Auseinandersetzungen
Matthäus 22,15-46; Markus 12,13-40; Lukas 20,20-47
Die Priester und Obersten hatten sich den scharfen Tadel von Christus schweigend angehört, konnten seine Anklagen jedoch nicht widerlegen. Sie waren nur umso entschlossener, ihn zu ergreifen. Zu diesem Zweck schickten sie Spione zu ihm, die so tun sollten, als wären sie fromm, »um ihn bei einem Wort zu fassen, damit sie ihn der Obrigkeit und der Gewalt des Statthalters ausliefern könnten« (Lukas 20,20 Schl.). Doch sie schickten nicht die alten Pharisäer zu ihm, denen Jesus schon oft begegnet war, sondern junge Leute, die eifrig und begeistert waren und von denen sie dachten, Christus werde sie nicht erkennen. Diese wurden von einigen Männern des Herodes begleitet. Sie sollten sich die Worte von Christus anhören, um bei seinem Strafprozess gegen ihn aussagen zu können. Die Pharisäer und die Herodianer waren eigentlich erbitterte Feinde, doch in der Feindschaft gegenüber Jesus waren sie sich einig.
Die Pharisäer hatten sich stets gegen das Eintreiben der Steuern durch die Römer aufgelehnt und dachten, die Tributzahlungen stünden im Widerspruch zu Gottes Gesetz. Nun sahen sie darin eine Möglichkeit, Christus eine Falle zu stellen. Die Spione kamen zu ihm und fragten scheinbar aufrichtig, als wollten sie nur wissen, was ihre Pflicht sei: »Meister, wir wissen, dass das, was du sagst und lehrst, richtig ist und du dich nicht von der Meinung anderer beeinflussen lässt. Du lehrst die Wege Gottes, und was du sagst, ist wahr. Sage uns nun: Ist es richtig, dem Kaiser Steuern zu zahlen, oder nicht?« (Lukas 20,21.22 NLB) Hätten sie die Worte: »Wir wissen, dass das, was du sagst und lehrst, richtig ist« ehrlich gemeint, wäre dies ein wunderbares Bekenntnis gewesen. Ihre Aussage war zwar richtig, wurde jedoch nur dazu ausgesprochen, um Jesus zu täuschen. Die Pharisäer wussten sehr wohl, dass er die Wahrheit sagte und lehrte. Aufgrund ihrer eigenen Aussage werden sie einmal gerichtet werden. Jene, die Jesus die Frage stellten, meinten, ihre Absicht sei ausreichend getarnt. Jesus aber las in ihren Herzen wie in einem offenen Buch und erkannte ihre Heuchelei: »Warum stellt ihr mir eine Falle?«, fragte er. Indem er ihre verborgene Absicht aufdeckte, gab er ihnen ein Zeichen, um das sie nicht gebeten hatten. Sie wurden noch verlegener, als er hinzufügte: »Reicht mir eine Silbermünze.« Sie gaben ihm eine. »Wessen Bild und Name ist darauf?«, fragte er. Sie antworteten: »Das Bild und der Name des Kaisers.« Da wies Jesus auf die Inschrift auf der Münze hin und sagte: »Dann gebt dem Kaiser, was dem Kaiser gehört, und gebt Gott, was Gott gehört!« (Markus 12,15-17 NGÜ) Die Spione hatten erwartet, dass Jesus ihre Frage sofort bejahen oder verneinen würde. Hätte er gesagt, dass es rechtswidrig sei, dem Kaiser Steuern zu zahlen, hätten sie ihn bei den römischen Behörden angezeigt und er wäre wegen Anstiftung zum Aufruhr verhaftet worden. Hätte er aber gesagt, das Entrichten der Steuern sei rechtens, hätten sie ihn vor dem Volk beschuldigt, dem Gesetz zu widersprechen. Nun aber waren sie verblüfft und fühlten sich geschlagen. Ihre Pläne waren durchkreuzt. Er beantwortete ihre Frage derart treffend, dass sie nichts mehr entgegnen konnten. Jesus war damit ihrer Frage nicht ausgewichen, sondern hatte sie aufrichtig beantwortet. In seiner Hand hielt er die römische Münze, in welche der Name und das Bild des Kaisers eingeprägt waren. Er erklärte ihnen, dass sie – weil sie unter der schützenden Macht Roms lebten – auch die von ihr geforderte Unterstützung erbringen sollten, solange dies nicht mit höheren Verpflichtungen in Konflikt geriet. Doch während