Die Gemeinde auf dem Felsen
Matthäus 16,13-28; Markus 8,27-38; Lukas 9,18-27
Der Dienst von Christus auf Erden näherte sich schnell seinem Ende. Klar umrissen lagen die Ereignisse vor ihm, denen er entgegenging. Bereits bevor er die menschliche Natur angenommen hatte, konnte er die ganze Wegstrecke überblicken, die er gehen musste, um zu retten, was verloren war. Er wusste um jeden Schmerz, der ihm das Herz brechen, um alle Beleidigungen, mit denen man ihn überhäufen würde und um jede Entbehrung, die er ertragen müsste. Dies alles hatte er vorausgesehen, noch ehe er seine Krone und sein königliches Gewand ablegte und den himmlischen Thron verließ, um seine Gottheit mit der menschlichen Natur zu bekleiden. Er sah den Weg von der Krippe bis nach Golgatha vor sich. Er wusste um das Leid, das über ihn kommen würde. Er wusste das alles, und dennoch sagte er: »Siehe, ich komme; im Buch ist von mir geschrieben: Deinen Willen, mein Gott, tue ich gern, und dein Gesetz habe ich in meinem Herzen.« (Psalm 40,8.9)
Jesus hatte den Erfolg seiner Sendung stets vor Augen. Obschon sein irdisches Leben voller Mühe und Selbstaufopferung war, wurde er durch die Aussicht ermutigt, dass sein Werk nicht vergeblich sein werde. Indem er sein Leben für das Leben der Menschen gab, würde er die Welt wieder für die Treue zu Gott gewinnen. Obwohl er zuerst die Bluttaufe empfangen und die Sündenlast der Welt ohne eigenes Verschulden tragen musste, und obwohl der Schatten eines unsäglichen Leides auf ihm lag, entschied er sich dafür, »den Tod der Schande am Kreuz zu sterben, weil er wusste, welche Freude ihn danach erwartete« (Hebräer 12,2b NLB). Den auserwählten Jüngern, die in seinem Dienst standen, waren die kommenden Ereignisse noch verborgen, doch die Zeit war nahe, da sie seinen Todeskampf mitansehen mussten. Sie würden erleben, wie er, den sie liebten und dem sie vertrauten, in die Hände seiner Feinde ausgeliefert und ans Kreuz von Golgatha geschlagen wird. Bald würde er sie verlassen, und sie mussten ohne den Trost seiner Gegenwart der Welt entgegentreten. Jesus wusste, wie bitterer Hass und Unglaube sie quälen würden. Darum wollte er sie auf diese Prüfungen vorbereiten. Jesus und seine Jünger kamen in eine Stadt in der Nähe von Cäsarea Philippi. Diese lag außerhalb von Galiläa, in einer Gegend, in der man Götzendienst trieb. Hier waren die Jünger dem herrschenden Einfluss des Judentums nicht ausgesetzt und kamen in engeren Kontakt mit dem heidnischen Kult. Sie waren von verschiedenen Arten des Aberglaubens umgeben, die es in allen Teilen der Welt gab. Jesus wünschte sich, dass die Jünger durch diese Begegnung ihre Verantwortung den Heiden gegenüber spüren sollten. Während ihres Aufenthalts in dieser Gegend versuchte er, sich von seinem öffentlichen Dienst an den Menschen zurückzuziehen und sich ganz seinen Jüngern zu widmen. Er wollte sie auf die Leiden vorbereiten, die ihn erwarteten. Aber zuerst zog er sich allein zurück und betete, dass ihr Herz bereit sein möge, seine Worte aufzunehmen. Als er zu ihnen zurückkehrte, teilte er ihnen nicht sofort mit, was er auf dem Herzen hatte. Zuerst wollte er ihnen die Gelegenheit geben, ihren Glauben an ihn zu bekennen, damit sie für die kommende Prüfung gestärkt wären. Er fragte sie: »Für wen halten die Leute den Menschensohn?« (Matthäus 16,13b EÜ) Traurig mussten die Jünger eingestehen, dass Israel seinen Messias nicht erkannt hatte. Wohl hatten ihn einige, als sie seine Wunder sahen, als Davids Sohn bezeichnet. Auch wollte ihn die Menge, deren Hunger er in der Nähe von Betsaida gestillt hatte, zum König von Israel ausrufen. Manche waren bereit, ihn als Propheten anzuerkennen, doch sie glaubten nicht, dass er der Messias war.
