Jesus vor Hannas und Kaiphas

Jesus vor Hannas und Kaiphas

Matthäus 26,57-75; 27,1; Markus 14,53-72; 15,1; Lukas 22,54-71; Johannes 18,13-27

Sie trieben Jesus über den Bach Kidron, an Gärten und Olivenhainen vorbei, durch die stillen Straßen der schlafenden Stadt. Mitternacht war vorüber, und das höhnende Geschrei des Pöbels, der ihm folgte, zerriss die Stille der Nacht. Der Erlöser war gefesselt und wurde streng überwacht. Das Fortbewegen bereitete ihm Schmerzen, doch seine Häscher trieben ihn in aller Eile zum Palast des ehemaligen Hohenpriesters Hannas.

Hannas war das Oberhaupt der amtierenden Priesterfamilie. Aus Hochachtung vor seinem Alter wurde er vom Volk als Hoherpriester anerkannt. Sein Rat war gefragt und wurde ausgeführt, als wäre es die Stimme Gottes. Darum musste Jesus als Gefangener der Priester zuerst zu Hannas gebracht werden. Dieser musste bei seinem Verhör anwesend sein, denn man befürchtete, der noch wenig erfahrene Kaiphas könnte ihre ausgeklügelte Anklage zum Scheitern bringen. In diesem Fall musste man sich die Geschicklichkeit, List und Spitzfindigkeit von Hannas zunutze machen, um die Verurteilung von Jesus unter allen Umständen sicherzustellen. Nach der Voruntersuchung durch Hannas musste Jesus offiziell vor dem Hohen Rat verhört werden. Unter der römischen Herrschaft konnte dieser kein Todesurteil vollstrecken. Sie durften einen Gefangenen nur verhören und gegebenenfalls verurteilen, doch das Urteil musste durch die römischen Behörden bestätigt werden. Deshalb musste man Anklagepunkte gegen Christus vorbringen, die von den Römern als Straftaten angesehen wurden. Gleichzeitig musste eine Anschuldigung gefunden werden, die seine Verurteilung in den Augen der Juden rechtfertigte. Viele der Priester und Obersten waren von dem, was Jesus lehrte, überzeugt worden, und nur die Angst, ihr Amt zu verlieren und ausgegrenzt zu werden, hinderte sie daran, sich zu ihm zu bekennen. Die Priester erinnerten sich sehr wohl an die Frage von Nikodemus: »Entspricht es etwa unserem Gesetz, einen Mann zu verurteilen, ehe man ihn angehört und erkannt hat, ob er schuldig ist?« (Johannes 7,51 NLB) Diese Frage hatte die Ratsversammlung vorübergehend gespalten und ihre Pläne vereitelt. Darum wurden Nikodemus und Josef von Arimathäa auch nicht eingeladen. Doch es gab noch andere, die es wagen könnten, für Recht und Gerechtigkeit einzutreten. Das Verhör musste so geführt werden, dass die Mitglieder des Hohen Rats Christus einstimmig verurteilten. Die Priester wollten zwei Anklagen vorbringen. Könnte Jesus Gotteslästerung nachgewiesen werden, würde ihn das jüdische Volk verurteilen. Würde es gelingen, ihn als Anstifter eines Aufruhrs zu überführen, wäre seine Verurteilung durch die Römer gewiss. Hannas versuchte die zweite Anklage zuerst zu begründen. Er fragte Jesus über seine Jünger und seine Lehren aus und hoffte, der Angeklagte würde etwas sagen, was gegen ihn verwendet werden konnte. Er dachte, so würde er auf eine Aussage stoßen, mit der er beweisen könnte, dass Jesus die Gründung eines Geheimbundes anstrebte, dessen Absicht die Errichtung eines neuen Königreichs war. Dann könnten ihn die Priester als Unruhestifter und Aufrührer eines Aufstandes an die Römer ausliefern. Christus durchschaute die Absicht des Priesters. Als würde er die innersten Gedanken des Fragenden lesen, wies er die Anschuldigung zurück, dass es zwischen ihm und seinen Jüngern irgendein geheimes Bündnis gebe oder er sie heimlich in der Dunkelheit versammelt habe, um seine Pläne zu verbergen. Er hatte nie ein Geheimnis aus seinen Zielen oder Lehren gemacht. »Ich habe immer offen vor aller Welt gesprochen«, sagte er. »Ich habe in den Synagogen und im Tempel gelehrt, wo sich alle Juden treffen, und habe niemals etwas im Geheimen gesagt.« (Johannes 18,20 GNB) Der Erlöser verglich seine eigene Arbeitsweise mit den Methoden seiner Ankläger. Monatelang hatten sie Jagd auf ihn gemacht und versucht, ihn in eine Falle zu locken, um ihn vor ein geheimes Gericht zu stellen. Sie hofften, durch Meineid das zu erreichen, was durch faire Mittel nicht möglich war. Nun führten sie ihre Absicht aus. Die mitternächtliche Festnahme durch den Pöbel, der Spott und die Misshandlung, bevor er verurteilt oder überhaupt angeklagt war, entsprachen ihrer Vorgehensweise und nicht der seinigen. Ihr Handeln verstieß gegen das Gesetz. Ihre eigenen Vorschriften verlangten, dass jeder so lange als unschuldig behandelt werden musste, bis seine Schuld erwiesen war. Somit wurden die Priester durch ihre eigenen Gesetze verurteilt. Indem sich Jesus an den Fragenden wandte, sagte er: »Warum fragst du mich?« (Johannes 18,21 EÜ) Hatten nicht die Priester und Obersten Spione geschickt, um sein Tun zu beobachten und jedes seiner Worte zu berichten? Waren nicht diese bei jeder Versammlung dabei gewesen und hatten nicht sie alle Informationen über seine Worte und Taten den Priestern überbracht? »Frag doch die, die mich gehört haben, was ich zu ihnen gesagt habe«, antwortete Jesus. »Sie wissen, was ich geredet habe.« (Johannes 18,21 EÜ) Diese entschiedene Antwort ließ Hannas verstummen. Aus Furcht, Christus würde etwas über seine eigene Handlungsweise sagen, die er lieber verbergen wollte, sagte er nun nichts mehr zu ihm. Einer seiner Diener wurde sehr zornig, als er sah, dass Hannas zum Schweigen gebracht worden war. Er schlug Jesus ins Gesicht und fragte: »Redest du so mit dem Hohenpriester?« (Johannes 18,22 EÜ) Christus antwortete ruhig: »Wenn es nicht recht war, was ich gesagt habe, dann weise es nach; wenn es aber recht war, warum schlägst du mich?« (Johannes 18,23 EÜ) Er sprach keine harschen Worte der Vergeltung. Seine ruhige Antwort kam geduldig und freundlich aus einem sündlosen Herzen, das sich nicht herausfordern ließ.