sie sich als friedliche Bürger den Gesetzen des Landes unterwarfen, sollte ihre Treue zu Gott stets an erster Stelle stehen. Mit den Worten: »Dann … gebt Gott, was Gott gehört« (Markus 12,17b NGÜ) wies Jesus die hinterhältigen jüdischen Führer scharf zurecht. Wären sie ihren Verpflichtungen Gott gegenüber gewissenhaft nachgekommen, wäre ihre Nation nicht auseinandergebrochen, und sie hätten sich keiner fremden Macht unterwerfen müssen. Dann hätte keine römische Flagge über Jerusalem geweht, keine römische Wache an ihren Toren gestanden und kein römischer Statthalter innerhalb ihrer Mauern geherrscht. Dies war der Preis, den die jüdische Nation als Folge ihres Abfalls von Gott bezahlte. Als die Pharisäer die Antwort von Christus hörten, »waren sie so verblüfft, dass sie Jesus in Ruhe ließen und weggingen« (Matthäus 22,22 NGÜ). Er hatte ihre Heuchelei und Anmaßung gerügt und dabei einen wichtigen Grundsatz aufgestellt, der die menschlichen Verpflichtungen gegenüber einer zivilen Regierung und Gott festlegt. Damit war für viele eine umstrittene Frage geklärt. Von da an hielten sie sich an den richtigen Grundsatz. Obwohl viele unzufrieden weggingen, hatten sie erkannt, dass das Prinzip, welches dieser Frage zugrunde lag, damit deutlich aufgezeigt worden war. Sie staunten über das weitsichtige Urteilsvermögen von Christus.
Kaum waren die Pharisäer zum Schweigen gebracht, traten die Sadduzäer mit ihren arglistigen Fragen an ihn heran. Diese beiden Parteien waren erbitterte Feinde. Die Pharisäer waren unnachgiebige Verfechter der Traditionen. Sie hielten sich streng an äußerliche Zeremonien. Die Waschungen, Fastenzeiten und langen Gebete wurden genau eingehalten. Ihre Almosen gaben sie für jeden sichtbar. Christus aber erklärte, sie würden Gottes Gesetz wirkungslos machen, indem sie menschliche Vorschriften als verbindliche Lehren ausgaben. Sie gehörten zu einer fanatischen und scheinheiligen Religionspartei. Dennoch gab es unter ihnen auch wahrhaft fromme Menschen, die die Lehren von Christus annahmen und seine Jünger wurden. Die Sadduzäer aber lehnten die Überlieferungen der Pharisäer ab. Sie behaupteten zwar, den größeren Teil der heiligen Schriften für wahr zu halten und diesen als Richtschnur für ihr Handeln anzusehen. In Wirklichkeit aber waren sie Skeptiker und Materialisten. Die Sadduzäer leugneten die Existenz der Engel, die Auferstehung der Toten und auch die Lehre von einem zukünftigen Leben mit seinen Belohnungen und Strafen (vgl. Apostelgeschichte 23,8). In all diesen Punkten unterschieden sie sich von den Pharisäern. Besonders die Frage um die Auferstehung bot immer wieder Anlass zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Parteien. Die Pharisäer hatten immer fest an die Auferstehung geglaubt, doch in diesen Diskussionen gerieten ihre Ansichten über den künftigen Zustand des Menschen durcheinander. Der Tod wurde für sie zu einem unerklärlichen Geheimnis. Weil sie unfähig waren, den Einwänden der Sadduzäer zu begegnen, gab es immer wieder Streit. Die Diskussionen zwischen den beiden Parteien hatten meistens heftige Auseinandersetzungen zur Folge und ließen die Kluft zwischen ihnen nur noch größer werden. Zahlenmäßig waren die Sadduzäer ihren Widersachern weit unterlegen. Auch im einfachen Volk hatten sie keine große Anhängerschaft. Doch viele von ihnen waren wohlhabend und deshalb einflussreich. Die meisten Priester kamen aus ihren Reihen, und gewöhnlich wurde aus ihrer Mitte der Hohepriester gewählt. Dies geschah jedoch mit der ausdrücklichen Bedingung, dass sie ihre kritischen Ansichten nicht in den Vordergrund stellten. Weil die Pharisäer in der Überzahl und beim Volk