Einleitung der Bergpredigt
Die Bergpredigt ist eine Segnung des Himmels für unsere Welt, eine Stimme vom Thron Gottes. Sie wurde den Menschen gegeben, um ihnen ein Gesetz ihrer Pflichten und ein Licht vom Himmel zu sein, eine Hoffnung und ein Trost in der Verzweiflung, eine Freude und Erquickung in all den Widerwärtigkeiten und Wegen des Lebens. Hier spricht der Fürst der Prediger, der Meisterlehrer, die Worte, die Ihm der Vater gegeben hat.
Die Seligpreisungen sind Christi Gruß nicht nur an die Gläubigen, sondern an die ganze menschliche Familie. Er scheint einen Moment lang vergessen zu haben, dass Er auf der Erde ist und nicht im Himmel, und Er gebraucht den in der Welt des Lichts bekannten Gruß. Segnungen strömen wie das Überlaufen eines lang zurückgehaltenen Strom reichen Lebens von seinen Lippen.
Christus lässt uns nicht im Zweifel über die Charakterzüge, die er immer anerkennen und segnen wird. Dadurch, dass er alle selig spricht, die sein Licht und Leben annehmen, wendet er sich von den ehrgeizigen Prominenten dieser Welt ab, hin zu denen, die von jenen enteignet wurden. Er öffnet seine Arme für die geistig Armen, die Demütigen, die Bescheidenen, die Trauernden, die Verachteten und die Verfolgten, und er sagt: „Kommt her zu mir … ich werde euch Frieden geben.“ (Matthäus 11,28)
Während Christus sehr wohl das Elend dieser Welt sieht, bedauert er jedoch nicht im geringsten, dass er den Menschen geschaffen hat (vgl. Johannes 1,1-3.14; Kolosser 1,15.16) Er sieht im menschlichen Herz mehr als nur die Sünde und das Elend. In Seiner unendlichen Weisheit und Liebe sieht er die Möglichkeiten des Menschen, die Höhen, die er erreichen kann. Auch wenn die Menschen ihre Gaben missbraucht und ihre gottgegebene Würde zunichte gemacht haben, weiß er doch, dass der Schöpfer in ihrer Erlösung verherrlicht werden soll. Für alle Zeit werden die Worte ihre Kraft behalten, die Christus vom Berg der Seligpreisungen gesprochen hat. Jeder Satz ist ein Juwel aus der Schatzkammer der Wahrheit. Die Prinzipien, die in dieser Predigt angesprochen wurden, gelten für alle Zeit und für alle Menschen. Mit göttlicher Kraft drückte Christus seinen Glauben und seine Hoffnung aus, als er die verschiedensten Klassen deshalb segnete, weil sie einen gerechten Charakter entwickelt haben. Jeder, der sein Leben im Glauben an Christus, den Lebensspender lebt wie dieser, kann den Standard erreichen, den Christus in seinen Worten darstellt.
Mehr als 14 Jahrhunderte vor der Geburt Jesu versammelten sich die Kinder Israel im schönen Tal Sichem, und man konnte von den Bergen auf beiden Seiten die Stimmen der Priester hören, wie sie Segen und Fluch verkündeten – „den Segen, wenn ihr gehorcht den Geboten des Herrn, eures Gottes;… den Fluch aber, wenn ihr nicht gehorchen werdet.“ (5. Mose 11,27.28)
Deshalb wurde der Berg, von dem die Worte des Segens gesprochen wurden, als der „Berg der Seligpreisungen“ bekannt. Es war aber nicht der Berg Garizim, auf dem die Worte Jesu gesprochen wurden, die als Segen zu einer sündigen und trauernden Welt kamen. Israel erreichte das hohe Ideal nicht, das ihnen vorgelegt worden war. Ein anderer als Josua musste sein Volk zur wahren Glaubensruhe führen. So ist Garizim nicht länger der „Berg der Seligpreisungen“, sondern ein namenloser Berg neben dem See Genezareth, auf dem Jesus die Segensworte zu seinen Jüngern und zu der Menge sprach.