Christus litt sehr unter den Misshandlungen und Beleidigungen. Aus den Händen derer, die er selbst geschaffen hatte und für die er ein grenzenloses Opfer brachte, nahm er jede erdenkliche Demütigung entgegen. Und er litt entsprechend seiner vollkommenen Heiligkeit und seiner Abscheu vor der Sünde. Sein Verhör durch Menschen, die sich wie Teufel aufführten, war für ihn ein fortwährendes Opfer. Von Menschen umgeben zu sein, die unter Satans Herrschaft standen, war für ihn abscheulich. Er wusste, dass er durch das Aufleuchten seiner göttlichen Macht seine grausamen Peiniger auf der Stelle hätte in den Staub werfen können. Gerade das machte die Prüfung noch schwerer erträglich. Die Juden hielten nach einem Messias Ausschau, der sich durch äußerlichen Glanz offenbaren würde. Sie erwarteten von ihm, er werde durch ein Aufleuchten seines überwältigenden Willens die Gedanken der Menschen verändern und diese dazu zwingen, seine Übermacht anzuerkennen. Dadurch, so meinten sie, würde er seine hohe Stellung sichern und ihre ehrgeizigen Hoffnungen zufriedenstellen. Deshalb überkam Christus, als er nun so verächtlich behandelt wurde, die starke Versuchung, sein göttliches Wesen kundzutun. Durch ein Wort oder einen Blick hätte er seine Verfolger zwingen können, ihn als Herrn über Könige und Fürsten, über Priester und Tempel anzuerkennen. Doch es war seine schwierige Aufgabe, an dem Platz auszuharren, den er ausgewählt hatte, um mit der Menschheit eins zu sein. Die Engel im Himmel waren bei jeder Handlung, die sich gegen ihren geliebten Befehlshaber richtete, zugegen. Wie gerne hätten sie ihn jetzt befreit! Unter Gottes Führung besitzen Engel unbegrenzte Gewalt. Sie hatten einmal auf den Befehl von Christus hin in einer Nacht 185.000 Mann der assyrischen Armee geschlagen (vgl. 2. Könige 19,35). Wie leicht hätten die Engel, die dieses schmähliche Geschehen beim Verhör von Christus mitansahen, ihre Empörung zum Ausdruck bringen und die Gegner Gottes vernichten können! Doch sie erhielten keinen Befehl, dies zu tun. Er, der seine Feinde hätte zum Tod verurteilen können, ertrug deren Grausamkeiten. Die Liebe zu seinem Vater und sein Versprechen vor der Grundlegung der Welt, die Sünden der Menschheit auf sich zu nehmen, ließen ihn, ohne zu klagen, die rohe Behandlung jener erdulden, die zu retten er gekommen war. Es war Teil seiner Mission, als Mensch alle Schmähungen und Misshandlungen, die ihm Menschen zufügen konnten, auf sich zu nehmen. Die einzige Hoffnung der Menschheit bestand darin, dass Christus sich all dem unterwarf, was er durch menschliche Hände und Herzen ertragen konnte.

Christus hatte nichts gesagt, woraus seine Ankläger einen Vorteil hätten ziehen können. Trotzdem war er gefesselt – als Zeichen, dass er bereits verurteilt war. Um aber den Schein der Gerechtigkeit zu wahren, musste die Form eines rechtmäßigen Gerichtsverfahrens eingehalten werden. Die Obrigkeit war entschlossen, rasch zu handeln. Sie wusste, wie sehr Jesus beim Volk angesehen war, und befürchtete, dass man, wenn seine Festnahme bekannt würde, versuchen könnte, ihn zu befreien. Würde andererseits das Verfahren nicht schnellstens zum Abschluss gebracht werden, müssten die Verhandlung und Vollstreckung wegen der Feier des Passafestes um eine Woche verschoben werden. Dies aber hätte ihre Pläne vereiteln können. Um die Verurteilung von Jesus sicherzustellen, verließen sie sich auf das Geschrei der Meute, die hauptsächlich aus Jerusalems Gesindel bestand. Sollte sich alles um eine Woche verzögern, würde sich die ganze Aufregung legen und wahrscheinlich eine Gegenbewegung einsetzen. Der größere Teil des Volkes würde sich zu Gunsten von Jesus erheben. Viele würden als Zeugen zu seiner Verteidigung aufstehen und die mächtigen Taten, die er vollbracht hatte, ans Licht bringen. Dies würde eine allgemeine Empörung gegen den Hohen Rat zur Folge haben; dessen Vorgehensweise würde verurteilt und Jesus auf freien Fuß gesetzt werden, um erneut vom Volk verehrt zu werden. Die Hohenpriester und Obersten waren deshalb entschlossen, Jesus an die Römer auszuliefern, noch bevor ihre Absicht bekannt werden konnte. Zuerst mussten sie eine Anklage finden, doch bis dahin hatten sie noch nichts erreicht. Hannas befahl, Jesus zu Kaiphas zu bringen. Kaiphas gehörte zu den Sadduzäern, von denen einige die erbittertsten Feinde von Jesus waren. Obwohl er keine Charakterstärke besaß, war er genauso hart, unbarmherzig und gewissenlos wie Hannas. Er würde nichts unversucht lassen, um Jesus zu vernichten. Es war jetzt früh am Morgen und noch sehr dunkel. Im Licht der Fackeln und Laternen ging die bewaffnete Schar mit ihrem Gefangenen weiter zum Palast des Hohenpriesters. Während sich dort die Mitglieder des Hohen Rats versammelten, vernahmen Hannas und Kaiphas Jesus erneut, doch ohne Erfolg.