beliebt waren, mussten sich die Sadduzäer, wenn sie ein priesterliches Amt innehatten, nach außen hin den Lehren der Pharisäer anpassen. Doch allein die Tatsache, dass sie berechtigt waren, ein solches Amt zu bekleiden, verschaffte ihren Irrtümern Einfluss. Die Sadduzäer verwarfen die Lehren von Jesus, denn er war von einem Geist beseelt, den sie so, wie er sich kundtat, nicht anerkennen wollten. Dazu kam, dass sich seine Lehren und ihre eigenen Vorstellungen in Bezug auf Gott und das zukünftige Leben widersprachen. Sie glaubten, Gott sei das einzige dem Menschen übergeordnete Wesen, waren aber der Ansicht, dass eine alles bestimmende Vorsehung und eine göttliche Voraussicht dem Menschen den freien Willen entzieht und ihn auf die Stufe eines Sklaven erniedrigt. Sie glaubten, Gott habe den Menschen, nachdem er ihn erschaffen hatte, sich selbst überlassen, unabhängig von einem höheren Einfluss. Sie waren überzeugt, dass der Mensch in völliger Freiheit sein eigenes Leben lenken und die Ereignisse der Welt gestalten könne und sein Schicksal in seinen eigenen Händen liege. Sie bestritten, dass Gottes Geist durch menschliche Bemühungen oder auf natürliche Weise wirke. Dennoch hielten sie daran fest, dass der Mensch durch den richtigen Gebrauch seiner natürlichen Kräfte erhoben und erleuchtet und sein Leben durch strenge und enthaltsame Anforderungen veredelt werden könne. Ihre Vorstellungen von Gott prägten ihren eigenen Charakter. So wie sich Gott ihrer Meinung nach nicht für den Menschen interessierte, nahmen auch sie nur wenig Rücksicht aufeinander und hatten keinen großen Zusammenhalt. Weil sie sich weigerten, den Einfluss des Heiligen Geistes auf das Handeln des Menschen anzuerkennen, fehlte ihnen seine Kraft in ihrem Leben. Wie alle anderen Juden brüsteten sie sich sehr mit ihrem Geburtsrecht als Nachkommen Abrahams und prahlten mit ihrer Gesetzestreue. Doch der wahre Geist des Gesetzes, der Glaube und die Güte Abrahams fehlten ihnen. Ihre natürliche Zuneigung beschränkte sich auf einen kleinen Umkreis. Sie glaubten, alle Menschen könnten die Annehmlichkeiten und Segnungen des Lebens erlangen. Darum wurden ihre Herzen nicht von den Bedürfnissen und vom Leid anderer berührt. Sie lebten nur für sich selbst.
Christus legte durch seine Worte und Taten Zeugnis ab von einer göttlichen Macht, die Übernatürliches bewirkt, von einem zukünftigen Leben, das über das gegenwärtige hinausreicht und von Gott, der als Vater aller Menschenkinder deren wahre Interessen immer aufmerksam im Auge behält. Jesus machte deutlich, wie die göttliche Kraft durch Güte und Mitgefühl wirkt, und rügte die selbstsüchtige Abgehobenheit der Sadduzäer. Er lehrte, dass Gott durch den Heiligen Geist am Herzen des Menschen wirkt, sowohl zu dessen irdischem wie auch ewigem Wohl. Er wies auf den Irrtum hin, wonach durch das Vertrauen auf die menschliche Kraft der Charakter verändert werde, was aber nur durch Gottes Geist bewirkt werden kann. Die Sadduzäer waren entschlossen, diese Lehren in Verruf zu bringen. Auch wenn sie die Verurteilung von Jesus nicht herbeiführen konnten, waren sie überzeugt, dass ein Streitgespräch mit ihm seinen Ruf schädigen würde. Sie beschlossen, ihn über die Auferstehung zu befragen. Stimmte er ihnen zu, würde er die Pharisäer noch mehr kränken, sollte er einen anderen Standpunkt vertreten als sie, wollten sie seine Lehre lächerlich machen. Die Sadduzäer argumentierten: Falls der Leib im unsterblichen wie im sterblichen Zustand aus derselben Materie bestehe, müsse er nach der Auferstehung wieder Fleisch und Blut haben und in der ewigen Welt das auf der Erde unterbrochene Leben wieder aufnehmen. In diesem Fall, so schlussfolgerten sie, würden irdische Beziehungen weiter bestehen, Mann und Frau wieder zusammenkommen und Ehen geschlossen werden. Alles ginge so weiter wie vor dem Tod. Auch die Schwächen und Leidenschaften dieses Lebens würden im Jenseits weiter bestehen. Mit seiner Antwort auf ihre Frage hob Jesus den Schleier vom künftigen Leben. Er sagte: »In der Auferstehung werden sie weder heiraten noch sich heiraten lassen, sondern sie sind wie Engel im Himmel.