Feindesliebe

Feindesliebe

„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: »Auge um Auge und Zahn um Zahn!« Ich aber sage euch: Ihr sollt dem Bösen nicht widerstehen; sondern wenn dich jemand auf deine rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die andere dar; und dem, der mit dir vor Gericht gehen und dein Hemd nehmen will, dem lass auch den Mantel; und wenn dich jemand nötigt, eine Meile weit zu gehen, so geh mit ihm zwei. Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht ab von dem, der von dir borgen will! Ihr habt gehört, dass gesagt ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, welche euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters im Himmel seid. Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt es regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr die liebt, die euch lieben, was habt ihr für einen Lohn? Tun nicht auch die Zöllner dasselbe? Und wenn ihr nur eure Brüder grüßt, was tut ihr Besonderes? Machen es nicht auch die Zöllner ebenso?“ (Matthäus 5,38-47)

„Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar“
Da die Juden dauernd mit römischen Soldaten in Berührung kamen, gab es oft Veranlassung zur Erregtheit. Über ganz Judäa und Galiläa waren Truppen verteilt, und das Volk wurde durch ihren Anblick immer an seine nationale Demütigung erinnert. Mit tiefem Grimm hörten sie den lauten Schall der Trompeten, sahen die Truppe sich um das römische Feldzeichen scharen und dem Sinnbild ihrer Macht Ehrenbezeugungen erweisen. Durch häufige Zusammenstöße zwischen Volk und Soldaten wurde der allgemeine Hass immer größer. Wenn ein römischer Beamter mit einer Schutzwache von Ort zu Ort eilte, griff er einfach jüdische Bauern auf, die er gerade bei der Feldarbeit antraf und zwang sie, Lasten bergauf zu tragen oder sonst einen Dienst zu verrichten. Das war bei den Römern Gesetz und Brauch, und die Verweigerung solchen Ansinnens hätte Strafen und Quälereien eingebracht.
Mit jedem Tage fraß sich die Sehnsucht tiefer in die Herzen, endlich das verhasste Joch abzuwerfen. Besonders die harten, kühnen Galiläer waren aufs tiefste empört. Kapernaum war als Grenzstadt Sitz einer römischen Garnison, und gerade als Jesus predigte, wurde in seinen Zuhörern durch eine Abteilung vorüberziehender Soldaten der bittere Gedanke an Israels Demütigung aufs neue wachgerufen. Die Leute setzten ihre ganze Hoffnung auf Christus, von dem sie erwarteten, dass er das stolze Rom recht tief demütigen werde.

Jesus schaute mit Betrübnis in all die zu ihm aufblickenden Angesichter. Er erkannte, dass der Geist der Rache ihnen seinen Stempel aufgedrückt hatte, und wusste, wie heiß das Volk sich nach der Macht sehnte, seine Unterdrücker zu vernichten. Traurig bittet er sie: Widerstrebet nicht „dem Übel; sondern, wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete die andere auch dar“.
Mit diesen Worten wiederholte er nur, was schon im Alten Testament geschrieben stand. Wohl findet sich dort auch die Regel „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ (3.Mose 24,20), doch hatte Mose diese auf die Obrigkeit berechnet. Sonst war niemand berechtigt, die Rache selbst in die Hand zu nehmen, denn der Herr hatte geboten: „Sprich nicht: ‚Ich will Böses vergelten!‘“ (Sprüche 20,22) „Sprich nicht: ‚Wie einer mir tut, so will ich ihm auch tun.‘“ Sprüche 24,29. „Freue dich nicht über den Fall deines Feindes.“ (Sprüche 24,17) „Hungert deinen Feind, so speise ihn mit Brot, dürstet ihn, so tränke ihn mit Wasser.“ (Sprüche 25,21)
Jesus hat das in seinem ganzen Erdenleben durchgeführt. Er verließ sein himmlisches Heim, um seinen Feinden das Brot des Lebens zu bringen. Von der Krippe bis zum Grabe ist er verleumdet und verfolgt worden. Trotzdem hat ihn das eben zu keiner andern Äußerung gezwungen als der, dass er liebend vergebe. Er hat durch den Propheten Jesaja gesprochen: „Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“ (Jesaja 50,6)
Und weiter: „Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf.“ (Jesaja 53,7) Vom Kreuz auf Golgatha her klingt durch die Zeiten hindurch das Gebet für seine Mörder und das Hoffnungswort an den sterbenden Übeltäter.
Christus lebte in der Gegenwart Gottes; daher war ihm alles, was ihm begegnete, von der ewigen Liebe zum Segen der Welt bestimmt. Das diente ihm zum Trost und soll auch unsere Trostquelle sein. Wer vom Geist Christi erfüllt ist, der bleibt in Christus. Der Streich, der auf ihn abgezielt ist, trifft den Heiland, der sich schützend vor ihn stellt. Trifft ihn selbst aber etwas, so kommt es von Christus. Es tut gar nicht not, dass er dem Bösen widerstehe, weil ja Christus seine Wehr ist. Nur was der Herr zulässt, kann ihm begegnen, denn „wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Besten dienen“. (Römer 8,28)