Nachdem der Rat in der Gerichtshalle zusammengekommen war, nahm Kaiphas seinen Platz als Vorsitzender ein. Auf beiden Seiten standen die Richter und jene, die ein besonderes Interesse am Verhör hatten. Die römischen Soldaten standen auf einem Podest unterhalb des Vorsitzenden. Zu Füßen dieses Richterstuhls stand Jesus. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Die Spannung war groß. Von allen Anwesenden blieb er als Einziger ruhig und gelassen. Die Atmosphäre in seiner unmittelbaren Nähe schien von einem heiligen Einfluss durchdrungen zu sein. Kaiphas hatte Jesus als seinen Rivalen angesehen. Das Verlangen des Volkes, den Erlöser zu hören, und die spürbare Bereitschaft, seine Lehren anzunehmen, hatten die erbitterte Eifersucht des Hohenpriesters geweckt. Doch als Kaiphas nun auf den Gefangenen sah, empfand er große Bewunderung für dessen edles und würdevolles Verhalten. Er kam zur Überzeugung, dass dieser Mann gottähnlich war. Doch schon im nächsten Augenblick wies er diesen Gedanken verächtlich von sich. Sogleich war seine spöttische und überhebliche Stimme zu hören, die verlangte, Jesus solle vor ihnen eines seiner mächtigen Wunder vollbringen. Doch der Erlöser tat, als hätte er die Worte nicht gehört. Die Leute verglichen das aufgeregte und bösartige Benehmen von Hannas und Kaiphas mit dem ruhigen und majestätischen Verhalten von Jesus. Selbst in den Gemütern dieser abgebrühten Menge kam die Frage auf: Darf dieser Mann von solch gottähnlicher Erscheinung als Verbrecher verurteilt werden? Kaiphas bemerkte den Einfluss, der sich breitmachte, und beschleunigte das Verhör. Die Feinde von Jesus waren in großer Verlegenheit. Sie waren entschlossen, ihn zu verurteilen, doch sie wussten nicht, wie sie dies erreichen konnten. Die Ratsmitglieder setzten sich aus Pharisäern und Sadduzäern zusammen. Zwischen ihnen herrschte erbitterte Feindschaft. Aus Angst vor einer Auseinandersetzung wagten sie gewisse Streitfragen gar nicht anzusprechen. Mit wenigen Worten hätte Jesus ihre gegenseitigen Vorurteile anheizen und so ihren Zorn von sich abwenden können. Kaiphas wusste dies und wollte einen Streit vermeiden. Es gab genug Zeugen, die nachweisen konnten, dass Christus die Priester und Schriftgelehrten bloßgestellt und sie Heuchler und Mörder genannt hatte. Doch diese Aussagen hier zu erwähnen, wäre nicht zielführend gewesen. Die Sadduzäer hatten in ihren heftigen Auseinandersetzungen mit den Pharisäern ähnliche Ausdrücke gebraucht. Und solche Aussagen wären auch von den Römern als bedeutungslos angesehen worden, denn sie waren selbst von den Anmaßungen der Pharisäer angewidert. Es waren genügend Beweise vorhanden, dass Jesus die Überlieferungen der Juden missachtet und sich vielen ihrer Vorschriften gegenüber respektlos geäußert hatte. Doch in Bezug auf die Traditionen standen sich die Pharisäer und Sadduzäer feindlich gegenüber. Auch dieser Beweis hätte die Römer keineswegs beeindruckt. Die Feinde von Christus wagten es nicht, ihn wegen Übertretung des Sabbatgebots anzuklagen, weil sie fürchteten, eine Untersuchung würde das göttliche Wesen seines Wirkens offenbaren. Würden seine Heilungswunder ans Licht gebracht, wäre die wahre Absicht der Hohenpriester vereitelt worden. Falsche Zeugen waren bestochen worden, um Jesus wegen Anstiftung zum Aufstand und wegen des Versuchs anzuklagen, eine eigenständige Regierung einzusetzen. Doch ihre Aussagen erwiesen sich als unklar und widersprüchlich und im Verhör widerlegten sie ihre eigenen Behauptungen. Zu Beginn seines Dienstes hatte Christus gesagt: »Brecht diesen Tempel ab und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.« (Johannes 2,19) In der bildhaften Sprache der Prophezeiung hatte er damit seinen eigenen Tod und seine Auferstehung vorhergesagt: »Er aber redete von dem Tempel seines Leibes.« (Johannes 2,21) Die Juden aber hatten diese Aussage wörtlich verstanden, als würde sie sich auf den Tempel von Jerusalem beziehen. In allem, was Jesus gesagt hatte, konnten die Priester nichts finden, was sie gegen ihn hätten verwenden können, außer diesem einen Punkt. Indem sie diese Worte falsch auslegten, hofften sie, einen Vorteil zu gewinnen. Die Römer hatten mitgeholfen, den Tempel zu erneuern und zu verschönern, und waren sehr stolz darauf. Jede Geringachtung des Tempels würde mit Sicherheit ihren Unmut erregen. Hierin konnten Römer und Juden, Pharisäer und Sadduzäer übereinstimmen, denn alle hielten den Tempel hoch in Ehren. Zu diesem Anklagepunkt wurden zwei Zeugen gefunden, deren Aussagen nicht so widersprüchlich waren wie die der anderen. Einer von ihnen, der bestochen worden war, um Jesus zu beschuldigen, erklärte: »Er hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen und in drei Tagen aufbauen.« (Matthäus 26,61) Auf diese Weise wurden die Worte von Christus verdreht. Wären sie genauso wiedergegeben worden, wie er sie gesagt hatte, hätten sie nicht einmal im Hohen Rat zu einer Verurteilung geführt. Wäre Jesus, wie die Juden behaupteten, nur ein Mensch gewesen, hätte seine Erklärung nur auf eine unvernünftige und überhebliche Gesinnung hingewiesen. Aber sie hätte nicht als Gotteslästerung ausgelegt werden können. Selbst in der verzerrten Darstellung der falschen Zeugen enthielten seine Worte nichts, was von den Römern als todeswürdiges Verbrechen angesehen werden konnte.

