Wer ist der Größte?

Wer ist der Größte?

Matthäus 17,22-27; 18,1-20; Markus 9,30-50; Lukas 9,46-48

Als Jesus nach Kapernaum zurückkehrte, begab er sich nicht an die altbekannten Orte, wo er das Volk gelehrt hatte, sondern suchte mit seinen Jüngern unauffällig das Haus auf, in dem er vorübergehend wohnen sollte. In der Zeit, die ihm noch in Galiläa blieb, wollte er sich mehr der Unterweisung seiner Jünger widmen, als unter dem Volk zu wirken. Als sie durch Galiläa zogen, versuchte Jesus erneut, seine Jünger innerlich auf die kommenden Ereignisse vorzubereiten. Er sagte ihnen, dass er nach Jerusalem gehen müsse und dort getötet werde. Doch werde er wieder auferstehen. Dann fügte er hinzu, dass er verraten und an seine Feinde ausgeliefert werden würde. Diese Ankündigung klang seltsam und ernst. Nicht einmal jetzt verstanden die Jünger seine Worte. Obwohl ihr Zusammensein von großen Sorgen überschattet war, begann sich in ihren Herzen ein Geist der Rivalität breitzumachen. Sie stritten darüber, wer im Königreich der Größte sein würde. Weil sie diesen Streit vor Jesus verbergen wollten, gingen sie nicht wie gewöhnlich dicht an seiner Seite, sondern schlenderten hinter ihm her, sodass er vor ihnen in Kapernaum ankam. Jesus aber las ihre Gedanken und sehnte sich danach, sie zu unterweisen und zu beraten. Doch dazu wartete er auf einen ruhigen Moment, an dem ihre Herzen bereit wären, seine Worte aufzunehmen.

Kaum hatten sie die Stadt erreicht, kam ein Mann, der das Tempelgeld einzog, auf sie zu und fragte Petrus: »Zahlt euer Meister keine Tempelsteuer?« (Matthäus 17,24b NLB) Es handelte sich dabei nicht um eine staatliche Steuer, sondern um einen Beitrag, den jeder Jude jährlich für den Unterhalt des Tempels zu bezahlen hatte. Wer sich weigerte, dieses Geld beizusteuern, galt als untreu gegenüber dem Tempel. In den Augen der Rabbiner war dies ein äußerst schweres Vergehen. Die Einstellung des Erlösers gegenüber den rabbinischen Gesetzen und seine deutlichen Zurechtweisungen, die er wiederholt an die Verfechter der jüdischen Tradition richtete, waren der Beweggrund für den Vorwurf, er wolle den gesamten Tempeldienst umstürzen. Nun sahen seine Feinde eine Möglichkeit, ihn in Verruf zu bringen. Im Steuereinnehmer fanden sie einen bereitwilligen Verbündeten. Petrus erkannte in der Frage dieses Mannes eine versteckte Andeutung, welche die Treue von Christus gegenüber dem Tempel anzweifelte. Bestrebt, die Ehre seines Meisters zu verteidigen, antwortete er übereilt und ohne ihn um Rat zu fragen, dass Jesus die Abgabe bezahlen werde. Doch Petrus hatte die Absicht dieser Frage nur teilweise verstanden. Es gab einzelne Gesellschaftsschichten, die von der Zahlung dieser Beiträge ausgenommen waren. In der Zeit von Mose, als die Leviten zum Dienst am Heiligtum berufen wurden, konnten sie nicht wie andere aus dem Volk Land erben. Der Herr hatte gesagt: »Deshalb haben die Leviten keinen Anteil und kein Erbe unter den übrigen israelitischen Stämmen. Der Herr selbst ist ihr Erbteil.