Als die Zeit erfüllt war
Johannes 1,10-12
»Als aber die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn. Der wurde als Mensch geboren … um alle zu befreien, die unter der Herrschaft des Gesetzes standen. Durch ihn wollte Gott uns als seine mündigen Söhne und Töchter annehmen.« (Galater 4,4.5 GNB) Das Kommen des Erlösers wurde bereits im Garten Eden vorhergesagt (vgl. 1. Mose 3,15). Als Adam und Eva zum ersten Mal diese Verheißung hörten, warteten sie auf deren rasche Erfüllung. Voller Freude begrüßten sie ihren erstgeborenen Sohn in der Hoffnung, dass er der Befreier sei. Doch die Erfüllung des Versprechens ließ auf sich warten. Diejenigen, die es zuerst erhalten hatten, starben, ohne die Erfüllung erlebt zu haben. Seit den Tagen Henochs wurde die Verheißung durch Patriarchen und Propheten wiederholt und so die Hoffnung auf das Erscheinen des Messias wach gehalten. Doch er kam nicht. Die Weissagung Daniels offenbarte die Zeit seines Kommens (vgl. Daniel 9,24-27), aber nicht alle deuteten diese Botschaft richtig. Jahrhundert um Jahrhundert verging. Schließlich verstummten die Stimmen der Propheten. Die Hand des Unterdrückers lastete schwer auf Israel, und viele waren bereit aufzuschreien: »Die Zeit vergeht, und es wird nichts aus allen Weissagungen.« (Hesekiel 12,22 NLB) Aber wie die Gestirne auf ihrer riesigen, festgelegten Bahn, kennen Gottes Absichten weder Eile noch Verzögerung. Gott hatte Abraham die Sklaverei Israels in Ägypten durch die Sinnbilder einer großen Finsternis und eines rauchenden Ofens angekündigt (vgl. 1. Mose 15,12-17). Er erklärte ihm, dass ihr Aufenthalt dort 400 Jahre dauern werde. »Am Ende werden sie mit großen Reichtümern von dort wegziehen.« (1. Mose 15,14b NLB) Die ganze Macht des stolzen Pharaonenreichs kämpfte vergebens gegen diese Zusage an. Als die Zeit der Erfüllung der göttlichen Verheißung kam, »an dem genannten Tag, zog das Volk des HERRN in geordneten Scharen aus Ägypten aus« (2. Mose 12,41 GNB). Auch die Stunde des Erscheinens von Jesus Christus war im himmlischen Rat festgelegt worden. Als die große Weltenuhr diese Stunde anzeigte, wurde er in Bethlehem geboren. »Als aber die Zeit gekommen war, sandte Gott seinen Sohn.« (Galater 4,4a GNB) In seiner Vorsehung hatte er die Entwicklung der Völker und das Auf und Ab menschlicher Antriebe und Einflüsse gelenkt, bis die Welt für das Kommen des Erlösers reif war. Die Völker waren weitgehend unter einer einzigen Herrschaft vereint. Eine Sprache wurde damals überall verstanden und war als Schriftsprache anerkannt. Von allen Ländern, in die sie zerstreut waren, versammelten sich Juden in Jerusalem zu den jährlichen Festen. Bei ihrer Heimkehr konnten sie darum die Nachricht vom Kommen des Messias in aller Welt verbreiten.
In jener Zeit verlor das Heidentum seinen Einfluss auf die Menschen. Sie waren der Festzüge und der Mythen überdrüssig und sehnten sich nach einer Religion, die ihr Innerstes befriedigte. Obwohl es schien, dass das Licht der Wahrheit von den Menschen gewichen war, gab es immer noch solche, die nach Licht suchten, denn sie waren voller Verwirrung und Kummer. Sie sehnten sich nach der Erkenntnis des lebendigen Gottes und nach der Gewissheit eines Lebens nach dem Tod. Weil sich die Juden von Gott abgewandt hatten, war der Glaube verblasst, und es gab praktisch keine Hoffnung mehr, die die Zukunft erhellt hätte. Die Worte der Propheten verstand man nicht. Für den größten Teil des Volkes war der Tod ein gefürchtetes Geheimnis. Die Vorstellungen über das Jenseits waren düster und ungewiss. Man hörte nicht nur das Jammern der Mütter von Bethlehem, sondern es war geradezu ein Schrei aus dem Herzen der ganzen Menschheit, der über die Jahrhunderte hinweg zum Propheten erscholl – zu jener Stimme, die man in Rama hörte: »Klagerufe und bitteres Weinen: Rahel weint um ihre Kinder und will sich nicht trösten lassen; denn sie sind nicht mehr da.« (Matthäus 2,18 GNB) Ohne Trost saßen die Menschen »in einem vom Tod überschatteten Land« (Matthäus 4,16b NLB). Sehnsuchtsvoll hielten sie Ausschau nach dem Erlöser, dessen Erscheinen die Dunkelheit vertreiben und das Geheimnis der Zukunft lüften sollte.