Geduldig hörte sich Jesus die widersprüchlichen Aussagen an, sagte aber kein Wort zu seiner Verteidigung. Schließlich verstrickten sich seine Ankläger in Widersprüche, waren verwirrt und verärgert. Sie kamen im Verhör nicht weiter, und es schien, als würde ihre Verschwörung scheitern. Kaiphas war verzweifelt. Nun gab es nur noch einen Ausweg: Christus musste gezwungen werden, sich selbst schuldig zu sprechen. Der Hohepriester sprang von seinem Richterstuhl auf. Der Hohepriester sprang mit wutverzerrtem Gesicht von seinem Richterstuhl auf. Seine Stimme und sein Gebaren machten deutlich, dass er den vor ihm stehenden Gefangenen niedergeschlagen hätte, wäre es ihm möglich gewesen. »Antwortest du nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen?« (Matthäus 26,62), rief er aus. Jesus blieb ganz ruhig. »Er wurde misshandelt, aber er beugte sich und tat seinen Mund nicht auf, wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer und seinen Mund nicht auftut.« (Jesaja 53,7 Schl.) Schließlich erhob Kaiphas seine rechte Hand zum Himmel und wandte sich wie bei einem feierlichen Eid an Jesus: »Ich beschwöre dich bei dem lebendigen Gott, sag uns: Bist du der Messias, der Sohn Gottes?« (Matthäus 26,63 EÜ) Bei dieser Aufforderung konnte Jesus nicht länger schweigen. Es gibt eine Zeit zum Schweigen und eine Zeit zum Reden (vgl. Prediger 3,7). Er hatte nichts gesagt, bis er direkt gefragt wurde. Er wusste: Jetzt zu antworten würde seinen sicheren Tod bedeuten. Doch die Aufforderung wurde von der höchsten, anerkannten Obrigkeit der Nation und im Namen des Allerhöchsten an ihn gerichtet. Christus wollte es nicht versäumen, dem Gesetz den nötigen Respekt zu erweisen. Zudem wurde seine eigene Beziehung zum Vater in Frage gestellt. Nun musste er sein Wesen und seine Mission offen darlegen. Er hatte seinen Jüngern gesagt: »Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater.« (Matthäus 10,32) Jetzt wiederholte er diese Lehre durch sein eigenes Beispiel. Alle hörten gespannt hin. Jeder Blick war auf ihn gerichtet, als er antwortete: »Es ist, wie du sagst.« (Matthäus 26,64a NLB) Ein himmlisches Licht schien sein blasses Gesicht zu erleuchten, als er hinzufügte: »Ich sage euch: Von nun an werdet ihr den Menschensohn an der rechten Seite des Allmächtigen sitzen sehen, und ihr werdet sehen, wie er auf den Wolken des Himmels kommt.« (Matthäus 26,64b NGÜ) Für einen Moment leuchtete die göttliche Natur von Christus durch seine menschliche Gestalt. Der Hohepriester erschauderte vor den durchdringenden Blicken des Erlösers. Dieser Blick schien seine verborgenen Gedanken zu lesen und sich in seinem Herzen einzubrennen. Er würde diesen forschenden Blick des verfolgten Gottessohnes sein Leben lang nie mehr vergessen. »Von nun an«, sagte Jesus, »werdet ihr den Menschensohn an der rechten Seite des Allmächtigen sitzen sehen, und ihr werdet sehen, wie er auf den Wolken des Himmels kommt.« (Matthäus 26,64b NGÜ) Mit diesen Worten schilderte Christus das Gegenteil des damaligen Geschehens. Er, der Herr des Lebens und der Herrlichkeit, wird einst zur Rechten Gottes sitzen und über die ganze Erde richten. Gegen seine Entscheidung wird es keine Berufung geben. Dann werden im Licht der Gegenwart Gottes alle Geheimnisse zum Vorschein kommen. Und über jeden Menschen wird entsprechend seinen Werken das Urteil gesprochen werden (vgl. Offenbarung 20,12.13).