« (5. Mose 10,9a NLB) Auch als Christus auf dieser Erde lebte, galten die Priester und Leviten immer noch als besonders geweiht für den Dienst am Heiligtum und mussten darum keine jährlichen Abgaben zur Unterstützung des Tempels entrichten. Auch Propheten waren von diesen Zahlungen ausgenommen. Indem die Rabbiner den Tempelgroschen von Jesus forderten, lehnten sie seinen Anspruch ab, ein Prophet oder Lehrer zu sein, und behandelten ihn wie eine gewöhnliche Person. Hätte er sich geweigert, die Abgabe zu entrichten, wäre ihm dies als Untreue gegenüber dem Tempel ausgelegt worden. Hätte er aber bezahlt, wäre ihre Ablehnung, ihn als Propheten anzuerkennen, gerechtfertigt worden. Kurz zuvor hatte Petrus bestätigt, dass Jesus der Sohn Gottes ist. Nun aber verpasste er eine Möglichkeit, auf das Wesen seines Meisters aufmerksam zu machen. Mit seiner Antwort an den Steuereinnehmer, dass Jesus seine Abgabe bezahlen werde, hatte Petrus die falsche Vorstellung über Jesus, welche die Priester und geistlichen Oberhäupter zu verbreiten suchten, eigentlich unterstützt. Als Petrus das Haus betrat, erwähnte der Erlöser nichts von dem, was vorgefallen war, sondern fragte nur: »Was meinst du, Simon? Von wem nehmen die Könige auf Erden Zoll oder Steuern: von ihren Kindern oder von den Fremden?« Petrus antwortete: »Von den Fremden.« Jesus entgegnete ihm: »So sind die Kinder frei.« (Matthäus 17,25b.26) Während die Bürger eines Landes Steuern für den Unterhalt ihres Königs entrichten mussten, waren die Kinder des Monarchen davon ausgenommen. So war es auch in Israel. Das Volk, das sich zu Gott bekannte, war verpflichtet, den Tempeldienst zu unterstützen. Jesus aber, der Sohn Gottes, war dem nicht unterworfen. Die Priester und Leviten waren aufgrund ihrer Verbindung zum Tempel von der Steuer ausgenommen – wie viel mehr erst Jesus, für den der Tempel das Haus seines Vaters war. Hätte Jesus die Abgabe stillschweigend bezahlt, hätte er gewissermaßen die Richtigkeit dieser Forderung anerkannt und dadurch seine Göttlichkeit verleugnet. Während er es einerseits für gut befand, dieser Forderung nachzukommen, bestritt er andererseits den Anspruch, auf dem sie beruhte. Durch die Art und Weise, wie er den Steuerbetrag bereitstellte, bewies er seine göttliche Natur. Es wurde offenbar, dass er eins mit Gott war. Darum stand er nicht wie ein gewöhnlicher Bürger des Königreichs unter der Steuerpflicht. Jesus forderte Petrus auf: »Damit wir ihnen aber keinen Anstoß geben, geh an den See und wirf die Angel aus. Nimm den ersten Fisch, den du fängst, und öffne ihm das Maul. Du wirst darin ein Vierdrachmenstück finden. Nimm es und bezahle damit die Tempelsteuer für mich und für dich!« (Matthäus 17,27 NGÜ) Obwohl Jesus seine Göttlichkeit mit der menschlichen Gestalt umhüllt hatte, offenbarte er durch dieses Wunder seine Herrlichkeit. Es war offensichtlich, dass er derjenige war, der durch David erklärt hatte: »Alles Wild im Wald ist mein und die Tiere auf den Bergen zu Tausenden. Ich kenne alle Vögel auf den Bergen; und was sich regt auf dem Feld, ist mein. Wenn mich hungerte, wollte ich dir nicht davon sagen; denn der Erdkreis ist mein und alles, was darauf ist.« (Psalm 50,10-12) Während Jesus deutlich machte, dass er keiner Zahlungspflicht unterlag, begann er nicht mit den Juden darüber zu streiten, weil sie seine Worte falsch ausgelegt und gegen ihn verwendet hätten. Um niemanden durch eine Zahlungsverweigerung zu beleidigen, tat er das, was von Rechts wegen nicht von ihm verlangt werden konnte. Dies sollte zudem für seine Jünger eine wertvolle Lehre sein. Denn schon bald würde es außerordentliche Veränderungen im Zusammenhang mit dem Tempeldienst geben. Darum riet ihnen Christus, sich nicht unnötigerweise gegen die bestehende Ordnung aufzulehnen. Sie sollten es möglichst vermeiden, irgendeinen Anlass zu geben, durch den ihr Glaube falsch dargestellt werden konnte. Obwohl Christen keinen einzigen Grundsatz der Wahrheit aufgeben dürfen, sollten sie dennoch möglichst jeder Auseinandersetzung aus dem Weg gehen.

