Das Gesetz des neuen Königreichs
Matthäus 20,20-28; Markus 10,32-45; Lukas 18,31-34
Als das Passafest näher rückte, reiste Jesus erneut nach Jerusalem. Sein Herz war mit Frieden erfüllt, weil er in vollkommener Übereinstimmung mit dem Willen seines Vaters lebte. Mit entschlossenem Schritt ging er der Opferstätte entgegen. Doch ein Gefühl von Ungewissheit, Angst und Zweifel befiel die Jünger. »Jesus ging ihnen voran. Alle, die dabei waren, wunderten sich; die Jünger aber hatten Angst.« (Markus 10,32b GNB) Wieder rief Jesus die Zwölf zu sich. Mit Worten, die eindringlicher waren als je zuvor, eröffnete er ihnen, dass er verraten werden würde und leiden müsse. »Wir gehen jetzt nach Jerusalem hinauf; dort wird sich alles erfüllen, was bei den Propheten über den Menschensohn steht: Er wird den Heiden ausgeliefert, wird verspottet, misshandelt und angespuckt werden, und man wird ihn geißeln und töten. Aber am dritten Tag wird er auferstehen. Doch die Zwölf verstanden das alles nicht; der Sinn der Worte war ihnen verschlossen, und sie begriffen nicht, was er sagte.« (Lukas 18,31-34 EÜ) Hatten sie nicht eben noch überall verkündigt: »Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen«? (Matthäus 10,7b) Hatte Christus nicht selbst verheißen, dass viele »mit Abraham und Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen« würden (Matthäus 8,11b)? Hatte er nicht allen, die seinetwegen etwas aufgegeben hatten, versprochen, dass er es ihnen in diesem Leben hundertfältig vergelten würde und sie Anteil an seinem Königreich haben würden? (vgl. Matthäus 19,29) Und hatte er den zwölf Jüngern nicht das besondere Versprechen gegeben, dass sie in seinem Reich eine Stellung einnehmen werden, die mit hohen Ehren verbunden sein wird? Würden sie nicht einst »sitzen auf zwölf Thronen und richten die zwölf Stämme Israels« (Matthäus 19,28b)? Eben noch hatte er betont, dass sich alles, was die Propheten über ihn geschrieben hatten, erfüllen werde. Hatten die Propheten nicht den Glanz der messianischen Herrschaft vorhergesagt? Im Licht dieser Überlegungen erschienen die Worte von Jesus über Verrat, Verfolgung und Tod unklar und geheimnisvoll. Trotz aller Schwierigkeiten, die kommen würden, glaubten die Jünger, das Königreich werde bald aufgerichtet werden.
Johannes, der Sohn des Zebedäus, war einer der ersten beiden Jünger, die Jesus nachgefolgt waren. Er und sein Bruder Jakobus gehörten zur ersten Gruppe, die alles verlassen hatte, um ihm zu dienen. Freudig hatten sie sich von ihrem Zuhause und ihren Freunden getrennt, damit sie mit Jesus zusammen sein konnten. Sie zogen mit ihm und redeten mit ihm. Sie waren an seiner Seite, wenn er sich in ein Heim zurückzog oder öffentliche Versammlungen abhielt. Er hatte ihre Ängste gestillt, sie aus Gefahren gerettet, von Leiden befreit und sie getröstet, wenn sie traurig waren. Er hatte die Jünger so lange geduldig und liebevoll