Jesus stellte ihnen nun eine weitere Frage: »Ihr aber, für wen haltet ihr mich? Simon Petrus antwortete: Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Matthäus 16,15.16 EÜ) Petrus hatte von Anfang an geglaubt, dass Jesus der Messias war. Viele andere, die durch die Predigt des Täufers überzeugt worden waren und Christus angenommen hatten, begannen an der Sendung des Johannes zu zweifeln, als dieser eingekerkert und hingerichtet wurde. Und nun bezweifelten sie, dass Jesus der Messias war, nachdem sie schon so lange nach ihm Ausschau gehalten hatten. Viele Jünger, die begeistert darauf gewartet hatten, dass Jesus den Thron Davids besteigen würde, verließen ihn, als sie merkten, dass er dies gar nicht vorhatte. Nur Petrus und seine Begleiter blieben Jesus treu. Der Wankelmut derer, die ihn gestern gepriesen hatten und heute verdammten, konnte den Glauben eines wahren Nachfolgers von Jesus nicht zerstören. Petrus erklärte: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Matthäus 16,16 EÜ) Er wartete nicht darauf, bis sein Herr mit königlichen Ehren gekrönt wurde, sondern nahm ihn in seiner Niedrigkeit an. Petrus bekundete den Glauben der Zwölf. Trotzdem waren die Jünger noch weit davon entfernt, die Aufgabe von Christus zu verstehen. Obwohl der Widerstand und die Unterstellungen der Priester und Würdenträger sie nicht von Christus trennen konnten, wurden sie dennoch sehr verunsichert. Die Jünger konnten ihren Weg nicht deutlich erkennen. Der Einfluss ihrer früheren Erziehung, die Lehren der Rabbiner und die Macht der Tradition trübten immer noch ihren Blick für die Wahrheit. Von Zeit zu Zeit erhellten kostbare Strahlen des Lichts, das von Jesus ausging, ihren Weg. Oft aber waren sie wie Menschen, die im Dunkeln tappen. Doch an diesem Tag, als sie noch vor ihrer großen Glaubensprüfung standen, ruhte die Kraft des Heiligen Geistes auf ihnen. Für kurze Zeit waren ihre Augen vom »Sichtbaren« abgewandt, um das »Unsichtbare« zu schauen (vgl. 2. Korinther 4,18). Hinter seiner menschlichen Gestalt erkannten sie die Herrlichkeit des Sohnes Gottes. Jesus antwortete Petrus und sprach: »Glücklich bist du zu preisen, Simon, Sohn des Jona; denn nicht menschliche Klugheit hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel.« (Matthäus 16,17 NGÜ) Die Wahrheit, zu der sich Petrus hier bekannte, ist die Glaubensgrundlage der Christen. Jesus selbst erklärte, dass darin das ewige Leben bestehe. Doch diese Erkenntnis war kein Grund, sich selbst zu rühmen. Sie wurde Petrus nicht durch eigene Weisheit oder Güte offenbart. Menschen können niemals aus sich selbst heraus göttliche Erkenntnis erlangen. Sie »ist höher als der Himmel: Was willst du tun?, tiefer als die Hölle: Was kannst du wissen?« (Hiob 11,8). Nur der Geist, der uns »zu Söhnen und Töchtern gemacht« hat (Römer 8,15b NGÜ), kann uns die Tiefe der göttlichen Dinge offenbaren, die »kein Auge gesehen hat und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz gekommen« sind (1. Korinther 2,9b). Gott aber hat sie »uns durch seinen Geist offenbart … Sein Geist weiß alles und schenkt uns einen Blick selbst in die tiefsten Geheimnisse Gottes« (1. Korinther 2,10). »Alle, die den Herrn ernst nehmen, zieht er ins Vertrauen und enthüllt ihnen das Geheimnis seines Bundes.« (Psalm 25,14 GNB) Die Tatsache, dass Petrus die Herrlichkeit von Christus erkannte, war ein Beweis dafür, dass er »von Gott gelehrt« war (Johannes 6,45b). Ja, in der Tat, »glücklich bist du zu preisen, Simon, Sohn des Jona; denn nicht menschliche Klugheit hat dir das offenbart, sondern mein Vater im Himmel« (Matthäus 16,17 NGÜ).
