Galater 4,8-11
„Aber zu der Zeit, als ihr Gott noch nicht kanntet, dientet ihr denen, die ihrer Natur nach nicht Götter sind. Nun aber, da ihr Gott erkannt habt, ja vielmehr von Gott erkannt seid, wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Mächten zu, denen ihr von Neuem dienen wollt? Ihr beachtet bestimmte Tage und Monate und Zeiten und Jahre. Ich fürchte für euch, dass ich vielleicht vergeblich an euch gearbeitet habe.“
Paulus wendet sich offenbar besonders an die heidnischen Mitglieder der galatischen Gemeinden und erinnert sie an ihre Erfahrungen, bevor sie Christen wurden. Gott hatte sich ihnen nicht offenbart und ihnen auch nicht sein Gesetz gegeben. Das bedeutete nicht, dass sie gänzlich ohne Gotteserkenntnis waren (vgl. Römer 1,18-21), aber Gott hatte den Juden eine besondere Offenbarung seiner selbst gegeben, die dadurch einen deutlichen Vorteil genossen hatten (vgl. Römer 3,1.2). Gott hatte über die frühere relative Unwissenheit der Heiden „hinweg gesehen“ (Apostelgeschichte 17,30).
Ihre früheren Götter waren Götzen oder falsche Götter und somit eigentlich gar keine Götter (siehe 1. Korinther 8,4; 10,20). Bevor sie von Christus erfuhren, waren die Heiden ihren Göttern hörig gewesen. Dies galt nicht für die Judenchristen, denn sie hatten keine Götzen angebetet, als sie von Christus erfuhren.
Die heidnischen Gläubigen aus Galatien waren nun nicht mehr in Unwissenheit (vgl. Apostelgeschichte 17,30) und waren ohne Entschuldigung. Sie hatten eine persönliche, experimentelle Erkenntnis Gottes erlangt und ein funktionierendes Wissen über die Erlösung genossen. Paulus bemüht sich, jede Möglichkeit zu vermeiden, dass die Galater sich rühmen sollten, den wahren Gott zu kennen. Sie hatten keinen Grund, sich selbst zu rühmen. Schließlich besteht das Heil in der Suche Gottes nach dem Menschen, nicht in der Suche des Menschen nach Gott (vgl. Johannes 3,16; Lukas 15,2.4). Sie waren zu Objekten seiner wohlwollenden Aufmerksamkeit geworden. Es stimmt, dass Jesus gekommen ist, um alle zu suchen und zu retten, die verloren sind (Lukas 19,10), aber andererseits wird Gott nur von denen gefunden, die fleißig nach ihm suchen (Jeremia 29,13).
„wie wendet ihr euch dann wieder den schwachen und dürftigen Mächten zu, denen ihr von Neuem dienen wollt?“ In der ernsten Hoffnung, das vernebelte Denken der Galater zu durchdringen, wendet sich Paulus direkt an sie und unterbricht gewissermaßen den logischen Fluss seiner Argumentation. Das Präsens deutet an, dass der Prozess der Umkehr noch im Gange ist. Sie haben sich noch nicht vollständig bekehrt. Das gr. „epistrephō“, („zuwenden“), wird üblicherweise mit „sich bekehren“ oder „bekehrt werden“ übersetzt (siehe Markus 4,12; Lukas 22,32; Johannes 12,40; Apostelgeschichte 3,19). Sie waren einst von der Bindung an die rohen, rudimentären Konzepte und Praktiken des Heidentums befreit worden. Jetzt stürzten sie zurück in eine Form der Knechtschaft, die kaum besser war als die, aus der sie durch das Evangelium befreit worden waren. Jedes dieser Systeme war ein vergeblicher Versuch, Gerechtigkeit durch Werke zu erlangen. Hatten die Galater die Riten und Zeremonien des Heidentums nur deshalb aufgegeben, damit sie die des Judentums übernehmen konnten? In der Praxis war das Judentum zu einem System äußerer Vorschriften verkommen, das sich in mancher Hinsicht kaum noch von dem der heidnischen Religionen unterschied. „Das Gesetz“ war „schwach“, weil es nicht einmal seine eifrigsten Anhänger zu retten vermochte, und es war „dürftig“, weil ihm der entscheidende Funke des Lebens fehlte. Außerdem hatten die Juden dem „Gesetz“ so viele Traditionen hinzugefügt, dass sein ursprünglicher Zweck verdunkelt worden war und es zu einer Last für diejenigen geworden war, die versuchten, seine Anforderungen zu erfüllen, um das Heil zu erlangen (vgl. Markus 7,3). Die Galater gaben alle Vorteile des Evangeliums auf und erhielten dafür nichts. Ihre Bekehrung zum Judentum war freiwillig. Sie schienen darauf erpicht zu sein, ihre unbezahlbare Freiheit gegen das Elend der Knechtschaft einzutauschen!
„Ihr beachtet bestimmte Tage und Monate und Zeiten und Jahre.“ Das Griechische impliziert peinlichste Genauigkeit. Paulus bezieht sich mit den „Tagen und Monaten“ auf die sieben zeremoniellen Sabbate und die Neumonde des zeremoniellen Systems (siehe 3. Mose 23; 4. Mose 10,10; 28,11-15). Es gibt keine Grundlage in der Schrift für die Annahme, dass sich die „Tage“, von denen Paulus hier spricht, auf den Siebenten-Tags-Sabbat beziehen, wie es einige tun. Nirgendwo in der Bibel wird auf den siebten Tag in der hier verwendeten Sprache Bezug genommen. Außerdem wurde der Siebenten-Tags-Sabbat bei der Schöpfung eingeführt (siehe 1. Mose 2,1-3; 2. Mose 20,8-11), also vor dem Eintritt der Sünde und etwa 2.500 Jahre vor der Einführung des Zeremonialsystems am Berg Sinai. Wenn die Einhaltung des Siebenten-Tags-Sabbats den Menschen in die Knechtschaft führt, dann muss der Schöpfer selbst in die Knechtschaft geraten sein, als er den ersten Sabbat der Welt hielt und diese Schlussfolgerung ist undenkbar.
„Zeiten“. Wörtlich „festgesetzte Zeiten“, hier die jährlich festgelegten Feste des jüdischen religiösen Kalenders (siehe 4. Mose 28,2). „Jahre“. Gemeint sind das Sabbatjahr und das Jubeljahr (siehe 2. Mose 23,10, 11; 3. Mose 25,8-12). „Ich fürchte für euch, dass ich vielleicht vergeblich an euch gearbeitet habe.“ Es schien unglaublich, dass die Galater so leicht von der Freiheit in die Knechtschaft zurückgeführt werden konnten. Könnte es sein, dass sie wirklich verstanden, was sie taten, und vorhatten, trotzdem weiterzumachen? Aus jedem Blickwinkel betrachtet, machte ihr Vorgehen keinen Sinn. Wenn die aufopferungsvollen Bemühungen des Paulus für sie (Galater 4,13.14) nur dazu führten, dass sie eine Art von Knechtschaft gegen eine andere eintauschten, waren diese Bemühungen in der Tat umsonst!