Lasst uns in unseren Gedanken zurückgehen zu dieser Szene, uns mit den Jüngern an den Hang des Berges setzen und uns in die Gedanken und Gefühle hineinversetzen, die ihre Herzen erfüllten. Wenn wir verstehen, was die Worte Jesu für die bedeuteten, die sie hörten, werden wir sie vielleicht in neuer Lebendigkeit und Schönheit sehen und tiefere Lektionen für uns selbst entnehmen.
Als der Erlöser seinen Dienst begann, hatten viele eine Vorstellung vom Messias und dessen Werk, die ihnen bei seiner Annahme völlig im Weg stand. Der Geist wahrer Frömmigkeit war in Tradition und Zeremonialismus verlorengegangen, und die Prophezeiungen wurden unter dem Diktat stolzer, weltlich orientierter Herzen ausgelegt. Die Juden hielten Ausschau nach einem großen Fürsten, der alle Nationen unter die Herrschaft des Löwen aus dem Stamm Juda bringen sollte, sie erwarteten keinen Erlöser von der Sünde. Umsonst hatte sie Johannes mit der herzerforschenden Kraft der alten Propheten zur Reue aufgerufen. Umsonst hatte er am Jordanufer auf Jesus als das Lamm Gottes hingewiesen, das die Sünden der Welt hinwegnimmt. Gott versuchte, ihre Gedanken auf Jesajas Prophezeiung vom leidenden Erlöser zu lenken, aber sie wollten nicht hören.
Hätten die Lehrer und Führer Israels sich seiner umwandelnden Gnade ausgeliefert, dann hätte Jesus sie zu seinen Gesandten unter den Menschen gemacht. In Judäa war das Kommen des Himmelreiches und auch der Aufruf zur Reue zuerst verkündigt worden. Dadurch, dass er die Schänder aus dem Tempel in Jerusalem austrieb, hatte sich Jesus selbst als Messias zu erkennen gegeben, als derjenige, der die Seele vom Schmutz der Sünde reinigen und sein Volk zu einem heiligen Tempel des Herrn machen sollte. Aber die jüdischen Führer wollten sich nicht demütigen und den bescheidenen Lehrer aus Nazareth annehmen.
Bei seinem zweiten Besuch in Jerusalem wurde Jesus dem Sanhedrin vorgeführt, und nur die Furcht vor dem Volk hielt die Würdenträger vom Versuch ab, ihm das Leben zu nehmen.
Daraufhin verließ er Judäa und begann seinen Dienst in Galiläa. Dort arbeitete er schon mehrere Monate vor der Verkündigung der Bergpredigt. Er predigte im ganzen Land die Botschaft: „Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen“ (Matthäus 4,17). Das hatte die Aufmerksamkeit aller Klassen auf sich gezogen und die Flamme ehrgeiziger Hoffnungen noch weiter angeschürt. Der Ruf des neuen Lehrers hatte sich über die Grenzen Palästinas hinaus verbreitet, und in allen gesellschaftlichen Schichten war die Meinung weit verbreitet, dass dies der ersehnte Befreier sein könnte. Große Menschenmassen umdrängten Jesus bei jedem Schritt, und die Begeisterung des Volkes war groß.
Für die Jünger, die schon sehr eng mit Christus verbunden waren, war die Zeit gekommen, sich persönlicher an seinem Werk zu beteiligen, damit diese riesigen Scharen nicht unversorgt blieben wie Schafe ohne Hirten. Einige Jünger waren zu Beginn seines Dienstes zu ihm gestoßen, und fast alle von den Zwölfen waren als Mitglieder der Familie Jesu miteinander verbunden. Trotzdem teilten auch sie, irregeführt von den rabbinischen Lehren, die allgemeine Erwartung eines irdischen Königreichs. Sie konnten das Handeln Jesu nicht begreifen. Sie waren schon verwirrt und besorgt darüber, dass er keine Anstrengung machte, seine Sache dadurch zu stärken, dass er sich der Unterstützung der Priester und Rabbis versicherte, und dass er nichts tat, um seine Autorität als weltlicher König aufzurichten. Ein großes Werk musste noch an den Jüngern geschehen, bevor sie für die heilige Pflicht bereit waren, die ihnen bei der Himmelfahrt Jesu übergeben würde. Sie hatten aber auf die Liebe Christi geantwortet, und obwohl sie in ihren Herzen nur langsam begriffen, sah Jesus in ihnen die, die er für sein großes Werk ausbilden und schulen konnte.
