Jesu wahre Verwandte
Matthäus 12,46-50; Markus 3,20.21.31-35
Die Söhne Josefs waren weit davon entfernt, den Dienst von Jesus zu billigen. Was sie über sein Leben und Wirken hörten, erfüllte sie mit Verwunderung und Betroffenheit. Sie hörten, dass er ganze Nächte im Gebet verbrachte, sich tagsüber Scharen von Menschen um ihn versammelten und er sich nicht einmal Zeit zum Essen nahm. Seine Freunde dachten, er würde sich durch seine ununterbrochene Arbeit aufreiben. Für sein Verhalten den Pharisäern gegenüber hatten sie kein Verständnis. Einige befürchteten, er werde den Verstand verlieren. Von all dem hörten seine Brüder. Auch die Anschuldigung der Pharisäer, Jesus treibe die bösen Geister mit Satans Kraft aus, nahmen sie zur Kenntnis. Sie fühlten deutlich, dass man ihnen wegen ihrer Verwandtschaft zu Jesus Vorwürfe machen würde. Sie wussten um das Aufsehen, das seine Worte und Taten erregten. Sie waren darum nicht nur über seine gewagten Aussagen beunruhigt, sondern empörten sich über seine Angriffe gegen die Schriftgelehrten und Pharisäer. Sie kamen zum Schluss, dass er überzeugt oder gezwungen werden müsse, diese Art des Wirkens aufzugeben. Sie überredeten auch Maria, sich mit ihnen zu verbünden, denn sie dachten, seine Liebe zu ihr könnte ihn dazu bewegen, vorsichtiger zu sein.
Während Jesus noch das Volk lehrte, kamen seine Jünger zu ihm und teilten ihm mit, seine Mutter und seine Brüder seien draußen und wünschten ihn zu sehen. Er kannte ihr Herz und sprach zu dem, der ihm die Nachricht überbracht hatte: »›Wer ist meine Mutter? Und wer sind meine Brüder?‹ Und er zeigte auf seine Jünger und sagte: ›Diese Leute sind meine Mutter und meine Brüder. Wer den Willen meines Vaters im Himmel erfüllt, ist mein Bruder und meine Schwester und meine Mutter!‹« (Matthäus 12,48-50) Alle, die Christus im Glauben annehmen, sind enger mit ihm verbunden als mit ihren irdischen Verwandten. Wie er auf Erden eins mit dem Vater war, werden wir mit ihm eins werden. Als ein Mensch, der dem Wort glaubte und danach lebte, war seine Mutter enger mit Jesus verbunden als durch ihre natürliche Verwandtschaftsbeziehung. Seine Brüder hatten durch die Verbindung zu ihm keinen Vorteil in Bezug auf das Heil. Auch sie mussten ihn als ihren persönlichen Erlöser annehmen. Was für eine Unterstützung wäre es doch für Jesus gewesen, wenn seine irdischen Angehörigen an seine himmlische Herkunft geglaubt und mit ihm zusammen im Werk Gottes gearbeitet hätten! Ihr Unglaube warf einen Schatten auf das irdische Leben von Jesus. Dies war ein Teil des bitteren Leidenskelchs, den er für uns bis zur Neige trinken musste. Die im menschlichen Herzen angefachte Feindschaft gegen das Evangelium bekam der Sohn Gottes deutlich zu spüren. Was ihn am meisten schmerzte, war die Ablehnung in seinem eigenen Heim. Er selbst war sehr freundlich, hatte ein Herz voller Liebe und schätzte es, wenn man sich in der Familie liebevoll und mit gegenseitiger Achtung begegnete. Seine Brüder wollten, dass er ihren Vorstellungen nachkam, auch wenn diese überhaupt nicht seiner göttlichen Aufgabe entsprachen. Sie waren der Meinung, Jesus hätte ihren Rat dringend nötig. Sie beurteilten ihn von ihrem menschlichen Standpunkt aus und meinten, dass er, wenn er nur über Dinge reden würde, welche die Schriftgelehrten und Pharisäer auch vertraten, die unangenehmen Auseinandersetzungen, die seine Worte hervorriefen, vermeiden könnte. Sie dachten, er sei von Sinnen, wenn er behauptete, in göttlicher Vollmacht aufzutreten, und die Rabbiner wegen ihrer Sünden tadelte. Sie wussten, dass die Pharisäer eine Gelegenheit suchten, um Jesus anzuklagen, und spürten, dass er ihnen genügend Anlass dazu gab. In ihrer Beschränktheit konnten sie den Auftrag nicht verstehen, den Jesus ausführen musste. Darum konnten sie auch seine Anfechtungen nicht nachempfinden. Ihre kränkenden, ungebührlichen Worte zeigten, dass sie keine richtige Vorstellung von seinem