belehrt, bis es schien, als wären ihre Herzen mit dem seinen verbunden. In inniger Liebe sehnten sie sich danach, ihm in seinem Königreich am nächsten zu sein. Bei jeder Gelegenheit nahm Johannes den Platz neben dem Erlöser ein, und Jakobus wünschte sich nichts sehnlicher, als durch eine enge Beziehung zu ihm geehrt zu sein. Auch ihre Mutter folgte Jesus nach und hatte ihn großzügig mit dem, was sie besaß, unterstützt. In ihrer mütterlichen Liebe und im Eifer um ihre Söhne begehrte sie für die beiden die ehrenvollsten Plätze im neuen Königreich. Darum ermutigte sie ihre Söhne, die entsprechende Bitte vorzutragen. Deshalb kamen sie gemeinsam zu Jesus und baten ihn, ihnen ein Herzensanliegen zu erfüllen. »Was soll ich für euch tun?«, fragte er sie (Markus 10,36 NLB). Die Mutter antwortete: »Erlaube doch, dass meine beiden Söhne in deinem Reich neben dir sitzen, der eine an deiner rechten Seite und der andere an deiner linken Seite.« (Matthäus 20,21b NGÜ) Doch Jesus ging liebevoll mit ihnen um. Er tadelte sie nicht dafür, dass sie sich in ihrer Selbstsucht einen Vorteil gegenüber den anderen Jüngern verschaffen wollten. Er kannte ihre Herzen und wusste, wie sehr sie ihn liebten. Ihre Liebe war nicht nur menschliche Zuneigung. Obwohl diese Liebe durch ihre irdische Natur verunreinigt war, entsprang sie doch der Quelle seiner eigenen erlösenden Liebe. Deshalb wollte er sie nicht tadeln, sondern stärken und läutern. Er fragte: »Könnt ihr den Kelch trinken, den ich trinke, und getauft werden mit der Taufe, womit ich getauft werde?« (Matthäus 20,22a Schl.) Sie erinnerten sich an seine geheimnisvollen Worte, die auf Verfolgung und Leiden hingedeutet hatten. Trotzdem antworteten sie zuversichtlich: »Wir können es!« (Matthäus 20,22b Schl.) Es wäre für sie die größte Ehre gewesen, ihm dadurch ihre Treue zu beweisen, dass sie alles, was ihrem Herrn widerfahren sollte, mit ihm teilten. »Ihr werdet tatsächlich den gleichen Kelch trinken wie ich und mit der Taufe getauft werden, die mir bevorsteht«, sagte Jesus daraufhin (Markus 10,39b GNB). Anstelle eines Thrones stand ihm ein Kreuz bevor, mit zwei Übeltätern als Leidensgenossen, einer zu seiner Rechten und einer zu seiner Linken. Johannes und Jakobus sollten tatsächlich an den Leiden ihres Meisters teilhaben! Der eine sollte als erster der Brüder durch das Schwert umkommen. Der andere würde am längsten von allen Mühsal, Schande und Verfolgung erdulden müssen. »Aber ich habe nicht das Recht zu bestimmen, wer einmal neben mir sitzen wird. Mein Vater hat diese Plätze für die bestimmt, die er ausgewählt hat.« (Matthäus 20,23b NLB) Im Reich Gottes erhält man keine Stellung durch Begünstigung. Man verdient sie nicht, noch wird sie einem willkürlich geschenkt. Sie ist das Ergebnis des Charakters. Krone und Thron sind Beweise für einen erlangten Zustand. Es sind die Zeichen der Selbstüberwindung durch unseren Herrn Jesus Christus.
