Zachäus
Lukas 19,1-10
Auf dem Weg nach Jerusalem zog Jesus durch die Stadt Jericho. Sie lag einige Kilometer vom Jordan entfernt am westlichen Rand des Tales, das sich hier zu einer Ebene ausweitete, inmitten von tropischem Grün und üppiger Schönheit. Mit ihren Palmen und fruchtbaren Gärten, die von sprudelnden Quellen bewässert wurden, glänzte sie wie ein Smaragd neben den Kalksteinhügeln und öden Schluchten, die zwischen Jerusalem und der Stadt lagen. Viele Reisegruppen zogen auf ihrem Weg zum Passafest durch Jericho. Ihre Ankunft verbreitete stets eine festliche Stimmung. Doch diesmal bewegte ein Ereignis, das von größerem Interesse war, die Bewohner der Stadt. Man wusste, dass sich der galiläische Rabbi, der erst vor kurzem Lazarus zum Leben auferweckt hatte, unter der Menge befand. Und obwohl sich Gerüchte über die Verschwörung der Priester verbreiteten, war die Menge begierig darauf, ihm die Ehre zu erweisen.
Jericho gehörte zu den Städten, die von alters her den Priestern zugeteilt waren. Zu jener Zeit hatte eine große Anzahl von ihnen dort ihren Wohnsitz. Doch die Bevölkerung dieser Stadt bestand aus ganz unterschiedlichen Menschen. Jericho war ein großes Handelszentrum. Hier lebten römische Beamte und Soldaten zusammen mit Fremden aus den verschiedensten Gegenden. Gleichzeitig machte das Eintreiben des Wegzolls die Stadt zur Heimat für viele Zöllner. »Der oberste Zolleinnehmer« (Lukas 19,2 NGÜ) namens Zachäus war Jude und wurde von seinen Landsleuten verachtet. Seine Stellung und sein Reichtum waren die Belohnung für einen Beruf, den sie verabscheuten und mit Ungerechtigkeit und Erpressung gleichsetzten. Doch dieser reiche Zollbeamte war kein so harter Mann, wie es schien. Hinter seinem weltlichen und stolzen Auftreten verbarg sich ein Herz, das für den göttlichen Einfluss empfänglich war. Zachäus hatte von Jesus gehört. Die Berichte über den Einen, der sich auch gegenüber Menschen aus verpönten Gesellschaftsschichten freundlich und höflich verhielt, hatten sich weit verbreitet. Dieser Oberzöllner sehnte sich nach einem besseren Leben. Nur wenige Kilometer von Jericho entfernt, am Jordan, hatte Johannes der Täufer gepredigt. Zachäus hatte den Aufruf zur Umkehr gehört. Obwohl er der Aufforderung an die Zöllner: »Treibt nicht mehr Steuern ein, als die römische Regierung euch vorschreibt!« (Lukas 3,13b NLB) nach außen hin keine Beachtung schenkte, war sie ihm doch zu Herzen gegangen. Er kannte die heiligen Schriften und war davon überzeugt, dass seine Handlungsweise falsch war. Als er nun die Worte hörte, von denen man sagte, dass sie vom großen Lehrer kamen, fühlte er, dass er in Gottes Augen ein Sünder war. Doch was er von Jesus gehört hatte, weckte Hoffnung in seinem Herzen. Umkehr und Erneuerung des Lebens waren möglich, sogar für ihn. War nicht einer der vertrauenswürdigsten Jünger dieses neuen Lehrers selbst Zöllner? Zachäus begann sofort, seine neu gewonnene Überzeugung in die Tat umzusetzen, und zahlte denen, die er betrogen hatte, ihr Geld zurück. Als in Jericho bekannt wurde, dass Jesus in die Stadt kommen würde, hatte Zachäus bereits begonnen, begangenes Unrecht gutzumachen. Er war fest entschlossen, Jesus zu sehen. Er begann einzusehen, welch bittere Folgen die Sünde mit sich bringt und wie schwierig es ist, auf dem Weg umzukehren, wenn man in die falsche Richtung geht. Als er sich bemühte, seine Fehler zu berichtigen, stieß er auf Misstrauen, wurde falsch verstanden und verdächtigt. Dies zu ertragen, war schwierig. Der Oberzöllner sehnte sich danach, in das Antlitz des Einen zu schauen, dessen Worte ihm neue Hoffnung gegeben hatten. Die Straßen waren überfüllt mit Menschen; und weil Zachäus von kleiner Gestalt war, konnte er nicht über die Köpfe der Menschen hinwegsehen. Niemand würde ihm Platz machen. Darum eilte er der Menge ein wenig voraus zu einem Maulbeerfeigenbaum, dessen Äste weit über den Weg hinausragten. Der reiche Zöllner kletterte auf den Baum und setzte sich auf einen Ast, von dem aus er den Umzug überblicken konnte. Die Menge kam näher und zog langsam unter ihm hindurch. Zachäus überflog die Menge mit erwartungsvollem Blick und versuchte, jene Person zu entdecken, die zu sehen er sich so sehr gewünscht hatte. Trotz all dem Lärm der Priester und Rabbiner und den Willkommensrufen der Menge erreichte der unausgesprochene Wunsch des Oberzöllners das Herz von Jesus. Ganz plötzlich blieb eine Gruppe genau unter dem Maulbeerfeigenbaum stehen. Die Menschen vor und hinter ihr standen still, und Jesus schaute nach oben. Es schien, als blickte er diesem Menschen ins Herz. Der Mann auf dem Baum traute seinen Ohren nicht, als er Jesus sagen hörte: »Zachäus, komm schnell herunter! Ich muss heute in deinem Haus zu Gast sein.