Der Hohepriester war über diese Worte entsetzt. Der Gedanke, dass es eine Auferstehung geben wird, nach der alle Menschen vor dem Richterstuhl Gottes stehen und nach ihren Werken gerichtet werden, war für Kaiphas schrecklich. Er wollte nicht glauben, dass er einst, seinen Werken entsprechend, ein Urteil empfangen wird. In seinem Geist leuchteten Bilder von den Ereignissen des Jüngsten Gerichts auf. Einen Augenblick lang sah er das beängstigende Schauspiel, wenn sich die Gräber öffnen und ihre Toten herausgeben werden, mit all den Geheimnissen, von denen er hoffte, dass sie für alle Zeit verborgen bleiben würden. Er fühlte sich so, als würde er selbst vor dem ewigen Richter stehen, der ihn mit einem Blick, dem alle Dinge offenbar sind, durchschaut und all seine Geheimnisse ans Licht bringt, von denen er geglaubt hatte, sie wären bei den Toten verborgen. Die Bilder verschwanden wieder vor den Augen des Hohenpriesters. Die Worte von Christus trafen ihn, den Sadduzäer, im tiefsten Inneren. Kaiphas leugnete die Lehre von der Auferstehung, dem Gericht und dem zukünftigen Leben. Nun wurde er von satanischer Wut erfasst. Sollte dieser Mann, der als Gefangener vor ihm stand, seine liebgewordenen Theorien angreifen? Er zerriss sein Gewand, damit alle Anwesenden sein angebliches Entsetzen sehen konnten, und befahl, den Angeklagten ohne weitere Verhandlungen wegen Gotteslästerung zu verurteilen. »Was bedürfen wir weiterer Zeugen?«, rief er. »Siehe, jetzt habt ihr die Gotteslästerung gehört. Was ist euer Urteil?« (Matthäus 26,65b.66a) Da verurteilten sie ihn alle zum Tod. Überzeugung, vermischt mit Leidenschaft, bewogen Kaiphas zu dem, was er tat. Er war wütend auf sich selbst, weil er den Worten von Christus glaubte. Anstatt jedoch sein Herz unter dem tiefen Eindruck der Wahrheit zu demütigen und Jesus als den Messias anzuerkennen, zerriss er sein priesterliches Gewand, entschlossen, ihm zu widerstehen. Diese Handlung war höchst bedeutsam. Kaiphas aber war sich dessen kaum bewusst. Mit dieser Tat, die er beging, um die Richter zu beeinflussen und die Verurteilung von Christus sicherzustellen, verurteilte sich der Hohepriester selbst. Nach dem Gesetz Gottes war er für das Priesteramt untauglich geworden und hatte sich selbst das Todesurteil gesprochen. Ein Hoherpriester durfte sein Gewand nicht zerreißen. Dies war nach dem levitischen Gesetz unter Todesstrafe verboten. Unter keinen Umständen und bei keiner Gelegenheit durfte ein Priester das tun. Unter den Juden war es Brauch, beim Tod eines Freundes sein Gewand zu zerreißen, doch die Priester waren davon ausgeschlossen. Christus hatte durch Mose dazu ausdrückliche Anweisungen gegeben. »Lasst euer Haar nicht als Zeichen eurer Trauer offen und ungekämmt hängen und zerreißt nicht eure Kleider. Ihr müsst sonst sterben.« (3. Mose 10,6b NLB) Alles, was der Priester trug, musste unversehrt und makellos sein. Durch diese schönen Amtskleider wurde der Charakter des großen Vorbildes – Jesus Christus – dargestellt. Allein die Vollkommenheit in Kleidung und Haltung, in Wort und Sinn, konnte Gott annehmen. Gott ist heilig, und seine göttliche Herrlichkeit und Vollkommenheit mussten durch den irdischen Dienst versinnbildlicht werden. Nur etwas Vollkommenes konnte die Heiligkeit des himmlischen Dienstes in geeigneter Weise darstellen. Der sterbliche Mensch mag sein eigenes Herz zerreißen, indem er sich reuevoll und demütig zeigt. Dies wird Gott erkennen. Doch ein priesterliches Gewand durfte nicht zerrissen werden, denn dies würde die Darstellung himmlischer Dinge entstellen. Der Hohepriester, der es wagte, mit einem zerrissenen Gewand sein heiliges Amt anzutreten, um den Dienst im Heiligtum auszuüben, wurde angesehen, als hätte er sich von Gott getrennt. Indem er sein Gewand zerriss, schloss er sich selbst davon aus, eine vorbildliche Person zu sein. Er wurde von Gott nicht länger als amtierender Priester anerkannt. Diese Handlungsweise, wie sie Kaiphas an den Tag legte, verriet menschliche Leidenschaft und Unvollkommenheit. Durch das Zerreißen seiner Kleider folgte Kaiphas menschlichen Traditionen und setzte damit Gottes Gesetz außer Kraft. Ein von Menschen gemachtes Gesetz sah vor, dass ein Priester im Fall von Gotteslästerung sein Gewand aus Abscheu vor der Sünde zerreißen durfte und dabei unschuldig blieb. Auf diese Weise wurde Gottes Gesetz durch die Gesetze der Menschen ungültig gemacht. Jede Handlung des Hohenpriesters wurde vom Volk mit großem Interesse verfolgt, und Kaiphas wollte hiermit seine Frömmigkeit zur Schau stellen. Doch mit dieser Handlung, die als Anklage gegen Christus gedacht war, schmähte er den, von dem Gott gesagt hatte: »Mein Name ist in ihm.« (2. Mose 23,21b ZÜ) Er selbst beging eine Gotteslästerung. Während er selbst unter dem Verdammungsurteil Gottes stand, verurteilte er Christus als Gotteslästerer. Die Tat von Kaiphas war bedeutungsvoll. Sie zeigte an, welche Stellung die jüdische Nation in Zukunft vor Gott einnehmen würde. Das einst bevorzugte Volk Gottes trennte sich selbst von Gott und wurde nun rasch zu einer Nation, die der Herr nicht mehr als sein Eigentum betrachtete. Als Christus am Kreuz ausrief: »Es ist vollbracht!« (Johannes 19,30b) und der Vorhang im Inneren des Tempels in zwei Teile zerriss, erklärte der heilige Wächter, dass das [damalige] jüdische Volk den verworfen hatte, der die Erfüllung all seiner Sinnbilder war und die Hauptsache aller »Schattenbilder«. Israel hatte sich von Gott getrennt. Kaiphas konnte zu Recht seine Amtsgewänder zerreißen, die seinen Anspruch zum Ausdruck brachten, Stellvertreter des großen Hohenpriesters zu sein, denn sie hatten von nun an keine Bedeutung mehr, weder für ihn noch für das Volk. Der Hohepriester mochte seine Gewänder zerreißen, aus Entsetzen über sich selbst und über die Nation! Der Hohe Rat sprach Jesus des Todes schuldig, doch es war gegen das jüdische Gesetz, einen Häftling nachts zu verhören. Eine rechtmäßige Verurteilung konnte nur am Tag und vor einer Vollversammlung des Hohen Rats erfolgen. Dennoch wurde der Erlöser wie ein verurteilter Verbrecher behandelt und zur Misshandlung den Niedrigsten und Widerwärtigsten der Menschheit übergeben. Der Palast des Hohenpriesters war von einem offenen Hof umgeben, wo sich Soldaten und eine große Menschenmenge versammelt hatten. Durch diesen Hof wurde Jesus zum Wachzimmer gebracht, wo er von allen Seiten wegen seines Anspruchs, Gottes Sohn zu sein, verspottet wurde. Seine eigenen Worte: »Von nun an werdet ihr den Menschensohn an der rechten Seite des Allmächtigen sitzen sehen, und ihr werdet sehen, wie er auf den Wolken des Himmels kommt« (Matthäus 26,64b NGÜ) wurden höhnisch wiederholt. Nun wartete er schutzlos in diesem Raum auf sein rechtmäßiges Verhör. Der gemeine Pöbel hatte gesehen, wie er vor dem Hohen Rat grausam behandelt worden war. Darum erlaubten sie sich nun, all den satanischen Zügen ihrer menschlichen Natur freien Lauf zu lassen. Das überaus würdevolle und gottähnliche Verhalten von Christus trieb sie zum Wahnsinn. Seine Demut, seine Unschuld und seine majestätische Geduld erfüllten sie mit teuflischem Hass. Barmherzigkeit und Gerechtigkeit wurden mit Füßen getreten. Nie wurde ein Verbrecher in solch unmenschlicher Weise behandelt wie der Sohn Gottes.