Jesus sprach weiter: »Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen.« (Matthäus 16,18) Das Wort »Petrus« bedeutet Stein – ein rollender Stein! Petrus war nicht der Fels, auf dem die Gemeinde gegründet wurde. Die »Pforten der Hölle« überwältigten ihn, als er seinen Herrn unter Fluchen und Schwören verleugnete. Die Gemeinde wurde auf den Einen gebaut, den die »Pforten der Hölle« nicht überwältigen konnten. Schon Jahrhunderte bevor Christus kam, hatte Mose auf den Fels des Heils für Israel hingewiesen (vgl. 5. Mose 32,4). Der Psalmist hatte vom »Fels meiner Stärke« (Psalm 62,8b) gesungen, und bei Jesaja steht geschrieben: »Darum spricht Gott, der Herr: Siehe, ich lege in Zion einen Grundstein, einen bewährten Stein, einen kostbaren Eckstein, der fest gegründet ist.« (Jesaja 28,16a) Petrus selbst bezog diese Weissagung auf Jesus, als er – inspiriert vom Heiligen Geist – schrieb: »Denn ihr habt erfahren, wie gütig der Herr ist. Kommt zu ihm, dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen, aber von Gott auserwählt und geehrt worden ist. Lasst euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen.« (1. Petrus 2,3-5a EÜ) Paulus schrieb: »Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist, welcher ist Jesus Christus.« (1. Korinther 3,11) »Auf diesen Felsen will ich meine Gemeinde bauen« (Matthäus 16,18b), sagte der Herr. In der Gegenwart Gottes und aller himmlischen Wesen sowie in der Gegenwart der unsichtbaren Heere Satans gründete Christus seine Gemeinde auf den lebendigen Felsen. Dieser Felsen ist er selbst – sein Leib, der für uns gebrochen und durchbohrt worden ist. Die Pforten der Hölle werden eine Gemeinde, die auf diesen Grund gebaut wurde, nicht überwältigen. Wie schwach erschien die Gemeinde, als Jesus diese Worte sprach! Es gab nur einige wenige Gläubige, gegen die sich die ganze Macht der Dämonen und der bösen Menschen richtete. Und doch sollten sich die Nachfolger von Christus nicht fürchten. Gebaut auf dem Fels ihrer Stärke konnten sie nicht überwunden werden. Seit rund 6000 Jahren gründet sich der Glaube auf Christus, und seither haben Stürme und die Brandung satanischer Wut gegen den Felsen unseres Heils (vgl. Psalm 95,1b) gekämpft. Aber er steht unverrückbar da.