« (Matthäus 22,30) Dadurch machte er deutlich, dass die Ansicht der Sadduzäer falsch war. Sie gingen von falschen Voraussetzungen aus. »Ihr irrt euch«, fügte er hinzu, »weil ihr die Schrift nicht kennt und auch nicht die Macht Gottes!« (Matthäus 22,29 NLB) Er beschuldigte sie nicht, Heuchler zu sein wie die Pharisäer, machte ihnen aber klar, dass sie im Irrtum waren. Die Sadduzäer hatten sich damit gebrüstet, dass sie sich von allen Menschen am strengsten an die heiligen Schriften hielten. Jesus aber wies ihnen nach, dass sie deren wahre Bedeutung nicht verstanden hatten. Erst durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes kann der Mensch zur wahren Erkenntnis finden. Ihre mangelnde Schriftkenntnis und ihre Unwissenheit über die göttliche Macht, so erklärte Christus, seien die Ursache für ihren verwirrten Glauben und ihre geistige Umnachtung. Sie versuchten, die göttlichen Geheimnisse mit ihrem begrenzten Verstand zu erfassen. Christus rief sie dazu auf, ihre Herzen für jene heiligen Wahrheiten zu öffnen, die ihre Erkenntnis erweitern und festigen können. Tausende werden zu Ungläubigen, weil ihr begrenzter Verstand die Geheimnisse Gottes nicht begreifen kann. Sie können sich die wunderbare Entfaltung der göttlichen Macht in seiner fürsorglichen Vorsehung nicht erklären. Deshalb lehnen sie die Beweise einer solchen Macht ab und schreiben sie lieber natürlichen Umständen zu, die sie noch weniger verstehen können. Der einzige Schlüssel zu den Geheimnissen, die uns umgeben, besteht darin, in all diesen die Gegenwart und Macht Gottes zu erkennen. Die Menschen müssen Gott als den Schöpfer des Universums anerkennen, als den Einen, der alles gebietet und ausführt. Sie benötigen ein tieferes Verständnis von seinem Wesen und von den Geheimnissen seines Wirkens. Christus erklärte seinen Zuhörern, dass ihnen die Heilige Schrift, an die zu glauben sie vorgaben, nichts nützen würde, wenn es keine Auferstehung der Toten gäbe. Er sagte: »Habt ihr denn nicht gelesen von der Auferstehung der Toten, was euch gesagt ist von Gott, der da spricht: Ich bin der Gott Abrahams und der Gott Isaaks und der Gott Jakobs? Gott ist nicht ein Gott der Toten, sondern der Lebenden.« (Matthäus 22,31.32; vgl. 2. Mose 3,6) Gott betrachtet die Dinge, die gar nicht sind, als wären sie da. Er sieht das Ende von Anfang an und kennt das Ergebnis seines Wirkens, als ob es bereits abgeschlossen wäre. Die kostbaren Entschlafenen – von Adam bis zum letzten Gläubigen, der einmal sterben wird – werden alle die Stimme des Sohnes Gottes hören und zu ewigem Leben aus ihren Gräbern hervorkommen. Gott wird ihr Gott und sie werden sein Volk sein. Zwischen Gott und den Auferstandenen wird eine innige, liebevolle Beziehung bestehen. Diesen von ihm beabsichtigten Zustand nimmt er vorweg, indem er ihn so betrachtet, als ob er bereits Wirklichkeit wäre. Die Toten leben im Hinblick auf ihn. Die Worte von Christus ließen die Sadduzäer verstummen. Sie konnten ihm nicht antworten. Er hatte kein einziges Wort geäußert, das auch nur im Geringsten zu seiner Verurteilung hätte beitragen können. Seine Gegner hatten nichts erreicht, außer dass sie nun vom Volk verachtet wurden.
