Splitter in deines Bruders Auge
„Was siehst du aber den Splitter im Auge deines Bruders, und den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen! – und siehe, der Balken ist in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann wirst du klar sehen, um den Splitter aus dem Auge deines Bruders zu ziehen!“ (Matthäus 7,3-5)
Noch nicht einmal das Wort: „Weil du eben dasselbe tust, was du richtest“ macht die Größe der Sünde dessen ganz verständlich, der sich anmaßt, seinen Bruder zu beurteilen und zu verurteilen. Jesus sagte weiter: „Was siehest du aber den Splitter in deines Bruders Auge und wirst nicht gewahr des Balkens in deinem Auge?“
Dies Wort bezieht sich auf solche Leute, die so schnell an anderen Fehler entdecken. Glauben sie im Wesen und Leben des Nächsten einen Makel entdeckt zu haben, so gehen sie flink her und sorgen dafür, dass er bekannt wird. Jesus dagegen bezeugt, dass mit solch unchristlichem Verhalten ein Wesenszug zutage tritt, der sich zu dem beanstandeten Fehler verhält wie der Balken zum Splitter. Es fehlt an der Gesinnung des Tragenkönnens und der Liebe, wenn man aus der Mücke einen Elefanten macht. Wer mit der ganzen Hingabe an Christus nicht Zerknirschung erlebt hat, dessen Leben spendet nicht den milden Balsam der Heilandsliebe. Er gibt nicht das richtige Bild vom Evangelium voll seines sanften, freundlichen Geistes und verletzt Menschen, die dem Herrn köstlich sind, weil Christus sie erkauft hat. Dem Bilde gemäß, das der Heiland hier gebraucht, macht sich der Tadelsüchtige größerer Sünde schuldig als der von ihm Beschuldigte. Begeht er doch nicht allein die gleiche Sünde, sondern fügt auch noch Hochmut und Tadelgeist hinzu.
Christus ist die einzige wirklich vorbildliche Persönlichkeit. Wer sich selbst anderen als vorbildlich hinstellt, drängt sich auf den Platz Christi. Da der Vater alles Gericht dem Sohn übergeben hat (Johannes 5,22), greift jeder unrechtmäßigerweise in das heilige Recht des Sohnes Gottes ein, wenn er sich ein Urteil über die Beweggründe anderer anmaßt. Diese selbstgemachten Richter und Rechter stellen sich auf die Seite des Antichristen, „der da ist der Widersacher und sich überhebt über alles, was Gott oder Gottesdienst heißt, so dass er sich setzt in den Tempel Gottes und vorgibt, er sei Gott“. (2.Thessalonicher 2,4)
Der kalte, richtende, unversöhnliche Geist des Pharisäismus ist eine Sünde mit sehr verhängnisvollen Folgen. Das religiöse Leben ohne Liebe ist zugleich ein Leben ohne Jesus. Wer keine Liebe hat, dem ist seine Sonne untergegangen. Den Verlust kann er weder durch emsige Tätigkeit noch durch unchristlichen Eifer wettmachen. Es gibt Leute, die einen erstaunlichen Spürsinn für die Entdeckungen der Fehler anderer Menschen haben; doch Jesus sagt zu allen Kindern dieses Geistes: „Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge; danach sieh zu, wie du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest!“ Wer sich etwas zuschulden kommen lässt, ist auch der erste, der Böses argwöhnt. Als unsere Stammeltern gesündigt hatten, fingen sie gleich an, einander zu beschuldigen. In diesen Fehler wird der Mensch unweigerlich verfallen, wenn die Gnade Christi nicht in ihm wacht.
Wenn der Mensch diesen Anklagegeist nährt, wird er sich nicht damit begnügen, auf den vermeintlichen Fehler seines Nächsten aufmerksam zu machen. Er wird zunächst mildere Maßnahmen ergreifen, den anderen auf den nach seiner Meinung richtigen Weg zu bringen, und, wenn die nichts fruchten, auch den Zwang nicht scheuen. Soweit es in seiner Macht liegt, wird er dem anderen seine Rechtsbegriffe aufzwingen. So haben’s die Juden in den Tagen Christi gemacht und nach ihnen die Kirche, sobald sie von der Gnade Christi nichts mehr wusste. Aller Macht der Liebe bar, hat sie sich des mächtigen Arms des Staates bedient, ihre Lehren und Erlasse durchzusetzen. Und das ist das Geheimnis aller je erlassenen Religionsgesetze, das Geheimnis aller Verfolgungen von Abel bis auf unsere Zeit.