„Wenn jemand mit dir rechten will [vor Gericht mit dir streiten] und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel. Und wenn dich jemand nötigt eine Meile, so gehe mit ihm zwei“
Jesus gebot seinen Jüngern nicht nur, der Obrigkeit nicht zu widerstreben, sondern sogar über das Maß der auferlegten Pflicht hinauszugehen. Sie sollten allen ihren Verpflichtungen bestens gerecht werden, auch wenn das Landesgesetz dies nicht verlangte. Das durch Mose gegebene Gesetz forderte äußerste Rücksicht gegen die Armen. Wenn ein armer Mann sein Kleid als Pfand oder Sicherheit für eine Schuld hinterlegen wollte, durfte der Gläubiger nicht in sein Haus gehen, um es zu holen, sondern musste auf der Straße warten, bis es ihm hinausgebracht wurde. Und mochten die Umstände sein, wie sie wollten, am Abend musste das Pfand dem Eigner zurückerstattet werden. (vgl. 5.Mose 24,10-13)
Zur Zeit Christi fanden diese Regeln der Barmherzigkeit nur noch wenig Beachtung. Jesus aber lehrte seine Jünger, sich der Gerichtsentscheidung zu fügen, auch wenn sie darüber hinausreichte, was im Gesetz Moses verlangt war. Sie sollten sogar bereit sein, im gegebenen Falle ein Kleidungsstück herzugeben, und, um den Gläubiger zufriedenzustellen, diesem auf Verlangen mehr erstatten, als der Urteilsspruch besagte. „Wenn jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch den Mantel.“ Und fordert einer, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm sogar zwei Meilen.
Jesus fügte dem noch hinzu: „Gib dem, der dich bittet, und wende dich nicht von dem, der dir abborgen will.“ Den gleichen Satz hatte schon Mose aufgestellt: „Wenn einer deiner Brüder arm ist in irgendeiner Stadt in deinem Lande, das der Herr, dein Gott, dir geben wird, so sollst du dein Herz nicht verhärten und deine Hand nicht zuhalten gegenüber deinem armen Bruder, sondern sollst sie ihm auftun und ihm leihen, soviel er Mangel hat.“ (5.Mose 15,7.8). Dies Bibelwort erklärt den Ausspruch des Heilandes. Christus lehrt nicht, allen, die um Unterstützung bitten, freimütig zu geben, sondern spricht: Du sollst „ihm leihen, soviel er Mangel hat“. Dass wir besser ein Geschenk machen, als Geld nur auszuleihen, erkennen wir aus dem Wort: „Leihet, wo ihr nichts dafür hoffet.“ (Lukas 6,35)