Petrus hatte die Wahrheit, die das Fundament des christlichen Glaubens ist, zum Ausdruck gebracht. Nun ehrte ihn Christus als den Vertreter der gesamten Gemeinschaft der Gläubigen. Er sagte zu ihm: »Ich will dir die Schlüssel des Himmelreichs geben: Alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel gelöst sein.« (Matthäus 16,19) »Die Schlüssel des Himmelreichs« sind die Worte von Christus. Alle Worte der Heiligen Schrift sind seine Worte und werden hier miteinbezogen. Sie haben die Kraft, den Himmel zu öffnen und zu schließen. Sie legen die Bedingungen fest, unter welchen Menschen aufgenommen oder abgewiesen werden. Dadurch ist das Werk jener, die Gottes Wort predigen, ein Anreiz zum Leben oder zum Tod (vgl. 2. Korinther 2,16). Sie vollziehen einen mit ewigen Auswirkungen beladenen Dienst. Der Erlöser hatte die Verkündigung des Evangeliums nicht nur Petrus anvertraut. Zu einem späteren Zeitpunkt wiederholte er die Worte, die er zu Petrus gesagt hatte, und wandte sie unmittelbar auf die Gemeinde an (vgl. Matthäus 18,18). Inhaltlich wurde dasselbe auch zu den Zwölfen gesagt, die als Vertreter aller Gläubigen galten (vgl. Johannes 20,23). Hätte Jesus einem der Jünger eine besondere Vollmacht verliehen, würden sich die Jünger nicht so oft darüber gestritten haben, wer wohl der Größte unter ihnen sei. Sie hätten sich dem Willen ihres Meisters gefügt und den geehrt, den er auserwählt hatte. Anstatt einen zu ihrem Oberhaupt zu ernennen, sagte Jesus zu seinen Jüngern: »Ihr sollt euch nicht Rabbi nennen lassen … und ihr sollt euch nicht Lehrer nennen lassen; denn einer ist euer Lehrer: Christus.« (Matthäus 23,8a.10) »Christus [ist] das Haupt eines jeden Mannes.« (1. Korinther 11,3a) Gott, der dem Erlöser alles unterstellt hat, »hat Christus als Herrn über die Gemeinde eingesetzt. Die Gemeinde aber ist sein Leib, und sie ist erfüllt von Christus, der alles ganz mit seiner Gegenwart erfüllt« (Epheser 1,22b.23 NLB). Die Gemeinde ist auf Christus gebaut. Er ist ihr Fundament, und sie soll ihm als ihrem Haupt gehorchen. Sie soll sich nicht auf Menschen verlassen oder von Menschen beherrscht werden. Viele meinen, eine Vertrauensstellung in der Gemeinde gäbe ihnen das Recht, anderen vorzuschreiben, was sie zu glauben und zu tun hätten. Diesem Anspruch stimmt Gott nicht zu, denn Jesus erklärte: »Ihr aber seid alle Brüder.« (Matthäus 23,8b) Alle sind Versuchungen ausgesetzt und laufen Gefahr, zu versagen. Wenn es um Führung geht, können wir uns auf kein sterbliches Wesen verlassen. Der Fels des Glaubens in der Gemeinde ist die lebendige Gegenwart von Christus. Darauf kann sich der Schwächste verlassen. Diejenigen, die sich für die Stärksten halten, werden sich als die Schwächsten erweisen, außer wenn sie Christus zu ihrer Stärke machen. »Fluch über alle, die sich von mir abwenden und stattdessen auf die Hilfe vergänglicher Menschen vertrauen!« (Jeremia 17,5 GNB) Der Herr »ist ein Fels. Seine Werke sind vollkommen« (5. Mose 32,4a). »Wohl allen, die auf ihn trauen!« (Psalm 2,12b)
Nach dem Bekenntnis von Petrus gebot Jesus den Jüngern, niemandem zu sagen, dass er der Christus sei. Diese Anweisung gab er ihnen, weil die Schriftgelehrten und Pharisäer so hartnäckigen Widerstand leisteten. Außerdem hatten das Volk und sogar die Jünger eine solch falsche Vorstellung vom Messias, dass ihnen eine öffentliche Bekanntmachung kein richtiges Bild von seinem Wesen und Wirken vermitteln würde. Doch Tag für Tag offenbarte er sich ihnen als Erlöser. Er wollte ihnen damit ein treffendes Bild von sich als Messias geben. Die Jünger erwarteten immer noch, Christus würde bald als weltlicher Fürst regieren. Obwohl er seine Pläne so lange verschwiegen hatte, würde er, so glaubten sie, nicht für immer arm und unbekannt bleiben, sondern in nächster Zeit sein Königreich aufrichten. Dass der Hass der Priester und Rabbiner die Oberhand behalten und Christus von seiner eigenen Nation verworfen, als Betrüger verurteilt und als Verbrecher gekreuzigt werden könnte – darüber hatten sich die Jünger nie Gedanken gemacht. Aber die Stunde der finsteren Macht rückte immer näher, und Jesus musste seine Jünger über den bevorstehenden Konflikt aufklären. Die schwere Prüfung, die er vorhersah, machte ihn traurig. Bis dahin hatte er es unterlassen, ihnen etwas über sein Leiden und seinen Tod zu erzählen. Im Gespräch mit Nikodemus hatte er gesagt: »Wie Mose in der Wüste die Schlange erhöht hat, so muss der Menschensohn erhöht werden, damit alle, die an ihn glauben, das ewige Leben haben.