Die Pharisäer hatten noch nicht aufgegeben, Jesus zu einer Aussage zu verleiten, die gegen ihn verwendet werden konnte. Sie konnten einen überzeugten Schriftgelehrten dazu gewinnen, Jesus zu fragen, welches von den Zehn Geboten das wichtigste sei. Die Pharisäer maßen den ersten vier Geboten, die auf die Pflichten des Menschen gegenüber seinem Schöpfer hinweisen, viel mehr Bedeutung zu als den sechs anderen, die das Verhalten des Menschen zu seinem Mitmenschen regeln. Dies hatte zur Folge, dass ihnen die praktische Frömmigkeit fehlte. Jesus hatte das Volk bereits auf sein großes Defizit aufmerksam gemacht. Er hatte es auf die Notwendigkeit der guten Werke hingewiesen und erklärt, dass man den Baum an seinen Früchten erkenne (vgl. Matthäus 7,16-20). Aus diesem Grund warf man ihm vor, er stelle die letzten sechs Gebote über die ersten vier. Ein Schriftgelehrter näherte sich Jesus mit einer direkten Frage: »Welches von allen Geboten ist das wichtigste?« (Markus 12,28b NLB) Christus antwortete unverzüglich und auf eindringliche Art und Weise: »Das wichtigste Gebot ist dies: ›Höre, o Israel! Der Herr, unser Gott, ist der einzige Herr. Und du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele, mit all deinen Gedanken und all deiner Kraft lieben.‹« (Markus 12,29.30 NLB; vgl. 5. Mose 6,4.5) Das zweite Gebot sei, so sagte Christus, dem ersten gleich, weil es aus dem ersten hervorgehe: »›Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‹ Kein anderes Gebot ist wichtiger als diese beiden.« (Markus 12,31 NLB; vgl. 3. Mose 19,18) – »An diesen zwei Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.« (Matthäus 22,40 Elb.) Die ersten vier der Zehn Gebote werden in einem großen Gebot zusammengefasst: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen.« (5. Mose 6,5) Die letzten sechs sind im zweiten enthalten: »Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.« (3. Mose 19,18 NLB) Diese beiden Gebote bringen das Prinzip der Liebe zum Ausdruck. Weder kann das erste gehalten und das zweite gebrochen, noch das zweite beachtet und das erste übertreten werden. Räumen wir Gott den ihm gebührenden Platz in unserem Herzen ein, erhält auch unser Mitmensch den Platz, der ihm zusteht. Wir werden ihn so lieben, wie wir uns selbst lieben. Nur wenn wir Gott über alles lieben, können wir auch unseren Nächsten unvoreingenommen lieben. Da sämtliche Gebote in der Liebe zu Gott und zum Nächsten zusammengefasst sind, kann kein einziges Gebot übertreten werden, ohne diesen Grundsatz zu verletzen. Christus lehrte seine Zuhörer also, dass Gottes Gesetz nicht aus vielen Einzelvorschriften besteht, von denen einige von großer Wichtigkeit und andere weniger bedeutend sind und somit straflos ignoriert werden können. Unser Herr stellte die ersten vier und die letzten sechs Gebote als ein göttliches Ganzes dar und lehrte, dass sich die Liebe zu Gott im Gehorsam gegenüber allen seinen Geboten zeigt.