Außerhalb des jüdischen Volkes gab es Menschen, die das Erscheinen eines göttlichen Lehrmeisters voraussagten. Sie suchten nach der Wahrheit und wurden vom Heiligen Geist geleitet. Wie Sterne am Nachthimmel tauchten solche Lehrer einer nach dem anderen auf. Ihre prophetischen Aussagen entfachten Hoffnung in den Herzen von Tausenden in der heidnischen Welt. Bereits Jahrhunderte zuvor waren die heiligen Schriften in die griechische Sprache übersetzt worden, die damals überall im Römischen Reich gesprochen wurde. Die Juden lebten zerstreut im ganzen Reich, und ihre Erwartung vom Kommen des Messias wurde bis zu einem gewissen Grad von den Nichtjuden geteilt. Unter diesen Heiden, wie die Juden sie nannten, gab es solche, die von den biblischen Weissagungen bezüglich des Messias ein besseres Verständnis hatten als die Schriftgelehrten in Israel. Einige hofften, dass der Messias als Erretter aus der Sünde kommen werde. Philosophen bemühten sich, das Geheimnis der hebräischen Heilsordnung zu erforschen. Aber die Engstirnigkeit der Juden verhinderte die Ausbreitung des Lichts der Erkenntnis. Sie waren fest entschlossen, die Trennung zwischen ihnen und anderen Völkern aufrechtzuerhalten. Sie waren nicht gewillt, das noch vorhandene Wissen über den Opferdienst an andere weiterzugeben. Der wahre Lehrer musste kommen, um die Bedeutung der Symbole zu erklären, die auf ihn hingewiesen hatten. Durch die Natur, durch Bilder und Gleichnisse, durch Patriarchen und Propheten hatte Gott zur Welt gesprochen. Die Menschheit musste in menschlicher Sprache belehrt werden. Der »Engel des Bundes« musste nun sprechen, seine Stimme sollte in seinem eigenen Tempel gehört werden (Mal 3,1). Christus musste kommen, um Worte zu sprechen, die klar und deutlich verstanden werden konnten. Er, der Urheber der Wahrheit, musste diese von der Spreu menschlicher Worte trennen, welche die Wahrheit wirkungslos gemacht hatten. Die Grundsätze der Herrschaft Gottes und des Erlösungsplans mussten deutlich erklärt und die Lehren des Alten Testaments den Menschen ausführlich dargelegt werden.
Unter den Juden gab es noch standhafte Gläubige, Nachkommen der Linie, welche die wahre Gotteserkenntnis bewahrt hatte. Sie blickten noch immer mit Hoffnung auf die Erfüllung der Verheißung, die ihren Vätern gegeben worden war. Diese Juden stärkten ihren Glauben, indem sie immer wieder die Zusage durch Mose bedachten: »Einen Propheten wie mich wird euch der Herr, euer Gott, erwecken aus euren Brüdern; den sollt ihr hören in allem, was er zu euch sagen wird.« (Apostelgeschichte 3,22; vgl. 5. Mose 18,15.19) Oder sie lasen von dem Einen, den Gott salben werde, um »den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit … zu verkündigen ein gnädiges Jahr des Herrn« (Jesaja 61,1b.2a). Sie lasen, dass er »unter den Völkern [Gottes] Rechtsordnung« aufrichtet und man »noch an den fernsten Küsten … auf seine Weisung« wartet (Jesaja 42,4b GNB), und dass »andere Völker von diesem Licht angezogen« werden: »Ihre Könige eilen herbei, um den strahlenden Glanz zu sehen, der über dir aufgegangen ist« (Jesaja 60,3 Hfa). Die Worte des sterbenden Jakob erfüllten sie mit Hoffnung: »Das Zepter wird immer Juda gehören und der Herrscherstab deinen Nachkommen, bis zum Kommen des Schilo, dem alle Völker gehorchen werden.« (1. Mose 49,10 NLB) Die abnehmende Macht Israels zeigte deutlich, dass das Kommen des Messias nahe war. Die Weissagung Daniels schilderte die Herrlichkeit seiner Herrschaft über ein Weltreich, das allen irdischen Reichen folgen sollte und »in alle Ewigkeit bestehen« werde (Daniel 2,44 EÜ). Während nur wenige das Wesen der Sendung des Messias verstanden, war die Erwartung weit verbreitet, dass ein mächtiger Fürst kommen werde, um in Israel sein Reich aufzurichten und ein Befreier für die Völker zu sein.