Als Petrus zum See gegangen war und sich Jesus mit den anderen Jüngern allein im Haus befand, rief er sie zusammen und fragte sie: »Was habt ihr auf dem Weg verhandelt?« (Markus 9,33b) Die Anwesenheit von Jesus und seine Frage stellten die Angelegenheit, über die sie vorher auf dem Weg miteinander gestritten hatten, in ein völlig anderes Licht. Weil sie sich schämten und schuldig fühlten, schwiegen sie. Jesus hatte ihnen mitgeteilt, dass er um ihretwillen sterben werde. Ihr selbstsüchtiges Streben stand nun in schmerzlichem Gegensatz zu seiner selbstlosen Liebe. Als ihnen Jesus von seinem Tod und seiner Auferstehung erzählte, versuchte er im Hinblick auf ihre große Glaubensprüfung mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Wenn sie bereit gewesen wären, das zu hören, was er ihnen mitteilen wollte, wären ihnen bittere Angst und Verzweiflung erspart geblieben. Seine Worte hätten sie in der Stunde der Trauer und Enttäuschung getröstet. Obwohl er ihnen so deutlich gesagt hatte, was ihn erwartete, hatte die Bemerkung über seine bevorstehende Reise nach Jerusalem erneut ihre Hoffnung geweckt, dass das Reich nun bald aufgerichtet werden würde. Dies hatte dazu geführt, dass sie sich fragten, wer wohl das höchste Amt bekleiden würde. Als Petrus vom See zurückkehrte, erzählten ihm die Jünger, was der Erlöser sie gefragt hatte. Schließlich wagte einer von ihnen Jesus zu fragen: »Wer ist der Größte im Himmelreich?« (Matthäus 18,1b NLB) Jesus versammelte seine Jünger um sich und erwiderte: »Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.« (Markus 9,35 EÜ) Diese Worte klangen ernst und eindringlich, doch die Jünger verstanden sie überhaupt nicht. Das, was Christus wahrnahm, konnten sie nicht sehen. Sie verstanden das Wesen seines Reiches nicht, und diese Unkenntnis war offenbar der Grund für ihren Streit. Doch die eigentliche Ursache lag tiefer. Dadurch, dass Christus ihnen das Wesen seines Reiches erklärte, konnte er ihren Streit vorübergehend schlichten. Doch damit war das Grundproblem nicht gelöst. Selbst als sie über alles Bescheid wussten, hätte die Frage nach der Rangordnung den Streit jederzeit neu entfachen können. Dadurch wäre nach dem Weggang von Christus Unheil über die Gemeinde gekommen. Im Streit um den ersten Platz offenbarte sich derselbe Geist, der den großen Kampf im Himmel begonnen und auch Christus zum Sterben auf die Erde gebracht hatte. Im Geist sah Jesus Luzifer vor sich, den »schönen Morgenstern« (Jesaja 14,12), der an Herrlichkeit alle Engel überstrahlte, die den Thron Gottes umgaben, und der eine tiefe Verbundenheit mit dem Sohn Gottes pflegte. Luzifer hatte gesagt: »Ich will … gleich sein dem Allerhöchsten.« (Jesaja 14,14) Dieser Wunsch nach Selbsterhöhung hatte den Streit im Himmel ausgelöst und viele der Heerscharen Gottes aus seiner Gegenwart verbannt. Hätte Luzifer wirklich dem Allerhöchsten gleich sein wollen, hätte er nie den ihm zugewiesenen Platz verlassen, weil sich das Wesen des Allerhöchsten in selbstlosem Dienst offenbart. Luzifer wünschte sich zwar Gottes Macht, aber nicht dessen Charakter. Für sich selbst suchte er den höchsten Platz aus. Jedes Lebewesen, das von seinem Geist getrieben ist, wird dasselbe tun. Dadurch werden Entfremdung, Unfriede und Streit unvermeidbar. Die Herrschaft fällt dem Stärksten zu. Das Reich Satans ist ein Reich der Gewalt. Jeder sieht im Anderen ein Hindernis für sein eigenes Vorankommen oder ein Sprungbrett, um selbst eine höhere Stellung zu erreichen. Während Luzifer es für erstrebenswert hielt, Gott gleich zu sein, entäußerte sich Christus, der Erhöhte, »und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz« (Philipper 