Wesen hatten und nicht erkannten, dass sich in ihm das Göttliche mit dem Menschlichen verband. Oft sahen sie ihn, wenn er Kummer hatte. Aber anstatt zu trösten, verletzten ihr Verhalten und ihre Worte sein Herz. Sein empfindsames Wesen wurde gequält, seine Beweggründe verkannt, und sein Wirken blieb unverstanden. Seine Brüder wiesen oft auf die althergebrachten und abgedroschenen Argumente der Pharisäer hin und dachten, sie könnten denjenigen belehren, der alle Wahrheit kannte und alle Geheimnisse ergründen konnte. Ohne Hemmungen verurteilten sie das, was sie nicht verstehen konnten. Ihre Vorwürfe verletzten Jesus zutiefst. Seine Seele war müde und betrübt. Sie bekannten zwar ihren Glauben an Gott und meinten ihn zu verteidigen. Dabei war Gott im Fleisch mitten unter ihnen, doch sie erkannten ihn nicht. Solche Erlebnisse machten seinen Lebensweg dornig. Das Unverständnis, mit dem man ihm im eigenen Heim begegnete, schmerzte Jesus sehr. Darum war es für ihn eine Erleichterung, dorthin zu gehen, wo er auf Verständnis stieß. Es gab einen Ort, den er sehr gerne besuchte: das Heim von Lazarus, Maria und Marta, denn in der Atmosphäre der Liebe und des Vertrauens fand er innere Ruhe. Und doch gab es niemanden auf der Erde, der seinen göttlichen Auftrag wirklich verstehen und die Last erkennen konnte, die er zugunsten der Menschen trug. Darum fand er oftmals nur Trost, wenn er allein war und Gemeinschaft mit seinem himmlischen Vater pflegte.
Wer wegen Christus leiden muss und auf Verständnislosigkeit und Misstrauen stößt, sogar in seiner eigenen Familie, mag sich mit dem Gedanken trösten, dass Jesus das Gleiche erduldet hat. Jesus fühlt mit ihnen und bittet sie, mit ihm Gemeinschaft zu pflegen und dort Trost zu suchen, wo auch er ihn fand, nämlich in der Verbundenheit mit dem Vater. Alle, die Christus als ihren persönlichen Erlöser annehmen, werden nicht als Waisen zurückgelassen, die alle Prüfungen des Lebens allein ertragen müssen. Er nimmt sie als Mitglieder in die himmlische Familie auf und bittet sie, seinen Vater auch den ihren zu nennen. Sie sind seine »Kleinen« (Matthäus 10,42 EÜ; vgl. 18,6.10.14), dem Herzen Gottes teuer und mit ihm durch sehr innige und feste Bande verbunden. Er begegnet ihnen mit überaus großer Zärtlichkeit, die das, was unsere Eltern für uns in unserer Hilflosigkeit fühlten, so weit übersteigt, wie das Göttliche alles Menschliche überragt. In den Geboten an Israel gab es eine wunderbare Veranschaulichung für das Verhältnis zwischen Christus und seinem Volk. Wenn ein Israelit durch Armut gezwungen war, sich von seinem väterlichen Erbe zu trennen und sich als Leibeigener zu verkaufen, war es die Pflicht seines nächsten Verwandten, ihn und sein Erbe auszulösen (vgl. 3. Mose 25,25.47-49; Rut 2,20). Somit fallen das Werk unserer Erlösung und der Rückkauf unseres Erbes, das wir durch die Sünde verloren haben, auf den, der unser »nächster Verwandter« ist. Er wurde unser »Bruder«, um uns zu erlösen. Der Herr, unser Erlöser, steht uns näher als Vater, Mutter, Bruder, Freund oder Geliebter. Er spricht: »Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du gehörst zu mir. … Weil du teuer bist in meinen Augen, geachtet bist, und weil ich dich liebe, gebe ich Menschen für dich und Völker für dein Leben.« (Jesaja 43,1b.4 ZÜ) Christus liebt die himmlischen Wesen, die seinen Thron umgeben. Doch wie lässt sich die große Liebe erklären, mit der er uns liebt? Wir können es nicht verstehen, können aber aufgrund unserer persönlichen Erfahrung wissen, dass es wahr ist. Wenn wir am verwandtschaftlichen Verhältnis zu ihm festhalten, wie zärtlich sollten wir dann mit denen umgehen, die Brüder und Schwestern unseres Herrn sind! Sollten wir nicht immer schnell unsere Pflichten aufgrund der göttlichen Beziehungen erkennen? Sollten wir nicht unseren himmlischen Vater und unsere geistlichen Geschwister ehren, weil wir in die Familie Gottes aufgenommen worden sind?