Die Zeit war gekommen. Die Menschheit, durch Jahrhunderte der Übertretung immer mehr erniedrigt, sehnte sich nach dem Erlöser. Satan hatte alles getan, um die Kluft zwischen Himmel und Erde tief und unüberbrückbar zu machen. Durch seine Lügen hatte er die Menschen zur Sünde ermutigt. Seine Absicht war es, die Langmut Gottes zu erschöpfen und dessen Liebe zu den Menschen auszulöschen, sodass dieser letztlich die Welt der Herrschaft Satans preisgibt. Satan wollte die Menschen von der Erkenntnis Gottes ausschließen, ihre Aufmerksamkeit vom Tempel Gottes abwenden und sein eigenes Reich aufrichten. Sein Streben nach der Vorherrschaft schien beinahe erfolgreich zu sein. Gott hatte jedoch in jeder Generation seine Vertreter. Selbst unter den Heiden gab es welche, durch die Christus wirken konnte, um ihr Volk aus Sünde und Erniedrigung herauszuführen. Doch diese Menschen wurden verachtet und gehasst, viele von ihnen starben einen gewaltsamen Tod. Der Schatten, den Satan über die Welt geworfen hatte, wurde immer dunkler. Zu allen Zeiten hatte Satan das Heidentum benutzt, damit sich Menschen von Gott abwenden. Doch seinen großen Triumph feierte er, als es ihm gelang, den Glauben in Israel zu verfälschen. Indem die Heiden Götter nach eigenen Vorstellungen anbeteten und über sie nachdachten, verloren sie die rechte Gotteserkenntnis und wurden immer verderbter. Und so erging es auch Israel. Das Konzept, dass sich der Mensch durch seine eigenen Werke erlösen könne, ist die Grundlage jeder heidnischen Religion. Auch in Israel war dies zum Fundament der jüdischen Religion geworden. Satan hatte dieses Konzept eingepflanzt. Wo immer man es befolgt, verfügen die Menschen über keine Schranke gegen die Sünde. Die Erlösungsbotschaft wird durch Menschen übermittelt. Doch die Juden wollten das ausschließliche Recht auf die religiöse Wahrheit besitzen, die zum ewigen Leben führt. Sie hatten das lebendige Manna (vgl. Johannes 6,48-51) für sich behalten, doch es verdarb bei ihnen. Die Religion, die sie nur für sich selbst behalten wollten, verkam zum Ärgernis. Sie beraubten Gott seiner Herrlichkeit und betrogen die Welt mit einem verfälschten Evangelium. Die Juden hatten ihre Hingabe an Gott für die Rettung der Welt verloren und wurden auf diese Weise zu Werkzeugen Satans, der die Welt zerstören möchte. Das Volk, das Gott als Pfeiler und Fundament der Wahrheit berufen hatte, war zu einem Vertreter Satans geworden. Die Juden handelten nach dessen Willen, entschieden sich für Wege, die Gottes Charakter falsch darstellten, und veranlassten so die Welt, ihn als einen Tyrannen zu betrachten. Sogar die Priester hatten die Wichtigkeit des Dienstes, den sie am Tempel verrichteten, aus den Augen verloren. Sie hatten aufgehört, hinter den Sinnbildern das zu sehen, was sie bedeuteten. Bei den Opferhandlungen waren sie zu Schauspielern geworden. Die religiösen Dienste, die Gott selbst eingesetzt hatte, wurden als Mittel benutzt, um den Verstand zu verblenden und das Herz zu verhärten. Daher konnte Gott auf diesem Weg nichts mehr für die Menschheit tun. Dieses ganze System musste beseitigt werden.