2,7b.8 EÜ). Nun stand das Kreuz unmittelbar vor ihm, und seine eigenen Jünger waren so selbstsüchtig, was genau den Prinzipien des satanischen Reiches entsprach. So konnten sie weder mit ihrem Herrn mitempfinden noch ihn verstehen, als er von seiner Erniedrigung um ihretwillen sprach. Überaus sanft, aber mit ernstem Nachdruck, versuchte Jesus das Übel zu beheben. Er zeigte den Jüngern, welches Prinzip im Himmelreich herrscht und worin nach himmlischem Maßstab wahre Größe besteht. Jene, die von Stolz und Ehrsucht getrieben werden, denken nur an sich selbst und an ihren vermeintlichen Lohn. Sie fragen nicht danach, wie sie Gott die verliehenen Gaben zurückerstatten könnten. Solche Menschen werden keinen Platz im himmlischen Reich haben, weil sie sich damit als Satans Anhänger ausweisen. Der Ehre geht die Demut voraus. Der Himmel wählt denjenigen für ein hohes Amt vor den Menschen, der sich, wie Johannes der Täufer, vor Gott erniedrigt. Der Jünger, der einem Kind am ähnlichsten ist, kann für Gott am erfolgreichsten wirken. Die himmlischen Wesen können mit demjenigen zusammenarbeiten, der nicht danach strebt, sich selbst zu erhöhen, sondern Menschen zu retten. Wer die Abhängigkeit von der göttlichen Hilfe am stärksten verspürt, wird inständig darum bitten, und der Heilige Geist wird dessen Augen öffnen, damit er Jesus erkennen kann und dadurch erbaut wird. Gestärkt durch die Gemeinschaft mit Christus wird er vorangehen, um für die Menschen zu wirken, die in ihren Sünden zugrunde gehen. Er ist zu diesem Dienst berufen und erreicht sein Ziel, wo viele Gelehrte und intellektuell Gebildete scheitern. Aber bei jenen Menschen, die sich selbst erhöhen und meinen, dass der große göttliche Plan ohne sie nicht gelingen könne, sorgt der Herr dafür, dass sie beiseite gesetzt werden. Dann wird deutlich, dass Gott nicht von ihnen abhängig ist. Das Werk wird durch ihr Ausscheiden nicht aufgehalten, sondern mit noch größerer Kraft vorangehen.

Für die Jünger reichte es nicht aus, dass sie von Jesus über das Wesen seines Reiches unterrichtet wurden. Was sie benötigten, war eine Veränderung ihres Herzens. Das würde sie mit den Prinzipien seines Reiches in Einklang bringen. Darum rief Jesus ein kleines Kind zu sich, stellte es mitten unter sie, nahm es liebevoll in seine Arme und sagte: »Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.« (Matthäus 18,3) Die Einfachheit, Selbstvergessenheit und vertrauensvolle Liebe eines kleinen Kindes sind Eigenschaften, die der Himmel wertschätzt. Dies sind Merkmale wahrer Größe. Erneut erklärte Jesus den Jüngern, dass sein Reich nicht von irdischer Würde und Zurschaustellung geprägt ist. Zu seinen Füßen waren all diese Unterschiede vergessen. Reiche und Arme, Gelehrte und Ungebildete kamen hier zusammen, ohne an Gesellschaftsschichten oder weltliche Vorrangstellungen zu denken. Alle versammelten sich hier als Menschen, die durch das Blut von Jesus freigekauft wurden und gleichermaßen von dem Einen, der sie für Gott erlöst hat, abhängig waren. In Gottes Augen ist der aufrichtige und reumütige Mensch kostbar. Er drückt den Menschen sein Siegel nicht aufgrund ihrer Stellung, ihres Reichtums oder ihrer Geisteskraft auf, sondern weil sie Christus angehören. Der Herr der Herrlichkeit ist mit denen zufrieden, die von Herzen sanftmütig und demütig sind. David sagte: »Du gabst mir den Schild deines Heils … deine Herabneigung [Demut]« – als ein Element des menschlichen Charakters – »machte mich groß.« (Psalm 18,36 Elb.) »Wer dieses Kind aufnimmt in meinem Namen«, sagte Jesus, »der nimmt mich auf; und wer mich aufnimmt, der nimmt den auf, der mich gesandt hat.« (Lukas 9,48a) »So spricht der Herr: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße! … Ich sehe aber auf den Elenden und auf den, der zerbrochenen Geistes ist und der erzittert vor meinem Wort.« (Jesaja 66,1.2)