Doch eine noch größere Qual zerriss Jesus das Herz. Den Schlag, der ihm den größten Schmerz zufügte, hätte keine feindliche Hand austeilen können. Während Christus im Verhör vor Kaiphas verspottet wurde, verleugnete ihn einer seiner eigenen Jünger. Nachdem die Jünger ihren Meister im Garten verlassen hatten, hatten es zwei von ihnen gewagt, in einiger Entfernung der Meute zu folgen, die Jesus gefangen wegführte. Diese beiden Jünger waren Petrus und Johannes. Johannes war den Priestern als ein Jünger von Jesus sehr wohl bekannt. Sie ließen ihn in die Halle, in der Hoffnung, er würde sich beim Anblick der Demütigungen seines Lehrers von der Vorstellung, dass so einer Gottes Sohn sei, lossagen. Johannes setzte sich für Petrus ein, sodass auch er eintreten durfte. Im Hof hatte man ein Feuer angezündet, denn es war, kurz bevor der Tag anbrach, die kälteste Stunde der Nacht. Eine Gruppe drängte sich um das Feuer, und Petrus stellte sich dreist zu ihnen. Er wollte nicht als Jünger von Jesus erkannt werden. Indem er sich leichtsinnig unter die Menge mischte, hoffte er, für einen von denjenigen gehalten zu werden, die Jesus zur Halle gebracht hatten. Doch als das Licht auf sein Gesicht fiel, warf die Türhüterin einen prüfenden Blick auf ihn. Sie hatte bemerkt, dass er mit Johannes hereingekommen war, sah seinen niedergeschlagenen Ausdruck im Gesicht und dachte, er könnte ein Jünger von Jesus sein. Sie gehörte zu den Mägden im Haus des Kaiphas, war sehr neugierig und fragte Petrus: »Bist du nicht auch einer von den Jüngern dieses Menschen?« (Johannes 18,17) Petrus war überrascht und verlegen. Die Blicke aller richteten sich augenblicklich auf ihn. Er gab vor, sie nicht verstanden zu haben, doch sie bestand darauf und sagte zu den Umstehenden, dieser Mann sei mit Jesus zusammen gewesen. Petrus fühlte sich genötigt, eine Antwort zu geben, und erwiderte ärgerlich: »Frau, ich kenne ihn nicht.« (Lukas 22,57b) Das war die erste Verleugnung, und sofort krähte der Hahn. Oh, Petrus, so schnell schämst du dich für deinen Meister! So schnell verleugnest du deinen Herrn! Johannes hatte beim Betreten der Gerichtshalle gar nicht erst versucht, die Tatsache zu verheimlichen, dass er ein Nachfolger von Jesus war. Er hatte sich nicht unter das grobe Volk gemischt, das seinen Herrn mit Schmähungen überhäufte. Ihm wurden keine Fragen gestellt, weil er sich nicht verstellte und sich dadurch nicht verdächtig machte. Er suchte eine stille Ecke auf, wo er sicher war, nicht von der Menge bemerkt zu werden, und wo er doch so nahe wie möglich bei Jesus sein konnte. Hier konnte er alles sehen und hören, was beim Verhör seines Herrn vor sich ging. Petrus hatte sich nicht zu erkennen geben wollen. Indem er so tat, als wäre er gleichgültig, begab er sich auf feindlichen Boden und wurde so zu einer leichten Beute der Versuchung. Wäre er für seinen Meister zum Kampf aufgerufen worden, wäre er ein tapferer Kämpfer gewesen. Doch als spöttisch mit dem Finger auf ihn gezeigt wurde, erwies er sich als Feigling. Viele, die den offenen Kampf für ihren Herrn nicht scheuen, werden durch Spott dazu getrieben, ihren Glauben zu verleugnen. Durch den Umgang mit jenen, die sie meiden sollten, begeben sie sich selbst auf den Weg der Versuchung. Sie laden den Feind ein, sie zu versuchen, und sagen und tun das, woran sie unter anderen Umständen niemals schuldig geworden wären. Der Nachfolger von Christus, der in unseren Tagen seinen Glauben aus Angst vor Leiden oder Schande versteckt, verleugnet seinen Herrn genauso wie Petrus in der Gerichtshalle. Petrus versuchte, kein Interesse am Verhör seines Meisters zu zeigen. Doch sein Herz war tief bekümmert, als er die grausamen Schmähungen hörte und die Misshandlungen sah, die Jesus zu ertragen hatte. Mehr als das: Er war überrascht und verärgert darüber, dass Jesus sich und seine Nachfolger so demütigte, indem er sich einer solchen Behandlung fügte. Um seine wahren Gefühle zu verbergen, versuchte er, sich den Verfolgern von Jesus in ihren unpassenden Witzeleien anzuschließen. Doch sein Auftreten war unnatürlich und sein Handeln unaufrichtig. Obwohl er versuchte, unbekümmert zu reden, gelang es ihm nicht, seine Entrüstung über die Schmach zu unterdrücken, mit der sein Meister überhäuft wurde. Jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit zum zweiten Mal auf ihn. Er wurde erneut beschuldigt, ein Nachfolger von Jesus zu sein. Nun erklärte er unter Eid: »Ich kenne den Menschen nicht.« (Matthäus 26,72b) Er erhielt noch eine weitere Gelegenheit. Eine Stunde war vergangen, da fragte ihn einer der Diener des Hohenpriesters, der ein naher Verwandter des Mannes war, dessen Ohr Petrus abgeschlagen hatte: »Sah ich dich nicht im Garten bei ihm?