„Liebet eure Feinde“
Das Wort des Herrn: „Ich aber sage euch, dass ihr nicht widerstreben sollt dem Übel“ war für die rachsüchtigen Juden eine harte Rede gewesen, und sie murrten darüber im stillen. Da fügte Jesus noch einen stärkeren Ausspruch hinzu:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen.‘ Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen, auf dass ihr Kinder seid eures Vaters im Himmel.“
Das war der Geist des Gesetzes, das die Schriftgelehrten zu einem kalten und strengen Regelbuch herabgewürdigt hatten. Sie hielten sich für besser als andere Menschen und glaubten durch ihre Geburt als Israeliten bei Gott besondere Vorzüge genießen zu können. Jesus dagegen machte die Gesinnung versöhnlicher Liebe zum Beweisstück dafür, ob jemand sittlich wertvoller sei als die verachteten Zöllner und Sünder.
Jesus sprach zu seinen Zuhörern vom Weltenherrscher als von „unserm Vater“. Er wollte ihnen damit verständlich machen, in welch innigem Verhältnis Gott zu ihnen stand. Er lehrte, dass Gott auch jedem Verlorenen nachgeht; denn „wie sich ein Vater über Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über die, die ihn fürchten“. (Psalm 103,13) Ein solcher Gottesbegriff findet sich außer in der biblischen in keiner andern Religion der Erde. Im Heidentum ist das höchste Wesen ein mehr Furcht als Liebe einflößender Gott. Das Heidentum kennt nur die grollende Gottheit, die durch Opfer besänftigt werden muss, und weiß nichts von dem Vater, der seine Kinder mit Liebe überschüttet. Selbst das Volk Israel war gegenüber der köstlichen Verkündigung der Propheten von Gott so blind geworden, dass diese Offenbarung seiner Vaterliebe ihnen eigenartig, wie ein neues Geschenk für diese Welt, vorkam.
Die Juden glaubten, dass Gott jene liebt, die ihm dienen, und das waren nach ihrer Anschauung alle, welche die Aufsätze der Schriftgelehrten befolgten. Die übrigen Menschen stünden ihrer Meinung nach unter seinem Zorn und Fluch. Jesus dagegen verkündigte, dass die ganze Welt mit Guten und Bösen im Sonnenschein der Liebe Gottes glänze. Das hätten sie sich auch von der Natur sagen lassen können; denn „er lässt seine Sonne aufgehen über die Bösen und über die Guten und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte“. (Matthäus 5,45)

Nicht durch eine ihr selbst innewohnende Kraft bringt die Erde ihre Gaben hervor und vollzieht ihren Kreislauf um die Sonne, sondern die Hand Gottes leitet die Wandelsterne und hält sie auf ihrer himmlischen Bahn. Durch seine Kraft folgen Sommer und Winter, Saat und Ernte, Tag und Nacht einander in regelmäßigem Wechsel. Durch sein Wort gedeiht das Pflanzenreich, erscheinen die Blätter und blühen die Blumen. Alle Güter, die wir haben, jeder Sonnenstrahl und jeder Regenschauer, jeder Bissen Nahrung und jeder Augenblick des Lebens ist eine Gabe der Liebe.
Als wir noch lieblos und unverträglich waren, „verhasst und hassten uns untereinander“, hatte unser himmlischer Vater schon Erbarmen mit uns. Da „aber erschien die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes, unsers Heilandes“, und „rettete … uns, nicht um der Werke willen der Gerechtigkeit, die wir getan hatten, sondern nach seiner Barmherzigkeit“. (Titus 3,3-5) So wird seine Liebe, wenn wir sie in uns aufnehmen, auch uns freundlich und gütig machen, und zwar nicht allein gegen diejenigen, die uns gefallen, sondern auch gegen die Irrenden, ja selbst gegen die Schuldigsten und Sündhaftesten.
Kinder Gottes sind Menschen, die der göttlichen Natur teilhaftig sind. Nicht irdische Stellung, nicht Geburt, nicht Volkszugehörigkeit noch religiöser Besitz weisen uns als Glieder der Familie Gottes aus; dazu gehört ganz allein die Liebe, die Liebe zu allen Menschen. Selbst Sünder, deren Herzen dem Heiligen Geist noch nicht ganz verschlossen sind, zeigen sich empfänglich für Freundlichkeit. Haben sie Hass um Hass gegeben, werden sie nun Liebe mit Liebe vergelten. Der Geist Gottes aber wird sie dahin führen, dass auch sie Liebe für Hass geben können. Zu Undankbaren und Bösen freundlich sein, Gutes tun ohne Hoffnung auf Entgelt, das ist das Kennzeichen himmlischen Königtums, und so legen die Kinder des Höchsten ihren hohen Standpunkt dar.

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