Durch die Worte des Erlösers begannen sich die Jünger zu hinterfragen. Jesus hatte mit seiner Antwort nicht einen von ihnen direkt gemeint. Dennoch veranlasste sie Johannes zur Frage, ob er in einem bestimmten Fall richtig gehandelt hatte. Mit dem Gemüt eines Kindes brachte er sein Anliegen vor Jesus: »Meister, wir sahen einen, der trieb böse Geister in deinem Namen aus, und wir verboten‘s ihm, weil er uns nicht nachfolgt.« (Markus 9,38) Jakobus und Johannes glaubten für die Ehre ihres Herrn einzutreten, als sie diesem Mann Einhalt geboten. Sie begannen jedoch zu erkennen, dass sie für sich selbst eiferten. Sie bekannten ihren Fehler und nahmen den Tadel von Jesus an: »Ihr sollt‘s ihm nicht verbieten. Denn niemand, der ein Wunder tut in meinem Namen, kann so bald übel von mir reden.« (Markus 9,39) Niemand, der Jesus in irgendeiner Weise freundlich begegnete, sollte abgewiesen werden. Es gab viele, die durch das Wesen und Wirken von Christus tief bewegt wurden und ihm im Glauben ihre Herzen öffneten. Weil die Jünger aber die Beweggründe dieser Menschen nicht erkennen konnten, mussten sie vorsichtig sein, dass sie sie nicht entmutigten. Wenn Jesus einmal nicht mehr persönlich unter ihnen weilen würde und das Werk in ihren Händen lag, durften sie keinem engherzigen oder kleinlichen Geist nachgeben, sondern sollten dasselbe tiefe Mitgefühl aufbringen, wie sie es bei ihrem Meister gesehen hatten. Wenn jemand nicht in allen Dingen unseren eigenen Vorstellungen und Meinungen entspricht, berechtigt uns dies nicht, ihm das Wirken für Gott zu verbieten. Christus ist der große Lehrer. Es steht uns nicht zu, zu verurteilen oder zu befehlen. Jeder soll in Demut zu den Füßen des Herrn sitzen und von ihm lernen. Jeder Mensch, den Gott willig gemacht hat, ist ein Werkzeug, durch welches Christus seine vergebende Liebe offenbaren wird. Wir sollten deshalb sehr vorsichtig sein, damit wir keinen Menschen, der Gottes Licht weitergibt, entmutigen und die Strahlen, mit denen er die Welt erleuchten möchte, unterbrochen werden! Wer als Jünger einem Menschen, den Jesus zu sich zieht, mit Härte oder Lieblosigkeit begegnet – so wie einst Johannes, der jemandem verbot, im Namen von Jesus Wunder zu tun – kann dazu beitragen, dass sich der Zurückgewiesene auf Satans Wege begibt und letztlich verloren geht. Wenn jemand so etwas tut, sagte Jesus, »für den wäre es besser, wenn ein Mühlstein um seinen Hals gelegt und er ins Meer geworfen würde«. Und er fügte hinzu: »Wenn deine Hand dir Anlass zur Sünde gibt, so haue sie ab! Es ist besser für dich, als Krüppel in das Leben hineinzugehen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das unauslöschliche Feuer. Und wenn dein Fuß dir Anlass zur Sünde gibt, so haue ihn ab! Es ist besser für dich, lahm in das Leben hineinzugehen, als mit zwei Füßen in die Hölle geworfen zu werden.« (Markus 9,42b-45 Elb.) Warum diese ernsten Worte, die nicht deutlicher hätten sein können? Weil »der Menschensohn … gekommen [ist], um Verlorene zu suchen und zu retten« (Lukas 19,10 NLB). Sollten sich seine Jünger weniger um ihre Mitmenschen kümmern als der Herrscher des Himmels? Für jeden Menschen wurde ein unendlich hoher Preis bezahlt. Wie schrecklich ist da die Sünde, einen Menschen von Christus wegzuführen, sodass für ihn die Liebe, die Erniedrigung und der Todeskampf des Erlösers vergeblich waren! 