Die Täuschung durch die Sünde hatte ihren Höhepunkt erreicht. Alle Mittel waren eingesetzt worden, um die Menschen zu verderben. Der Sohn Gottes blickte auf die Welt und sah Leid und Elend. Mit tiefem Erbarmen sah er, wie die Menschen Opfer satanischer Grausamkeit geworden waren. Er blickte voller Mitgefühl auf jene, die man verführte, tötete und die verlorengingen. Sie hatten sich einem Herrscher unterstellt, der sie wie Gefangene vor seinen Karren spannte. Irregeleitet und betrogen schleppten sie sich in einem traurigen Menschenzug ihrem ewigen Untergang entgegen – zu dem Tod hin, wo es keine Hoffnung auf Leben gibt – der Nacht entgegen, die keinen Morgen kennt. Satanische Werkzeuge wirkten durch die Menschheit. Der menschliche Körper, dazu geschaffen, dass Gott darin wohnt, war zu einer Behausung von Dämonen geworden. Auf Sinne, Nerven, Triebe und Organe des Menschen übten übernatürliche Kräfte ihren Einfluss aus, sodass sie sich den niedrigsten Begierden hingaben. Dem Angesicht der Menschen war der Stempel der Dämonen aufgedrückt worden. Menschliche Gesichter spiegelten den Ausdruck der Legionen des Bösen wider, von denen sie besessen waren. Das war der Anblick, der sich dem Erlöser der Welt bot. Was für ein schreckliches Schauspiel, das der unendlich Reine mit ansehen musste! Die Sünde war zu einer Wissenschaft geworden, und die Laster wurden als Teil der Religion betrachtet. Die Rebellion gegen Gott war tief im Herzen verwurzelt, und die Feindschaft der Menschen gegen den Himmel war äußerst heftig. Vor dem ganzen Weltall wurde deutlich, dass die Menschheit – getrennt von Gott – nicht wieder aufgerichtet werden konnte. Ein neues Element des Lebens und der Kraft musste durch den Einen, der die Welt erschaffen hatte, verliehen werden. Voller Spannung hatten die nicht in Sünde gefallenen Welten darauf gewartet, dass sich der Herr aufmachen werde, um die Bewohner der Erde zu vernichten. Hätte Gott dies getan, wäre Satan bereit gewesen, seinen Plan, sich die Gefolgschaft der Engelwelt zu sichern, auszuführen. Er hatte ja erklärt, dass die Grundsätze der göttlichen Herrschaft eine Vergebung unmöglich machten. Hätte Gott die Welt vernichtet, hätte Satan behauptet, seine Anklagen gegen Gott seien wahr. Er lauerte nur darauf, Gott die Schuld anzulasten und seinen Aufruhr in anderen Welten zu verbreiten.
Aber statt die Welt zu vernichten, sandte Gott seinen Sohn, um sie zu retten. Obwohl überall auf diesem feindlichen Planeten Sittenverfall und offener Ungehorsam vorherrschten, war ein Weg zur Errettung vorbereitet. Im entscheidenden Augenblick – gerade als Satan zu triumphieren schien – kam der Sohn Gottes mit der Botschaft der göttlichen Gnade. Zu allen Zeiten, zu jeder Stunde war die Liebe Gottes der gefallenen Menschheit nachgegangen. Trotz der Verdorbenheit der Menschen hatten sich die Zeichen der Gnade ununterbrochen offenbart. Und als die Zeit erfüllt war, wurde die Gottheit verherrlicht, indem sie eine Fülle von heilender Gnade über die Welt ausgoss. Diese Gnade sollte bis zur Erfüllung des Erlösungsplans weder aufgehalten noch zurückgezogen werden. Satan triumphierte, weil es ihm gelungen war, das Bild Gottes im Menschen zu entstellen. Dann aber kam Jesus und stellte das Bild des Schöpfers im Menschen wieder her. Niemand außer Christus kann den Charakter erneuern, den die Sünde zugrunde gerichtet hat. Er kam, um die Dämonen zu vertreiben, die den Willen beherrscht hatten. Er kam, um uns aus dem Staub emporzuheben, unseren entstellten Charakter nach dem Vorbild seines göttlichen Wesens neu zu formen und ihn mit seiner eigenen Herrlichkeit zu schmücken.