« (Johannes 18,26b) »Wahrhaftig, du bist einer von denen; denn du bist auch ein Galiläer.« (Markus 14,70b) »Denn deine Sprache verrät dich.« (Matthäus 26,73b) Nun war Petrus außer sich vor Wut. Die Jünger von Jesus waren dafür bekannt, dass sie anständig sprachen. Doch um seine Befrager gänzlich zu täuschen und seine Heuchelei zu rechtfertigen, verleugnete Petrus seinen Meister nun mit Fluchen und Schwören. Wiederum krähte der Hahn. Diesmal hörte ihn Petrus, und er erinnerte sich an die Worte von Jesus: »Bevor der Hahn zwei Mal kräht, wirst du mich drei Mal verleugnen.« (Markus 14,30b NLB) Noch während die entwürdigenden Schwüre über die Lippen von Petrus kamen und das gellende Krähen des Hahnes in seinen Ohren klang, wandte sich der Erlöser von den finster blickenden Richtern ab und schaute direkt auf seinen armseligen Jünger. Im selben Moment wurden die Augen von Petrus zu seinem Meister hingelenkt. In jenem freundlichen Angesicht las er tiefes Mitleid und große Trauer, jedoch keinen Groll.

Der Anblick dieses bleichen, gequälten Angesichts, jener bebenden Lippen und jenes mitleidsvollen und vergebenden Blickes durchbohrte sein Herz wie ein Pfeil. Das Gewissen war erwacht, die Erinnerung wurde lebendig. Petrus dachte an sein Versprechen, das er wenige Stunden zuvor gegeben hatte, seinen Herrn ins Gefängnis, ja sogar in seinen Tod zu begleiten! Er erinnerte sich an seinen Kummer, als ihm der Erlöser beim Abendmahl erzählte, dass er in dieser Nacht seinen Herrn dreimal verleugnen werde. Eben erst hatte Petrus erklärt, Jesus nicht zu kennen. Nun aber wurde ihm schmerzlich bewusst, wie gut ihn der Herr kannte und wie genau er in seinem Herzen jene Falschheit gelesen hatte, die ihm selbst unbekannt war. Eine Flut von Erinnerungen überkam Petrus. Die Barmherzigkeit des Erlösers, seine Freundlichkeit und Langmut, seine Güte und Geduld seinen irrenden Jüngern gegenüber – all das wurde ihm bewusst. Er erinnerte sich auch an die Warnung: »Simon, Simon, Satan hat euch alle haben wollen. Er wollte euch durchsieben wie Weizen. Doch ich habe für dich gebetet, dass dein Glaube nicht aufhöre.« (Lukas 22,31.32a NLB) Er dachte mit Entsetzen an seine eigene Undankbarkeit, seine Lügen und seinen falschen Eid. Noch einmal blickte er zu seinem Meister und sah, wie ein Missetäter seine Hand erhob, um Jesus ins Gesicht zu schlagen. Unfähig, diesen Anblick länger zu ertragen, und mit gebrochenem Herzen verließ er eiligst die Halle. Petrus lief hinaus in die Dunkelheit und Einsamkeit. Er wusste nicht wohin, doch dies kümmerte ihn nicht. Schließlich fand er sich im Garten Gethsemane wieder. Die Ereignisse einige Stunden zuvor standen ihm wieder lebhaft vor Augen. Er sah das gequälte Gesicht seines Herrn vor sich, das mit blutigem Schweiß bedeckt und vor Angst verzerrt war. In tiefer Reue dachte er daran, wie Jesus geweint und allein im Gebet gerungen hatte, während sie, die ihm in dieser Stunde der Prüfung hätten beistehen sollen, schliefen! Er erinnerte sich an seine ernste Aufforderung: »Bleibt wach und betet! Sonst wird euch die Versuchung überwältigen.« (Matthäus 26,41a NLB) Noch einmal durchlebte er das Geschehen in der Gerichtshalle. Für sein wundes Herz war es eine Qual zu wissen, dass er selbst zur Erniedrigung und zum Kummer des Erlösers den größten Beitrag geleistet hatte. An demselben Platz, an dem sich Jesus in Todesangst seinem himmlischen Vater anvertraut hatte, fiel Petrus auf sein Angesicht und wünschte sich, sterben zu können. Indem er schlief, als ihn Jesus aufforderte, zu wachen und zu beten, ebnete Petrus den Weg für seine große Sünde. Alle Jünger erlitten einen schweren Verlust, weil sie in dieser entscheidenden Stunde schliefen. Christus kannte die Feuerprobe, durch die sie gehen müssten. Er wusste, wie Satan arbeiten würde, um ihre Sinne zu lähmen, damit sie nicht auf die Prüfung vorbereitet wären. Aus diesem Grund hatte er sie gewarnt. Hätten sie in jenen Stunden im Garten Gethsemane gewacht und gebetet, wäre Petrus nicht seiner eigenen Schwachheit überlassen gewesen und hätte seinen Herrn nicht verleugnet. Hätten die Jünger mit Christus während seines Ringens im Garten gewacht, dann wären sie bereit gewesen, sein Leiden am Kreuz mit anzusehen. Sie hätten das Ausmaß seiner überwältigenden Qual etwas besser verstanden. Sie wären fähig gewesen, sich wieder an seine Worte,die seine Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung voraussagten, zu erinnern. Inmitten der Finsternis dieser schwersten Stunde hätten einige Strahlen der Hoffnung die Dunkelheit erhellt und ihren Glauben gestärkt.

