nachfolgern Christi?

Wie viele verlorene Schafe hast du, lieber Leser, bereits gefunden und zur Herde zurückgebracht? Hast nicht auch du schon Menschen links liegen lassen, die gerade keinen viel versprechenden Eindruck auf dich machten? War dir dabei bewusst, dass Christus auch sie sucht? Vielleicht brauchten sie dein Verständnis am dringendsten, als du ihnen die kalte Schulter zeigtest. Bei jedem Gottesdienst sind auch Menschen da, die sich nach innerem Frieden sehnen. In unseren Augen sind sie vielleicht oberflächlich und leben in den Tag hinein, aber sie haben sich nicht völlig dem Einfluss des Heiligen Geistes verschlossen. Viele von ihnen könnten für Christus gewonnen werden. Wenn das verlorene Schaf nicht zur Herde zurückgebracht wird, irrt es solange umher, bis es umkommt. Wie viele Menschen gehen ihrem Untergang entgegen, weil sich niemand um sie kümmert! Sie mögen hartherzig oder leichtsinnig wirken; hätten sie jedoch unter den gleichen günstigen Bedingungen leben können wie andere, dann hätten sie sich vielleicht auch charakterlich besser entwickelt und wären für die Gesellschaft nützlicher geworden. Engel haben Mitgefühl für diese verirrten Menschen, während uns das oft kalt lässt und wir unser Herz verschließen. Wie sehr fehlt es uns doch oft an echtem Verständnis für Menschen, die Versuchungen ausgesetzt und vom rechten Weg abgekommen sind! Wir brauchen viel mehr von der Gesinnung Jesu und die Bereitschaft, unsere eigenen Interessen auch einmal zurückzustellen.

Die Pharisäer fassten das Gleichnis Christi als Vorwurf an sie auf. Statt ihre Kritik an seinem gesellschaftlichen Umgang zu beherzigen, verurteilte er es, dass sie die Zöllner und Sünder links liegen ließen. Zwar tat er dies nicht offen und direkt, um sie nicht in eine verstockte Haltung zu treiben; sein bildhafter Vergleich machte aber unmissverständlich klar, welche Aufgabe ihnen von Gott zugedacht war, die sie leider nicht erfüllt hatten. Als wahre Hirten Israels hätten sie die barmherzige Liebe Christi weitergegeben und mit ihm zusammengearbeitet. Weil sie sich weigerten, dies zu tun, wurde ihre Frömmigkeit als Heuchelei entlarvt. Wenn auch viele Christi Vorwurf zurückwiesen, so ließen sich doch einige von seinen Worten überzeugen. Auf sie kam nach Christi Himmelfahrt der Heilige Geist, und sie schlossen sich mit den Jüngern Jesu zusammen, um die Aufgabe zu erfüllen, die das Gleichnis vom verlorenen Schaf symbolisch darstellt.

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