« (Johannes 3,14.15) Aber die Jünger hatten diese Worte nicht gehört und hätten sie auch nicht verstanden, wenn sie sie vernommen hätten. Doch nun waren sie mit Jesus so lange zusammen gewesen, hatten seinen Worten gelauscht und seine Taten gesehen, dass sie trotz der Bescheidenheit, die Jesus umgab, und trotz der ablehnenden Haltung der Priester und des Volkes dem Bekenntnis von Petrus zustimmen konnten: »Du bist der Messias, der Sohn des lebendigen Gottes!« (Matthäus 16,16b EÜ) Nun war die Zeit gekommen, in der der Schleier, der die Zukunft verbarg, zurückgezogen werden sollte. »Von da an begann Jesus, seinen Jüngern zu erklären, er müsse nach Jerusalem gehen und … vieles erleiden; er werde getötet werden, aber am dritten Tag werde er auferstehen.« (Matthäus 16,21 EÜ)
Sprachlos vor Erstaunen und tief bekümmert hörten ihm die Jünger zu. Christus hatte eben das Bekenntnis von Petrus bejaht, dass er der Sohn Gottes sei. Und nun waren seine Worte, die auf sein Leiden und Sterben hinwiesen, unfassbar für sie. Petrus konnte nicht schweigen. »Das soll Gott verhüten, Herr!«, rief er aus und hielt ihn fest, als wolle er ihn vor dem drohenden Unheil bewahren. »Das darf nicht mit dir geschehen!« (Matthäus 16, 22 EÜ) Petrus liebte seinen Herrn. Doch Jesus lobte ihn nicht dafür, dass er den Wunsch, seinen Herrn vor dem Leiden zu bewahren, auf diese Weise zum Ausdruck brachte. Die Worte von Petrus waren für Jesus in Bezug auf die bevorstehende große Prüfung weder Trost noch Hilfe. Diese Worte stimmten weder mit Gottes gnädiger Absicht überein, eine verlorene Welt zu retten, noch mit der beispielhaften Selbstverleugnung von Jesus, die er ihnen durch sein Leben nahebringen wollte. Petrus wollte das Kreuz im Dienst von Christus nicht sehen. Der Eindruck, den seine Worte hinterließen, stand in krassem Gegensatz zu dem, was Christus seinen Nachfolgern verständlich machen wollte. Dies veranlasste den Erlöser, eine der schärfsten Zurechtweisungen, die je über seine Lippen kamen, auszusprechen: »Geh weg von mir, Satan! Denn du meinst nicht, was göttlich, sondern was menschlich ist.« (Markus 8,33b) Satan versuchte, Jesus zu entmutigen und ihn von dessen Aufgabe abzubringen. Und Petrus sprach in seiner blinden Liebe diese Versuchung aus. Der Fürst des Bösen war der Urheber des Gedankens, er war der Anstifter dieses ungestümen Ausrufs. Unter der Bedingung, dass Christus den Weg der Erniedrigung und Opferbereitschaft aufgibt, bot ihm Satan in der Wüste die Weltherrschaft an. Nun trat er mit derselben Versuchung an den Jünger von Jesus heran. Er versuchte, den Blick von Petrus auf weltliche Ehre zu lenken, damit er das Kreuz, auf das Jesus dessen Augen richten wollte, nicht sehen konnte. Durch Petrus brachte Satan Jesus erneut in Versuchung. Doch Jesus schenkte ihr keine Beachtung. Seine Gedanken waren bei seinem Jünger. Satan hatte sich zwischen Petrus und dessen Meister gestellt, damit das Herz des Jüngers nicht vom Gedanken berührt würde, dass sich Christus seinetwegen so sehr erniedrigte. Die Worte, die Jesus sprach, galten nicht Petrus, sondern dem, der versuchte, ihn von seinem Erlöser zu trennen: »Geh weg von mir, Satan!« (Markus 8,33b) Stell dich nicht länger zwischen mich und meinen irrenden Diener! Lass mich Petrus persönlich gegenübertreten, damit ich ihm das Geheimnis meiner Liebe offenbaren kann!