« (Lukas 19,5b NGÜ) Die Menge wich zur Seite, und Zachäus machte sich allen voran und wie im Traum auf den Heimweg. Die Rabbiner aber schauten mit finsterem Blick zu und murrten unzufrieden und verächtlich: »Bei einem berüchtigten Sünder kehrt er als Gast ein.« (Lukas 19,7b NLB)
Zachäus war überwältigt, verwundert und sprachlos über die Liebe und Demut von Jesus, der sich ihm, dem Unwürdigen, zuwandte. In Liebe und Ergebenheit seinem neu gefundenen Meister gegenüber brach Zachäus jetzt sein Schweigen. Er wollte sein Geständnis öffentlich ablegen und seine Schuld bekennen. Vor allen Anwesenden stellte er sich »vor den Herrn und sprach: ›Siehe, Herr, die Hälfte von meinem Besitz gebe ich den Armen, und wenn ich jemanden betrogen habe, so gebe ich es vierfach zurück.‹ Jesus aber sprach zu ihm: ›Heute ist diesem Hause Heil widerfahren, denn auch er ist Abrahams Sohn.‹« (Lukas 19,8.9) Als sich der reiche junge Mann von Jesus abgewandt hatte, verwunderten sich die Jünger über die Worte ihres Meisters: »Wie schwer ist es für die, welche ihr Vertrauen auf Reichtum setzen, in das Reich Gottes hineinzukommen!« Sie hatten einander gefragt: »Wer kann dann überhaupt errettet werden?« (Markus 10,24.26 Schl.) Nun hatten sie einen Beweis für die Wahrheit der Antwort von Jesus: »Was bei den Menschen unmöglich ist, das ist bei Gott möglich.« (Lukas 18,27) Sie sahen nun, dass durch Gottes Gnade auch ein Reicher ins Himmelreich kommen konnte. Noch bevor Zachäus Jesus begegnet war, hatte er begonnen, das zu tun, was ihn als wirklich reumütig auszeichnete. Noch bevor er von Menschen beschuldigt wurde, hatte er seine Schuld bekannt. Er hatte sich vom Heiligen Geist überführen lassen und angefangen, die Lehren, die für das alte Israel wie auch für uns niedergeschrieben wurden, in seinem Leben umzusetzen. Lange zuvor hatte Gott gesagt: »Wenn einer deiner israelitischen Landsleute verarmt und nicht mehr für seinen Unterhalt aufkommen kann, dann sollst du ihn – wie einen Ausländer oder Gast – unterstützen, damit er bei euch leben kann. Fordere keine Zinsen oder Aufschläge von ihm, sondern habe Ehrfurcht vor deinem Gott und lass deinen Landsmann bei dir leben. Verleih ihm dein Geld nicht gegen Zinsen und fordere deine Lebensmittel nicht mit einem Aufschlag zurück.« (3. Mose 25,35-37 NLB) – »Du sollst deine Landsleute nicht übervorteilen, sondern Ehrfurcht vor deinem Gott haben.« (3. Mose 25,17 NLB) Verhüllt in der Wolkensäule hatte Christus selbst diese Worte ausgesprochen. Zachäus erwiderte die Liebe von Christus zuallererst dadurch, dass er sich der Armen und Leidenden erbarmte. Unter den Zöllnern gab es eine Vereinbarung, damit sie die Leute unterdrücken und sich gegenseitig in ihren betrügerischen Geschäften unterstützen konnten. Indem sie die Leute erpressten, führten sie nur aus, was schon beinahe zur allgemeinen Gewohnheit geworden war. Selbst die Priester und Rabbiner, die die Zöllner hassten, hatten sich dadurch schuldig gemacht, dass sie sich unter dem Deckmantel ihres heiligen Amtes durch unehrliche Praktiken bereicherten. Doch sobald sich Zachäus dem Einfluss des Heiligen Geistes geöffnet hatte, ließ er von jeder unrechten Handlung ab. Reue ist nur dann aufrichtig, wenn sie zu einer Erneuerung im Denken und Handeln führt. Die Gerechtigkeit von Christus ist nicht wie ein Mantel, mit dem Sünden zugedeckt werden, die weder bekannt noch aufgegeben sind. Sie ist ein Lebensprinzip, das den Charakter umwandelt und das Verhalten lenkt. Heiligkeit bedeutet, ganz auf Gottes Seite zu stehen, sie ist die völlige Übergabe von Herz und Leben, damit die Prinzipien des Himmels in uns Gestalt gewinnen können.