Lange Zeit später, als Johannes mit Christus durch dessen Leiden gegangen war und sich dadurch eine enge Verbindung mit ihm entwickelt hatte, offenbarte ihm der Herr, was die Bedingung für die Gottesnähe in seinem Königreich ist. Er sagte zu ihm: »Dem, der siegreich aus dem Kampf hervorgeht, werde ich das Recht geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, so wie auch ich den Sieg errungen habe und jetzt mit meinem Vater auf seinem Thron sitze.« (Offenbarung 3,21 NGÜ) »Den, der siegreich aus dem Kampf hervorgeht, werde ich zu einem Pfeiler im Tempel meines Gottes machen, und er wird seinen Platz für immer behalten. Und auf seine Stirn werde ich den Namen meines Gottes schreiben … und meinen eigenen neuen Namen.« (Offenbarung 3,12 NGÜ) Oder wie der Apostel Paulus schrieb: »Was mich betrifft, so wurde mein Leben schon als Opfer für Gott ausgegossen, und der Augenblick meines Todes ist nahe. Ich habe den guten Kampf gekämpft, den Lauf vollendet und bin im Glauben treu geblieben. Nun erwartet mich der Preis – der Siegeskranz der Gerechtigkeit, den der Herr, der gerechte Richter, mir am großen Tag seiner Wiederkehr geben wird.« (2. Timotheus 4,6-8a NLB) Derjenige, der auf Erden am meisten vom Geist seiner selbstaufopfernden Liebe in sich aufgenommen hat, steht Christus am nächsten. Von dieser Liebe heißt es: »Sie prahlt nicht, sie bläht sich nicht auf … sucht nicht ihren Vorteil, lässt sich nicht zum Zorn reizen, trägt das Böse nicht nach.« (1. Korinther 13,4b.5 EÜ) Diese Liebe ist es, welche einen Jünger – wie einst unseren Herrn – dazu bewegt, alles für die Errettung der Menschen zu geben, zu leben, zu wirken und sich aufzuopfern, sogar bis zum Tod. Dieser Geist wurde im Leben von Paulus sichtbar. Er schrieb: »Für mich ist Christus das Leben« – durch sein Leben konnte Paulus den Menschen Christus offenbaren – »und das Sterben ein Gewinn« (Philipper 1,21 Schl.) – ein Gewinn für Christus. Der Tod selbst würde die Macht von Gottes Gnade sichtbar werden lassen und Menschen dazu führen, Jesus als ihren Erlöser anzunehmen. Sein Wunsch war es, dass »Christus hoch gepriesen wird an meinem Leib, es sei durch Leben oder durch Tod« (Philipper 1,20b Schl.). Als die anderen Jünger hörten, welchen Wunsch Jakobus und Johannes vorgebracht hatten, waren sie sehr verärgert. Der höchste Platz im Reich Gottes war genau das, was sich jeder von ihnen wünschte. Nun waren sie aufgebracht, weil die beiden ihnen gegenüber scheinbar einen Vorteil hatten. Es schien, als würde der alte Streit, wer von ihnen wohl der Größte sei, erneut ausbrechen. Doch Jesus rief sie zu sich und sagte zu den empörten Jüngern: »Ihr habt erfahren, dass in dieser Welt die Könige Tyrannen sind und die Herrschenden die Menschen oft ungerecht behandeln. Bei euch sollte es anders sein.« (Markus 10,42.43a NLB)
In den weltlichen Reichen bedeuteten Rang und Würde Selbstverherrlichung. Vom Volk wurde erwartet, dass es für das Wohlergehen der Führungsschicht sorgte. Einfluss, Wohlstand und Bildung boten den Herrschern viele Möglichkeiten, zu ihren Gunsten die Kontrolle über die Massen zu gewinnen. Das Denken, das Entscheiden, das Genießen und das Herrschen waren Sache der Oberschicht. Die niedrigen Gesellschaftsschichten hatten zu gehorchen und zu dienen. Wie alle anderen Bereiche war auch die Religion von autoritärem Verhalten geprägt. Vom Volk wurde erwartet, dass es glaubte und ausführte, was die Oberen befahlen. Das Grundrecht eines jeden Menschen, selbstständig zu denken und zu handeln, war überhaupt nicht anerkannt. Doch Christus errichtete ein Reich mit anderen Grundsätzen. Er rief die Menschen nicht zum Herrschen, sondern zum Dienen auf. Dabei sollte der Starke die Gebrechen des Schwachen tragen. Wer über Macht, Stellung, Begabung und Bildung verfügte, war in besonderer Weise zum Dienst an seinen Mitmenschen verpflichtet. Zu den geringsten Nachfolgern von Christus wurde gesagt: »Es geschieht alles um euretwillen.