Es war eine bittere Lehre für Petrus. Er begriff nur langsam, dass der Weg von Christus durch unerträgliches Leid und Erniedrigung führte. Der Jünger schreckte davor zurück, am Leiden seines Herrn teilzuhaben. Doch in der Hitze des Feuerofens sollte er den Segen dieser Teilnahme erfahren. Lange Zeit danach, als er von den langjährigen Lasten seines Wirkens gezeichnet war, schrieb er: »Meine lieben Freunde, erschreckt nicht über die schmerzhaften Prüfungen, die ihr jetzt durchmacht, als wären sie etwas Ungewöhnliches. Freut euch darüber, denn dadurch seid ihr im Leiden mit Christus verbunden, und ihr werdet euch auch sehr darüber freuen, wenn er in seiner Herrlichkeit erscheint.« (1. Petrus 4,12.13 NLB) Nun erklärte Jesus seinen Jüngern, dass sein Leben, das von Selbstverleugnung geprägt war, ein Beispiel dafür sei, wie ihr Leben sein sollte. Dann rief er die Jünger und die Leute, die sich in seiner Nähe aufhielten, zu sich und sagte zu ihnen: »Will mir jemand nachfolgen, der verleugne sich selbst und nehme sein Kreuz auf sich und folge mir.« (Matthäus 16,24) Das Kreuz verband man damals mit der Macht Roms. Es war das Instrument, um einen Menschen auf eine höchst grausame und erniedrigende Art umzubringen. Die schwersten Verbrecher mussten das Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte tragen. Wenn es auf ihre Schultern gelegt wurde, setzten sie sich mit verzweifelter Gewalt zur Wehr, bis man sie überwältigt hatte und der Marterpfahl auf ihnen festgebunden war. Jesus aber gebot seinen Nachfolgern, das Kreuz auf sich zu nehmen und ihm zu folgen. Für die Jünger waren seine Worte, obwohl nur undeutlich verstanden, ein Hinweis auf ihren Gehorsam, trotz tiefster Erniedrigung. Es bedeutete, um Christi willen gehorsam zu sein, sogar bis zum Tod. Die Worte des Erlösers hätten keine größere Hingabe ausdrücken können. Aber all das hatte er ihretwegen auf sich genommen. Jesus betrachtete den Himmel nicht als einen erstrebenswerten Ort, solange wir Menschen verloren waren. Er verließ die himmlischen Höfe für ein Leben der Vorwürfe und Beleidigungen, für einen schmachvollen Tod. Er, der durch die unvergleichlichen Schätze des Himmels reich war, wurde arm, damit wir durch seine Armut reich würden. Wir sollen ihm auf dem Weg, den er vorausgegangen ist, nachfolgen. Menschen zu lieben, für die Jesus gestorben ist, bedeutet, die Selbstsucht zu kreuzigen. Ein Kind Gottes sollte sich von nun an als Glied jener Kette sehen, die zur Rettung der Welt herabgelassen wurde. Es sollte eins sein mit Christus in seinem Gnadenplan und mit ihm vorangehen, um »zu suchen und zu retten, was verloren ist« (Lukas 19,10 Elb.). Ein Christ muss sich stets bewusst sein, dass er sich Gott geweiht hat und er durch seinen Charakter der Welt Christus offenbaren soll. Die Selbstaufopferung, das Mitgefühl und die Liebe, die im Leben von Christus zum Ausdruck kamen, sollten auch im Leben eines Mitarbeiters Gottes erkennbar sein. »Wer versucht, sein Leben zu wahren, wird es verlieren. Wer aber sein Leben um meinetwillen und um der guten Botschaft willen verliert, wird es retten.