Der Schriftgelehrte, der Jesus befragte, kannte sich im Gesetz gut aus und war über diese Worte erstaunt. Er hatte nicht erwartet, dass Jesus ein so tiefes und vollkommenes Wissen über die Schrift bekunden würde. Nun aber war sein Blick für die Prinzipien, die den heiligen Geboten zugrunde liegen, erweitert worden. Vor den versammelten Priestern und Obersten gab er offen zu, dass Christus das Gesetz richtig ausgelegt hatte. Er sagte: »Du hast vollkommen Recht, Lehrer! Es ist so, wie du sagst: Nur einer ist Gott, und es gibt keinen Gott außer ihm. Ihn zu lieben von ganzem Herzen, mit ganzem Verstand und mit aller Kraft und unsere Mitmenschen zu lieben wie uns selbst, das ist viel wichtiger als alle die Brandopfer und anderen Opfer, die wir ihm darbringen.« (Markus 12,32.33 GNB) Die weise Antwort von Christus hatte den Schriftgelehrten überzeugt. Er wusste, dass die Religion der Juden mehr aus äußerlichen Zeremonien als aus innerer Frömmigkeit bestand. Er ahnte, dass bloße zeremonielle Opfer wertlos waren und das Vergießen von Blut keine Sünden tilgen konnte, wenn der Glaube fehlte. Die Liebe zu Gott und der Gehorsam ihm gegenüber sowie eine selbstlose Hinwendung zu den Mitmenschen erschienen ihm wertvoller als all diese Rituale. Die Bereitschaft dieses Mannes, die Richtigkeit der Argumentation von Christus anzuerkennen, und seine entschiedene und prompte Antwort vor allen Anwesenden offenbarten eine Gesinnung, die sich vom Geist der Priester und Obersten deutlich unterschied. Jesus wandte sich voller Erbarmen diesem ehrlichen Schriftgelehrten zu, der es gewagt hatte, den finsteren Blicken der Priester und den Drohungen der Ratsmitglieder entgegenzutreten und seine Herzensüberzeugung auszusprechen. »Jesus sah, mit welcher Einsicht der Mann geantwortet hatte, und sagte zu ihm: ›Du bist nicht weit vom Reich Gottes entfernt.‹« (Markus 12,34a NGÜ) Der Schriftgelehrte war dem Reich Gottes nahe, weil er erkannt hatte, dass Taten der Gerechtigkeit Gott angenehmer sind als Brand und Schlachtopfer, aber er musste noch den göttlichen Charakter von Christus erkennen, um durch den Glauben an ihn die Kraft zu erhalten, die Werke der Gerechtigkeit zu vollbringen. Solange die rituellen Handlungen nicht mit einem lebendigen Glauben an Christus verbunden waren, blieben sie wertlos. Selbst das Moralgesetz verfehlt seinen Zweck, wenn es nicht in seiner Beziehung zum Erlöser verstanden wird. Christus hatte wiederholt darauf hingewiesen, dass das Gesetz seines Vaters mehr umfasste als nur verbindliche Gebote. Das Gesetz verkörpert dasselbe Prinzip, das im Evangelium offenbart wird. Es weist den Menschen auf seine Pflichten hin und zeigt ihm seine Schuld. Doch wer Vergebung erlangen und die Kraft erhalten will, das zu tun, was das Gesetz vorschreibt, muss auf Christus schauen.
Die Pharisäer standen ganz nahe bei Jesus, als er die Frage des Schriftgelehrten beantwortete. Nun wandte er sich an sie und fragte: »Was denkt ihr über den Messias? Wessen Sohn ist er?« (Matthäus 22,42a EÜ) Mit dieser Frage wollte er ihren Glauben an den Messias prüfen. Ihre Antwort sollte zeigen, ob sie ihn nur für einen Menschen oder für den Sohn Gottes hielten. Wie aus einem Mund antworteten sie: »Der Sohn Davids.« (Matthäus 22,42b EÜ) Das war der Titel, den die Propheten dem Messias gegeben hatten. Als Jesus Kranke heilte, Tote auferweckte und die machtvollen Wunder seiner Göttlichkeit offenbarte, hatte sich das Volk gefragt: »Ist er etwa der Sohn Davids?« (Matthäus 12,23b EÜ) Die kanaanäische Frau, der blinde Bartimäus und viele andere hatten ihn mit dem Titel um Hilfe angefleht: »Hab Erbarmen mit mir, Herr, du Sohn Davids!« (Matthäus 15,22b EÜ) Bei seinem Einzug in Jerusalem wurde er mit den Jubelrufen begrüßt: »Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn!« (Matthäus 21,9b) Und die kleinen Kinder im Tempel hatten an jenem Tag diesen Namen freudig wiederholt. Viele aber, die Jesus als Sohn Davids bezeichneten, erkannten seine Göttlichkeit nicht. Sie begriffen nicht, dass Davids Sohn auch der Sohn Gottes war. Als Antwort auf die Aussage der Pharisäer, dass der Messias der Sohn Davids sei, fragte Jesus: »Wie kommt es dann, dass David, geleitet vom Heiligen Geist, ihn ›Herr‹ nennt? David sagt nämlich: ›Der Herr sprach zu meinem Herrn: Setze dich an meine rechte Seite, bis ich deine Feinde unter deine Füße gelegt habe.‹ Wenn der Messias also von David ›Herr‹ genannt wird, wie kann er dann Davids Sohn sein? Keiner konnte ihm darauf eine Antwort geben. Und von diesem Tag an wagte niemand mehr, ihm eine Frage zu stellen.« (Matthäus 22,43-46 NGÜ; vgl. Psalm 110,1)