Sie waren nun lange genug mit ihm zusammen gewesen, um bis zu einem gewissen Grad ihren Glauben an seine göttliche Sendung aufzubauen. Auch das Volk hatte Beweise von seiner Kraft bekommen, die sie nicht bezweifeln konnten, und so war der Weg für eine Verkündigung der Grundsätze seines Reiches vorbereitet. Das würde ihnen helfen, die wahre Natur dieses Reiches zu begreifen.
Jesus hatte die ganze Nacht allein auf einem Berg nahe dem Galiläischen Meer im Gebet für diese Auserwählten verbracht (Lukas 6,12). Beim Morgengrauen rief er sie zu sich, und legte ihnen unter Worten des Gebets und der Unterweisung segnend die Hände auf und sonderte sie für die Evangeliumsarbeit ab. Dann begab er sich mit ihnen ans Seeufer, wo sich schon in den frühen Morgenstunden eine große Menschenmenge zu versammeln begann.
Neben der üblichen Menge aus den galiläischen Städten war auch eine große Anzahl aus Judäa und Jerusalem da, aus Perea und der halbheidnischen Bevölkerung von Decapolis, aus Idumäa, das abseits im Süden von Judäa liegt, und aus Tyrus und Sidon, den phönizischen Städten am Ufer des Mittelmeeres. Sie waren gekommen, „Ihn zu hören und von ihren Krankheiten geheilt zu werden,… denn es ging Kraft von ihm aus, und er heilte sie alle.“ (Markus 3,8; Lukas 6,13-19)
Als der enge Strand dann nicht mehr allen, die ihn gern hören wollten, genügend Raum zum Stehen in der Reichweite seiner Stimme ermöglichte, ging Jesus den Weg zurück zum Hang des Berges. Als er einen ebenen Platz erreichte, der ein angenehmes Beisammensein für die riesige Versammlung zuließ, setzte er sich ins Gras. Seine Jünger und die Menge folgten seinem Beispiel.
Mit dem Gefühl, etwas mehr als das Übliche erwarten zu können, hatten sich die Jünger um ihren Meister versammelt. Durch die Ereignisse des Morgens waren sie sicher, dass einige Ankündigungen in Bezug auf das Reich kurz bevorstanden, von dem sie hofften, dass es bald aufgerichtet werden sollte. Auch die Menge war von diesem Gefühl der Erwartung durchdrungen, und gespannte Gesichter bezeugten das tiefe Interesse.
Als sie am grünen Berghang saßen und die Worte des göttlichen Lehrers erwarteten, wurden ihre Herzen durch den Gedanken an die zukünftige Herrlichkeit mit Freude erfüllt. Da waren Schriftgelehrte und Pharisäer, die auf den Tag warteten, an dem sie über die verhassten Römer herrschen und die Reichtümer und den Glanz des großen Weltreiches besitzen würden; arme Bauern und Fischer, die eine Zusicherung zu hören hofften, dass ihre elenden und armseligen Hütten, das karge Essen, das Leben der Entbehrung und die Furcht vor Mangel gegen gefüllte Häuser und Tage der Sorglosigkeit ausgetauscht würden. Anstelle des einen rauhen Gewandes, das am Tag ihre Kleidung und in der Nacht ihre Decke war, hofften sie, dass Christus ihnen die reichen und kostbaren Kleider ihrer Eroberer geben würde.
Alle Herzen waren von der stolzen Hoffnung erregt, dass Israel bald vor allen anderen Nationen als das auserwählte Volk des Herrn geehrt und Jerusalem zur Hauptstadt eines universalen Königreiches erhoben werden würde.