« (Markus 8,35 NLB) Selbstsucht bedeutet Tod. Kein Organ des Körpers kann leben, wenn es nur sich selbst dient. Wenn das Herz das Blut nicht in die Hand und in den Kopf pumpen würde, verlöre es schnell seine Kraft. So wie das Blut unseren ganzen Körper durchdrungen hat, durchdringt die Liebe von Christus alle Teile seines geheimnisvollen Leibes [seine Gemeinde]. Wir sind Glieder untereinander. Wer es ablehnt, weiterzugeben, wird sterben. »Was nützt es einem Menschen, wenn er die ganze Welt gewinnt, dabei aber sein Leben einbüßt? Um welchen Preis kann ein Mensch sein Leben zurückkaufen?« (Matthäus 16,26 EÜ)
Über seine gegenwärtige Armut und Erniedrigung hinaus verwies Jesus seine Jünger auf sein Kommen in Herrlichkeit – nicht in der Pracht eines irdischen Thrones, sondern mit der Herrlichkeit Gottes und mit den himmlischen Heerscharen: »Und dann wird er einem jeden vergelten nach seinem Tun.« (Matthäus 16,27b) Um sie zu ermutigen, versprach er ihnen: »Wahrlich, ich sage euch: Es stehen einige hier, die werden den Tod nicht schmecken, bis sie den Menschensohn kommen sehen in seinem Reich.« (Matthäus 16,28) Doch die Jünger verstanden seine Worte nicht. Die Herrlichkeit, von der Jesus gesprochen hatte, schien weit entfernt zu sein. Ihre Augen waren auf das Naheliegende gerichtet, auf das irdische Leben in Armut, Erniedrigung und Leid. Mussten sie ihre heißersehnten Erwartungen vom messianischen Königreich aufgeben? Könnten sie nicht miterleben, wie ihr Herr auf den Thron Davids erhöht würde? War es möglich, dass Christus wie ein einfacher, heimatloser Wanderer leben musste, um schlussendlich als ein Verachteter und Verworfener umgebracht zu werden? Sie waren traurig, und ihre Herzen waren bedrückt, denn sie liebten ihren Meister. Auch Zweifel plagten sie. Für sie war es unfassbar, dass der Sohn Gottes so grausam erniedrigt werden sollte. Sie fragten sich, warum er freiwillig nach Jerusalem gehen sollte, um so behandelt zu werden, wie er es ihnen geschildert hatte. Wie konnte er ein solches Los auf sich nehmen und sie in einer noch größeren Dunkelheit herumtappen lassen als vor der Zeit, in der er sich ihnen offenbart hatte? In der Gegend von Cäsarea Philippi, so überlegten die Jünger, hätten Herodes und Kaiphas keinen Zugriff auf Jesus. Dort hätte er weder den Hass der Juden noch die Macht der Römer zu fürchten. Warum konnte er nicht dort wirken, weit entfernt von den Pharisäern? Warum musste er sich selbst dem Tod ausliefern? Und wenn er sterben musste, wie konnte dann sein Reich so fest gegründet werden, dass es nicht von den Pforten der Hölle überwältigt werden kann? Für die Jünger war dies wirklich ein Geheimnis. Gerade jetzt zogen sie am Ufer des Galiläischen Meeres entlang und näherten sich der Stadt, in der all ihre Hoffnungen zerschlagen werden sollten. Sie wagten es nicht, sich bei Christus zu beschweren. Untereinander aber sprachen sie leise und tief besorgt darüber, wie die Zukunft wohl aussehen werde. Bei all ihren Fragen und Zweifeln klammerten sie sich an den Gedanken, irgendein unvorhergesehener Umstand würde das Schicksal abwenden, das ihren Herrn erwartete. So trauerten und zweifelten, hofften und bangten sie sechs trübselige Tage lang.