»Wehe der Welt der Verführungen wegen! Denn es ist notwendig, dass Verführungen kommen.« (Matthäus 18,7a Elb.) Die Welt, von Satan beeinflusst, wird zweifellos die Nachfolger von Christus bekämpfen und versuchen, deren Glauben zu zerstören. Aber wehe dem, der den Namen von Christus angenommen hat, daneben aber Satans Werk ausführt! Unser Herr wird durch jene entehrt, die behaupten, ihm zu dienen, seinen Charakter jedoch falsch darstellen. Dadurch werden Menschen scharenweise getäuscht und irregeführt. Es wäre besser – wie groß das Opfer auch sein mag – jede Gewohnheit oder Handlung, die zur Sünde führt und Christus entehrt, abzulegen. Was Gott entehrt, kann dem Menschen nicht von Nutzen sein. Wer die ewigen Grundsätze des Rechts übertritt, kann keinen Anteil an den Segnungen des Himmels haben. Eine Sünde, die gehegt wird, genügt, um dem Charakter zu schaden und andere irrezuleiten. Müssten Hand oder Fuß abgeschlagen oder gar das Auge ausgerissen werden, um den Körper vor dem Tod zu erretten, wie viel mehr sollten wir da die Sünde aufgeben, welche die Seele tötet! (Vgl. Matthäus 5,29.30) 

Bei den rituellen Handlungen im Tempel wurde jedem Opfer Salz beigefügt. Dies wie auch das Darbringen von Weihrauch bedeutete, dass nur die Gerechtigkeit von Christus diesen Dienst vor Gott angenehm machen konnte. Darauf bezog sich Christus, als er sagte: »Zu jeder Opfergabe gehört das Salz … Zeigt, dass ihr die Kraft des Salzes in euch habt: Haltet Frieden untereinander!« (Markus 9,49.50 GNB) Alle, die sich selbst als ein »Opfer [darbringen], das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist«, (Römer 12,1b), müssen das rettende Salz erhalten – nämlich die Gerechtigkeit unseres Erlösers. Dann erst werden sie zum »Salz der Erde« (Matthäus 5,13a). Sie halten das Böse unter den Menschen zurück, so wie das Salz vor dem Verderben schützt. »Wenn nun das Salz nicht mehr salzt« (Matthäus 5,13b), wenn es nur noch ein Bekenntnis zur Frömmigkeit ist, ohne die christliche Liebe, dann fehlt auch die Kraft, Gutes zu tun. Solch ein Leben kann keinen rettenden Einfluss mehr auf die Welt ausüben. Eure Kraft und euer Leistungsvermögen beim Aufbau meines Reiches, sagte Jesus, hängen davon ab, ob ihr meinen Geist empfangt. Ihr müsst an meiner Gnade teilhaben, um »ein Geruch, der auf das Leben hinweist und zum Leben führt«, zu sein (2. Korinther 2,16b NGÜ). Dann wird es keine Rivalität, keine Selbstsucht und kein ehrgeiziges Streben nach der höchsten Stellung mehr geben. Dann werdet ihr mit jener Liebe erfüllt sein, die nicht das Ihre sucht, sondern das Wohl des anderen. Ermutigt den reumütigen Sünder, auf »Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt« (Johannes 1,29b), zu schauen, denn durch Anschauen wird er verändert. Seine Angst wird sich in Freude und sein Zweifeln in Hoffnung verwandeln. Er wird mit Dankbarkeit erfüllt, und sein steinernes Herz wird aufgebrochen werden. Liebe wird ihn durchströmen. Christus lebt in ihm als Quelle lebendigen Wassers, das ins ewige Leben quillt (vgl. Johannes 4,14). Sehen wir auf Jesus, einen »Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut« (Jesaja 53,3b Elb.), der sich hingab, um die Verlorenen zu retten, der beleidigt, verachtet, verspottet und von Stadt zu Stadt getrieben wurde, bis sein Auftrag erfüllt war! Betrachten wir ihn in Gethsemane, wo er große Blutstropfen schwitzte, und am Kreuz, als er qualvoll starb. Wenn wir all das sehen, schreit unser Ich nicht länger nach Anerkennung. Wenn wir auf Jesus schauen, werden wir uns wegen unserer Gleichgültigkeit, Trägheit und Selbstsucht schämen. Wir sollen bereit sein, alles oder nichts zu sein, damit wir uns von ganzem Herzen für unseren Herrn einsetzen können. Mit Freuden sollen wir das Kreuz auf uns nehmen, Jesus nachfolgen und seinetwegen Versuchung, Schande und Verfolgung ertragen. »Wir aber, die Starken, sind verpflichtet, die Schwachheiten der Kraftlosen zu tragen und nicht uns selbst zu gefallen.« (Römer 15,1 Elb.) Niemand, der an Christus glaubt, darf gering geachtet werden, mag sein Glaube auch schwach sein und mögen seine Schritte wie die eines kleinen Kindes wanken. Alles, was uns einen Vorteil vor anderen verschafft, sei es Erziehung, Bildung, Charakterstärke, christliche Belehrung oder religiöse Erfahrung, verpflichtet uns dazu, den weniger Bevorzugten, soweit es in unserer Macht steht, zu dienen. Sind wir stark, dann sollen wir die Hände der Schwachen stützen. Prächtige Engel, die »allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel« sehen, freuen sich, diesen Kleinen zu dienen (Matthäus 18,10). Schwache Menschen, die viele störende Wesenszüge aufweisen, stehen unter ihrer besonderen Obhut. Engel sind immer dort zugegen, wo sie am dringendsten gebraucht werden. Sie begleiten jene, die am härtesten gegen ihr eigenes Ich zu kämpfen haben, und sind bei jenen, deren Umgebung am meisten entmutigend ist. Die wahren Nachfolger von Christus werden in diesem Dienst mitarbeiten.