Christus treibt nicht, sondern zieht die Menschen zu sich. Den einzigen Druck übt er durch seine Liebe aus. Wenn die Kirche anfängt, nach weltlicher Macht Ausschau zu halten, erbringt sie damit den Beweis, dass ihr die Kraft Christi fehlt, dass es ihr an göttlicher Liebe ermangelt.
Die Schwierigkeit wurzelt beim einzelnen Angehörigen der Kirche. Bei ihm muss deshalb auch der Heilungsvorgang einsetzen. Jesus gebietet dem Verkläger, zuerst den Balken aus dem eigenen Auge zu ziehen, also von seinem Richtgeist zu lassen, seine eigene Sünde zu bekennen und abzulegen, ehe er andere zurechtzuweisen sucht. „Denn es ist kein guter Baum, der faule Frucht trage, und kein fauler Baum, der gute Frucht trage.“ (Lukas 6,43) Der Anklagegeist, den du nährst, ist eine faule Frucht und beweist, dass der ganze Baum faul ist. Es nützt dir gar nichts, wenn du dir durch Selbstgerechtigkeit zu helfen suchst. Dir tut eine Herzensänderung not. Hast du diese erlebt, dann eignest du dich dazu, andere zu berichtigen; denn „wes das Herz voll ist, des geht der Mund über“. (Matthäus 12,34)
Wenn ein Mensch in seinem Leben in innere Schwierigkeiten gerät und du ihm mit Rat und Mahnung zur Seite stehen willst, dann wohnt deinen Worten ein Einfluss zum Guten nur insoweit inne, als sie dein Leben und deine Gesinnung als Eigenbesitz ausweisen. Du musst gut sein, ehe du Gutes tun kannst. Du kannst niemand zu einer Umstellung beeinflussen, wenn du nicht selbst durch die Gnade Christi demütig, lauter und milde geworden bist. Hat sich dieser Wandel in dir vollzogen, dann kannst du gar nichts anderes als ein Segen sein, muss doch auch der Rosenbusch seine duftenden Blüten und der Weinstock seine köstlichen Trauben spenden.
Wenn Christus in dir die „Hoffnung der Herrlichkeit“ (Kolosser 1,27) ist, hast du gar kein Verlangen danach, anderen aufzulauern und ihre Fehler bloßzustellen. Statt zu beschuldigen und zu verdammen, richtest du dein Augenmerk darauf, zu helfen, zu segnen und zu retten. Kommst du mit einem Irrenden in Berührung, dann wirst du die Ermahnung beachten: „Siehe auf dich selbst, dass du nicht auch versucht werdest.“ (Galater 6,1) Du wirst dich daran erinnern, wie oft auch du gefehlt hast und wie schwer es dir fiel, wieder auf den rechten Weg zu kommen, nachdem du einmal abgewichen warst. Du wirst deinen Bruder nicht noch weiter in die Nacht hinausstoßen, sondern ihn mitleidsvoll auf seine Gefahr aufmerksam machen.
Wer oft nach dem Kreuz von Golgatha blickt und sich vergegenwärtigt, dass seine Sünden den Heiland dahin gebracht haben, wird nie versuchen, seine Schuld mit der eines anderen zu vergleichen. Er wird nicht den Richtersitz besteigen, um andere zu beschuldigen. Wer im Schatten des Kreuzes von Golgatha wandelt, den werden kein Richtgeist und keine Selbstgerechtigkeit beherrschen.
Erst wenn du dir gewiss bist, dass du dein Ich, ja selbst dein Leben opfern kannst, um einen irrenden Bruder zu retten, hast du den Balken aus deinem Auge gezogen und bist damit bereit, auch deinem Bruder zu helfen. Nun magst du dich ihm nahen und ihm zu Herzen reden. Durch Tadel und Vorwürfe ist noch nie jemand aus seiner falschen Einstellung befreit worden. Dagegen sind auf diese Weise schon gar viele von Christus abwendig gemacht und dahin gebracht worden, sich gegen jedes bessere Wissen zu verschließen.
Sanftmut, Milde und gewinnendes Wesen werden die Irrenden retten und eine Menge Sünden bedecken. Die Offenbarung Christi in deinem Wesen übt neuschaffende Kraft auf alle aus, mit denen du in Berührung kommst. Möge Christus sich täglich in dir offenbaren, möge aus dir die Schöpfermacht seines Wortes hervorbrechen, dann besitzt du jenen stillen, sanften und doch so mächtigen Einfluss, durch den andere in die Schönheit des Herrn, unseres Gottes, verwandelt werden.