« (2. Korinther 4,15a Schl.) »Selbst der Menschensohn ist nicht gekommen, um sich dienen zu lassen, sondern um anderen zu dienen und sein Leben als Lösegeld für viele Menschen hinzugeben.« (Markus 10,45 NLB) Unter seinen Jüngern war Christus in jeder Hinsicht einer, der seine Mitmenschen umsorgte und ihre Lasten trug. Er teilte ihre Armut und verleugnete sich ihretwegen selbst. Er ging vor ihnen her, um für sie Schwierigkeiten aus dem Weg zu räumen. Und bald würde er sein Werk auf Erden vollenden, indem er sein Leben hingab. Die grundsätzliche Einstellung, nach der Christus handelte, sollte die Glieder der Gemeinde, »die sein Leib ist« (Epheser 1,23 Elb.), anspornen. Das Fundament der Erlösung ist die Liebe. Im Königreich von Christus gelten jene als die Größten, die dem Beispiel von Jesus folgen und wie Hirten handeln, die sich um seine Herde kümmern. Die Worte von Paulus offenbaren die wahre Würde und Ehre eines christlichen Lebens: »Denn ich bin also frei und keinem Menschen gegenüber zu irgendetwas verpflichtet. Und doch habe ich mich zum Sklaven aller gemacht, um möglichst viele für Christus zu gewinnen.« (1. Korinther 9,19 NGÜ) »Ich bin nicht auf meinen eigenen Vorteil aus, sondern habe die vielen anderen Menschen im Blick; denn ich möchte, dass sie gerettet werden.« (1. Korinther 10,33b NGÜ)
In Gewissensangelegenheiten muss der Mensch frei bleiben. Niemand darf das Denken eines anderen beherrschen, für jemand anderen urteilen oder jemandem vorschreiben, was er zu tun hat. Gott gewährt jedem Menschen die Freiheit, selbst zu denken und seiner Überzeugung zu folgen. »So wird nun jeder von uns für sich selbst Gott Rechenschaft geben.« (Römer 14,12) Niemand darf seine eigene Persönlichkeit in der eines anderen Menschen aufgehen lassen. In allen Bereichen, in denen Grundsätze eine Rolle spielen, gilt: »Ein jeder sei in seiner Meinung gewiss.« (Römer 14,5b) Im Reich von Christus gibt es keine gebieterische Unterdrückung und keine erzwungene Verhaltensweise. Die himmlischen Engel kommen nicht auf die Erde, um zu herrschen und Ehrerbietung einzufordern, sondern sie kommen als Boten der Barmherzigkeit, um in der Zusammenarbeit mit den Menschen die Menschheit zu erbauen. Die Prinzipien und die genauen Worte der Lehren des Erlösers blieben in ihrer göttlichen Schönheit seinem geliebten Jünger in Erinnerung. Bis in seine letzten Tage hinein fühlte sich Johannes für die Gemeinden verantwortlich. Er bezeugte: »Das ist die Botschaft, die ihr von Anfang an gehört habt: Wir sollen einander lieben.« (1. Johannes 3,11 NLB) »Christus gab sein Leben für uns hin; daran haben wir erkannt, was Liebe ist. Auch wir müssen deshalb unser Leben für unsere Brüder und Schwestern einsetzen.« (1. Johannes 3,16 GNB) Dies war der Geist, mit dem die ersten Christen erfüllt waren. Nach der Ausgießung des Heiligen Geistes heißt es: »Die ganze Gemeinde war ein Herz und eine Seele, und nicht einer nannte etwas von dem, was er besaß, sein Eigentum.« (Apostelgeschichte 4,32 ZÜ) »Ja, es gab niemanden unter ihnen, der Not litt.« (Apostelgeschichte 4,34a ZÜ) »Mit großer Kraft legten die Apostel Zeugnis ab von der Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade ruhte auf ihnen allen.« (Apostelgeschichte 4,33 ZÜ)