Wenn jemand von diesen Kleinen überwunden wird und dir gegenüber ein Unrecht begeht, dann ist es deine Aufgabe, ihm wieder aufzuhelfen. Warte nicht, bis er den ersten Schritt zur Versöhnung macht. »Was meint ihr?«, fragte Jesus. »Wenn ein Mensch hundert Schafe hätte und eins unter ihnen sich verirrte: Lässt er nicht die 99 auf den Bergen, geht hin und sucht das verirrte? Und wenn es geschieht, dass er es findet, wahrlich, ich sage euch: Er freut sich darüber mehr als über die 99, die sich nicht verirrt haben. So ist es auch nicht der Wille bei eurem Vater im Himmel, dass auch nur eines von diesen Kleinen verloren werde.« (Matthäus 18,12-14) Geh in Sanftmut zu dem, der an dir gefehlt hat, und achte darauf, »dass du nicht auch versucht« wirst (Galater 6,1b), und »weise ihn zurecht zwischen dir und ihm allein« (Matthäus 18,15b). Stell ihn nicht bloß, indem du seine Fehler anderen erzählst. Entehre nicht Christus dadurch, dass du die Sünde oder den Fehler eines Gotteskindes an die Öffentlichkeit trägst. Oft muss einem Irrenden die Wahrheit deutlich gesagt werden, damit er seinen Fehler einsieht und sich ändern kann. Du darfst aber nicht jemanden richten oder verurteilen. Versuche nicht, dich selbst zu rechtfertigen, sondern setze dich mit aller Kraft für seine Besserung ein. Seelische Wunden müssen besonders behutsam und mit äußerstem Feingefühl behandelt werden. Nur die Liebe, die von dem ausgeht, der auf Golgatha litt, kann hier helfen. Wir sollten in großem Erbarmen miteinander umgehen, denn ihr »sollt wissen: Wer einen Sünder, der auf Irrwegen ist, zur Umkehr bewegt, der rettet ihn vor dem Tod und deckt viele Sünden zu« (Jakobus 5,20 EÜ). Doch auch dieses Bemühen könnte vergeblich sein. Dann sagte Jesus: »Nimm noch einen oder zwei zu dir, damit jede Sache durch den Mund von zwei oder drei Zeugen bestätigt werde.« (Matthäus 18,16b) Es kann sein, dass es gelingt, sich da, wo ein Einzelner erfolglos ist, mit vereinten Kräften durchzusetzen. Wer nicht Teil der Auseinandersetzung ist, wird eher unparteiisch handeln. Und dies wird ihrem Rat an den Irrenden mehr Gewicht verleihen. Will er auch sie nicht hören, dann, und erst dann, soll die Angelegenheit allen Gläubigen vorgelegt werden. Die Glieder der Gemeinde, als Repräsentanten von Christus, sollen gemeinsam beten und liebevoll darum flehen, dass der Schuldige wieder zurückgewonnen werden kann. Der Heilige Geist wird durch seine Diener reden und Fürsprache einlegen, damit der verirrte Mensch zu Gott zurückkehrt. Der Apostel Paulus schrieb, erleuchtet vom Heiligen Geist: »Gott selbst ist es, der die Menschen durch uns zur Umkehr ruft. Wir bitten im Namen von Christus: Nehmt die Versöhnung an, die Gott euch anbietet!