Sobald es Tag war, trat der Hohe Rat erneut zusammen. Wieder wurde Jesus in den Versammlungsraum gebracht. Er hatte erklärt, der Sohn Gottes zu sein, und sie hatten seine Worte in eine Anklage gegen ihn verkehrt. Doch sie konnten ihn nicht verurteilen, denn viele Ratsmitglieder waren beim nächtlichen Verhör nicht anwesend gewesen und hatten seine Worte nicht gehört. Sie wussten, dass das römische Gericht an diesen Worten nichts finden würde, was eine Todesstrafe rechtfertigen könnte. Würde jedoch jeder diese Worte noch einmal aus dem Mund von Jesus hören, könnten sie ihr Ziel erreichen. Seiner Behauptung, der Messias zu sein, würden sie eine aufrührerische, politische Absicht unterstellen. »Wenn du der Messias bist, dann sag es uns!«, drängten sie ihn. Aber Jesus schwieg. Sie drangen mit Fragen auf ihn ein. Schließlich antwortete er mit trauriger Stimme: »Auch wenn ich es euch sage – ihr glaubt mir ja doch nicht; und wenn ich euch etwas frage, antwortet ihr nicht.« Damit sie aber keine Entschuldigung hätten, fügte er die ernste Warnung hinzu: »Von nun an wird der Menschensohn zur Rechten des allmächtigen Gottes sitzen.« »Du bist also der Sohn Gottes«, fragten sie alle wie aus einem Mund. Er antwortete ihnen: »Ihr sagt es – ich bin es.« Sie aber riefen: »Was brauchen wir noch Zeugenaussagen? Wir haben es selbst aus seinem eigenen Mund gehört.« (Lukas 22,67-71 EÜ) So wurde Jesus zum dritten Mal von der jüdischen Obrigkeit zum Tod verurteilt. Alles, was nun noch nötig war, dachten sie, waren die Bestätigung des Urteils durch die Römer und seine Auslieferung an sie. Nun wurde Jesus zum dritten Mal vom unwissenden Pöbel misshandelt und geschmäht, noch übler als zuvor. Dies geschah alles in Gegenwart und mit der Unterstützung der Priester und Obersten. Sie hatten jedes Gefühl für Anteilnahme und Menschlichkeit verloren. Reichten ihre Argumente nicht aus, um seine Stimme zum Schweigen zu bringen, hatten sie andere Mittel, die in allen Jahrhunderten gebraucht wurden, um Ketzer zum Schweigen zu bringen: Leiden, Gewalt und Tod. Als die Richter das Urteil über Jesus sprachen, wurden die Anwesenden von satanischer Wut ergriffen. Das Geschrei ihrer Stimmen glich dem Brüllen wilder Tiere. Die Menge stürzte sich auf Jesus und rief: »Er ist des Todes schuldig.« (Matthäus 26,66b) Wären nicht die römischen Soldaten dagewesen, hätte Jesus nicht überlebt, um ans Kreuz von Golgatha gebracht zu werden. Er wäre vor seinen Richtern in Stücke zerrissen worden, hätte nicht die römische Obrigkeit eingegriffen und mit Waffen das gewalttätige Vorgehen des Pöbels verhindert. Heidnische Männer waren über die rücksichtslose Behandlung eines Menschen, dem keine Schuld nachgewiesen werden konnte, aufgebracht. Die römischen Offiziere erklärten, die Juden hätten mit der Verurteilung von Jesus nicht nur gegen die römische Macht verstoßen, sondern auch gegen das jüdische Gesetz, das eindeutig verbiete, einen Menschen aufgrund seiner eigenen Aussage zum Tod zu verurteilen. Durch dieses Einschreiten geriet das Verfahren vorübergehend ins Stocken, aber die jüdischen Anführer verspürten weder Mitleid noch Scham. Priester und Oberste vergaßen die Würde ihres Amtes und beleidigten den Sohn Gottes mit üblen Schimpfwörtern. Sie verhöhnten ihn wegen seiner Herkunft und behaupteten, dass sein Anspruch, der Messias zu sein, den schmachvollsten Tod verdiene. Die zuchtlosesten Männer halfen mit, den Erlöser auf höchst entehrende Weise zu misshandeln. Ein altes Gewand wurde über seinen Kopf geworfen. Seine Verfolger schlugen ihm ins Gesicht und riefen: »Messias, du bist doch ein Prophet! Sag uns: Wer hat dich geschlagen?« (Matthäus 26,68 EÜ) Als ihm das Gewand wieder abgenommen wurde, spuckte ihm ein armseliger Kerl ins Gesicht. Gottes Engel verzeichneten sorgfältig jeden beleidigenden Blick, jedes Wort und jede Tat, die gegen ihren geliebten Herrn gerichtet waren. Eines Tages werden die niederträchtigen Männer, die das stille, bleiche Angesicht von Christus verhöhnt und besudelt haben, es in seiner Herrlichkeit sehen, die heller leuchtet als die Sonne.

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