Die goldene Regel
„Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.“ (Matthäus 7,12)
Wenn Jesus uns der Liebe Gottes gewiss macht, will er auch die brüderliche Liebe betonen. Um das zum Ausdruck zu bringen, hat er hier ein Wort geprägt, das in seiner Tiefe auf das ganze Gemeinschaftsleben der Menschen anwendbar ist.
Die Juden waren immer nur darauf bedacht, etwas zu empfangen. Sie machten sich viel Angst und Sorge um die Mehrung ihrer Macht, ihres Ansehens und des ihnen zu leistenden Dienstes. Christus aber lehrt, dass wir uns nicht um die Frage sorgen sollen, wieviel wir empfangen möchten, sondern wieviel wir geben können. Der Maßstab fremder Pflichten gegen uns ist mit dem Maß der von uns gegen die anderen erfüllten Pflicht gegeben.
Versetze dich in des anderen Lage. Vergegenwärtige dir sein Fühlen, seine Schwierigkeiten, seine Enttäuschungen, seine Freuden und seine Leiden. Denke, du stecktest in seiner Haut, und dann tu ihm danach, wie du wünschest, dass in gleicher Lage dir getan würde. Dies ist ein rechtes Gesetz der Redlichkeit. Anders ausgedrückt lautet es: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (3.Mose 19,18) So haben’s schon die Propheten je und je als Hauptsache verkündigt. Es ist himmlisches Gesetz, das sich in allen entfalten wird, die seiner Weisung folgen.
Die Herzensbildung beruht auf dieser goldenen Regel, die am getreuesten Jesus in seinem Wesen und Leben abgebildet hat. Wie sanft und lieblich erscheint uns doch der Heiland in seiner täglichen Lebensführung! Welche Güte umgab ihn! Seine Kinder werden desselben Geistes sein. Wem Christus innewohnt, den umgibt ein Hauch Gottes. Seine reinen weißen Kleider duften nach dem Garten des Herrn. Sein Antlitz strahlt das Licht des Ewigen wider und leuchtet auf dem Wege denen, die straucheln und müde geworden sind. Stellt jemand wirklich das Edelbild einer vollkommenen Persönlichkeit dar, dann wird er keinesfalls das Mitgefühl und das Zartgefühl Christi vermissen lassen.
Der Einfluss der Gnade macht das Herz weich, veredelt und läutert das Fühlen und verleiht jenes von oben stammende Feingefühl. Doch die goldene Regel hat noch eine tiefere Bedeutung. Jeder, den die mannigfaltige Gnade Gottes zum Haushalter gemacht hat, wird aufgerufen, den in Unwissenheit und Finsternis befindlichen Menschen von seinem Gut mitzuteilen; denn wäre er an ihrer Stelle, so würde er ja auch gern am Segen teilhaben. Der Apostel Paulus schrieb: „Ich bin ein Schuldner der Griechen und der Nichtgriechen, der Weisen und der Nichtweisen.“ (Römer 1,14)
Von allem, was du um die Liebe Gottes weißt, ja von allem, was du an seinen reichen Gnadengütern mehr empfangen hast als der in tiefster Nacht und größtem Elend befindliche Mensch auf Erden, bist du diesem selben Menschen schuldig, etwas abzugeben.
So ist’s auch mit den Gaben und Segnungen dieses Lebens. Was du mehr als deine Mitmenschen besitzt, setzt dich im Maße deines Überschusses in Schuld bei ihnen, den weniger Begünstigten. Besitzen wir Reichtum, verfügen wir über mancherlei Bequemlichkeiten, dann obliegt uns die feierliche Pflicht, für elende Kranke, Witwen und Waisen zu sorgen, würden wir doch bei Umkehrung der Verhältnisse genau das gleiche von ihnen erwarten.
Die goldene Regel enthält auf der andern Seite die gleiche Wahrheit, die sich auch anderswo in der Bergpredigt findet: „Mit welcherlei Maß ihr messt, wird euch gemessen werden.“ Was wir anderen antun, wird, je nachdem es gut oder böse ist, als Segen oder als Fluch zu uns zurückkommen. Wir erhalten stets wieder, was wir gegeben haben. Was wir anderen an irdischen Segnungen zuteil werden ließen, wird uns oft genug in ähnlicher Weise entgolten. In einer Notlage mag uns unsere Guttat mit himmlischer Münze vierfach zurückerstattet werden. Aber außerdem haben wir auch reichen Lohn schon in diesem Leben dadurch, dass die Liebe Gottes reicher auf uns einströmt, und das ist ja das Höchste, was uns an himmlischer Herrlichkeit und an himmlischen Gütern zuteil werden kann. Genauso kehrt nun auch die böse Tat zu uns zurück. Wer sich erlaubt hat zu verdammen und zu entmutigen, muss in seinem eigenen Leben ebenfalls durch die Gegend schreiten, wohin er andere hat gehen lassen. Er wird genau das zu erleiden haben, was andere Menschen durch seinen Gefühlsmangel und seine Lieblosigkeit erdulden mussten.
So hat es Gott in seiner Liebe verordnet. Will er doch gegen unsere eigene Hartherzigkeit Hass in uns entzünden und unsere Herzen aufschließen, dass Jesus darin wohne. So werden wir jenseits des Bösen gestellt, genießen Gutes, und was uns Fluch schien, wird zum Segen.
Die Grundlagen der goldenen Regel und des Christentums sind die gleichen. Wer davon etwas abstreichen will, betrügt. Eine Religion, durch die wir solche Menschen geringschätzen würden, die Christus mit dem hohen Preis seiner eigenen Dahingabe bewertet hat, eine Religion, die uns den Nöten, Leiden und Rechten des Menschen gegenüber fahrlässig machen würde, hat keinen Anspruch auf Geltung. Wenn wir das Anrecht der Armen, Leidenden und Sünder auf Hilfe missachten, erweisen wir uns als Verräter Christi.
Das Christentum hat deshalb so wenig Macht in der Welt, weil die Menschen, die sich nach dem Namen Christi nennen, im Leben sein Wesen verleugnen. Durch diesen Sachverhalt wird der Name des Herrn gelästert.
Von der Apostelgemeinde jener Tage, als die Herrlichkeit des auferstandenen Heilandes ihr noch leuchtete, steht geschrieben, dass „nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären“. „Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte.“ „Und mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.“ „Und sie waren täglich und stets beieinander einmütig im Tempel und brachen das Brot hin und her in den Häusern, nahmen die Speise mit Freuden und lauterem Herzen, lobten Gott und hatten Gnade bei dem ganzen Volk. Der Herr aber tat hinzu täglich, die gerettet wurden, zu der Gemeinde.“ (Apostelgeschichte 4,32.34.33; Apostelgeschichte 2,46.47)
Durchforsche Himmel und Erde, und du wirst vergeblich nach einer mächtigeren Offenbarung der Wahrheit suchen als der, die sich im Werk der Barmherzigkeit an denen zeigt, die Teilnahme und Hilfe brauchen. Das ist die Wahrheit in Christus. Wer den Namen Christi bekennt und die goldene Regel durchführt, dessen Heilsverkündigung wird die gleiche Kraft begleiten wie zur Zeit der Apostel.