« (2. Korinther 5,20 NGÜ) Wer dieses gemeinsam erarbeitete Angebot ablehnt, bricht die Verbindung zu Christus ab und schließt sich dadurch von der Gemeinschaft der Gläubigen aus. Künftig, so sagte Christus, »sei er für dich wie ein Heide und Zöllner« (Matthäus 18,17b). Man sollte aber nicht denken, er sei nun von der Gnade Gottes ausgeschlossen. Seine bisherigen Glaubensgeschwister sollen ihn nicht hassen oder außer Acht lassen, sondern ihn gütig und barmherzig behandeln, weil er eines der verlorenen Schafe ist, die Christus immer noch zu seiner Herde zurückzubringen versucht. Die Anweisung von Christus über den Umgang mit irrenden Menschen wiederholt in noch deutlicherer Weise, was Gott die Israeliten durch Mose gelehrt hatte: »Du sollst deinen Bruder nicht hassen in deinem Herzen, sondern du sollst deinen Nächsten zurechtweisen, damit du nicht seinetwegen Schuld auf dich lädst.« (3. Mose 19,17) Das heißt: Vernachlässigt jemand die Pflicht, die uns Christus auferlegt hat, nämlich Menschen aus Irrtum und Sünde zurückzuführen, so wird er an ihrer Sünde schuldig werden. Für Sünden, die wir hätten verhindern können, sind wir genauso verantwortlich, als hätten wir sie selbst begangen. Wir sollen jedoch das Unrecht dem Übeltäter selbst vorlegen und die Sache nicht zu einem Gegenstand des Geschwätzes oder der Kritik untereinander werden lassen. Selbst dann, wenn die Angelegenheit bereits der Gemeinde vorgelegt wurde, sind wir nicht frei, anderen davon zu erzählen. Über die Fehler der Christen Bescheid zu wissen, bedeutet für Ungläubige ein Hindernis. Wenn wir bei diesen Dingen verweilen, nehmen wir selbst Schaden, denn durch Anschauen werden wir verändert. Während wir versuchen, das Fehlverhalten eines Bruders zu bereinigen, wird uns der Geist des Herrn dahin leiten, dass wir den Betreffenden soweit wie möglich sogar vor dem Tadel seiner Glaubensgeschwister und noch viel mehr vor jenem der Ungläubigen schützen. Auch wir irren und brauchen die Barmherzigkeit und Vergebung von Christus. So, wie wir uns wünschen, dass Jesus uns behandelt, sollen auch wir miteinander umgehen. »Was ihr auf Erden binden werdet, soll auch im Himmel gebunden sein, und was ihr auf Erden lösen werdet, soll auch im Himmel gelöst sein.« (Matthäus 18,18) Ihr handelt wie Botschafter des Himmels. Die Folgen eures Handelns reichen bis in die Ewigkeit. Diese große Verantwortung müssen wir jedoch nicht alleine tragen. Wo immer man seinem Wort mit aufrichtigem Herzen gehorcht, wohnt Christus. Er ist nicht nur gegenwärtig, wenn sich seine Gemeinde versammelt. Wo immer Gläubige in seinem Namen Zusammenkommen – wie wenige es auch sein mögen – wird er unter ihnen sein. Und er versprach: »Wenn zwei von euch hier auf der Erde darin eins werden, eine Bitte an Gott zu richten, dann wird mein Vater im Himmel diese Bitte erfüllen.« (Matthäus 18,19 NLB) Jesus sagte: »Mein Vater im Himmel«, weil er seine Jünger daran erinnern wollte, dass er zwar durch sein Menschsein mit ihnen verbunden war, an ihren Prüfungen Anteil nahm und ihr Leiden nachempfinden konnte, doch durch seine Göttlichkeit war er zugleich mit dem Thron des Unendlichen verbunden. Welch eine großartige Gewissheit! Die himmlischen Wesen verbinden sich voller Mitgefühl mit den Menschen, um sich mit ihnen für die Errettung der Verlorenen einzusetzen. So verbindet sich die ganze Macht des Himmels mit dem menschlichen Vermögen, Verlorene für Christus zu gewinnen. 

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