Ein Christ sollte der Welt durch sein Geschäftsleben zeigen, auf welche Art und Weise unser Herr ein wirtschaftliches Unternehmen führen würde. In jeder Geschäftshandlung soll deutlich werden, dass Gott sein Lehrmeister ist. »Heilig dem Herrn« sollte auf seiner Tagesordnung, auf seinen Kontoauszügen, Urkunden, Quittungen und Schecks zu lesen sein. Wer vorgibt, ein Nachfolger von Christus zu sein, aber ungerecht handelt, legt ein falsches Zeugnis vom heiligen, gerechten und barmherzigen Wesen Gottes ab. Jeder bekehrte Mensch wird, wenn er wie Zachäus Christus in sein Herz aufgenommen hat, das unredliche Handeln, das vorher sein Leben bestimmt hat, aufgeben. Er wird wie der Oberzöllner seine Ehrlichkeit dadurch beweisen, dass er alles wieder gutmacht. Gott sagt: Wenn aber der Sünder aufhört »zu sündigen und tut, was recht und gerecht ist, indem er einem Schuldner das Pfand zurückgibt, ersetzt, was er gestohlen hat, sich an mein Gesetz hält, das zum Leben führt, und nichts Böses mehr tut, dann wird er ganz sicher am Leben bleiben und nicht sterben. Keine seiner früheren Sünden wird ihm mehr angerechnet werden, denn er hat getan, was recht und gerecht ist, und soll am Leben bleiben« (Hesekiel 33,14b-16 NLB). Haben wir anderen durch irgendwelche ungerechten Geschäfte Schaden zugefügt, sie übervorteilt oder betrogen, sollten wir – auch wenn wir innerhalb der gesetzlichen Richtlinien gehandelt haben – unser Unrecht bekennen und alles, was in unserer Macht steht, tun, um es wieder gutzumachen. Es ist richtig, wenn wir nicht nur das zurückgeben, was wir genommen haben, sondern auch das, was während der Zeit, in der wir es besessen haben, daraus in einer richtigen und weisen Nutzung hätte gewonnen werden können. Der Erlöser sagte zu Zachäus: »Heute hat dieses Haus Rettung erfahren.« (Lukas 19,9a NLB) Nicht nur Zachäus selbst war gesegnet worden, sondern sein ganzes Haus mit ihm. Christus kehrte bei Zachäus ein, um ihn in der Wahrheit zu unterweisen und alle in seinem Haus über Gottes Reich zu belehren. Sie waren von den Rabbinern und Gottesdienstbesuchern voller Verachtung aus der Synagoge ausgeschlossen worden, aber nun versammelten sie sich als bevorzugteste Hausgemeinschaft von ganz Jericho um den göttlichen Lehrer und hörten mit eigenen Ohren die Worte des Lebens. Wer Jesus Christus als seinen persönlichen Erlöser annimmt, wird Teilhaber des Heils. Zachäus hatte Jesus nicht nur als vorübergehenden Gast in sein Haus aufgenommen, sondern als den, der für immer im Innersten seines Herzens wohnen sollte. Pharisäer und Schriftgelehrte beschuldigten Zachäus, ein Sünder zu sein, und sie tadelten Christus, weil er dessen Gast geworden war. Doch der Erlöser erkannte ihn als einen Sohn Abrahams an, denn »die wahren Kinder Abrahams sind … die, die an Gott glauben« (Galater 3,7 NLB).