Die Hochzeit zu Kana
Johannes 2,1-11
Jesus begann seinen Dienst nicht in Jerusalem mit einem großen Auftritt vor dem Hohen Rat. An einem Familienfest in einem kleinen galiläischen Dorf offenbarte er seine Macht, indem er zur Freude einer Hochzeitsfeier beitrug. Dadurch zeigte er sein Mitgefühl für die Menschen und sein Verlangen, ihr Leben glücklich zu machen. In der Wüste, wo er versucht worden war, hatte er den Leidenskelch selbst getrunken. Und nun kam er, um den Menschen den Kelch des Segens zu reichen, wobei er durch diesen Segen die Beziehungen unter den Menschen heiligte. Vom Jordan war Jesus nach Galiläa zurückgekehrt. In Kana, einer kleinen Stadt unweit von Nazareth, sollte bei Verwandten seiner Eltern Josef und Maria eine Hochzeit stattfinden. Jesus wusste von diesem Familienfest, ging nach Kana und wurde mit seinen Jüngern zum Fest eingeladen.
Hier traf er nach längerer Zeit seine Mutter wieder. Maria hatte von den Ereignissen bei seiner Taufe am Jordan gehört. Die Neuigkeiten waren bis nach Nazareth gedrungen und hatten in ihr Erinnerungen geweckt, die so viele Jahre in ihrem Herzen verborgen geblieben waren. Auch sie war, wie alle anderen in Israel, vom Auftreten des Täufers tief bewegt worden. Sie konnte sich gut an die Vorhersagen bei seiner Geburt erinnern. Seine Beziehung zu Jesus weckte neue Hoffnungen in ihr. Aber die Nachricht über das geheimnisvolle Verschwinden von Jesus in die Wüste hatte sie ebenfalls erreicht und mit beunruhigenden Vorahnungen erfüllt. Von dem Tag an, als sie die Ankündigung des Engels in ihrem Heim in Nazareth gehört hatte, bewahrte Maria jeden Hinweis darauf, dass Jesus der Messias war, in ihrem Herzen. Sein reines, selbstloses Leben gab ihr die Gewissheit, dass er der von Gott Gesandte war. Trotzdem wurde sie manchmal von Zweifeln und Enttäuschungen geplagt und sehnte sich danach, dass Jesus seine Herrlichkeit offenbar machen würde. Josef, der mit ihr um das Geheimnis der Geburt von Jesus wusste, war gestorben. Maria hatte niemanden, mit dem sie über ihre Hoffnungen und Ängste reden konnte. Die letzten zwei Monate waren für sie sehr sorgenvoll gewesen. Jesus, dessen Mitgefühl ihr stets ein Trost war, hatte sein Zuhause verlassen. Sie hatte viel über die Worte Simeons nachgedacht: »Auch durch deine Seele wird ein Schwert dringen« (Lukas 2,35). Sie erinnerte sich auch an die drei Tage ihrer Seelenangst, als sie glaubte, Jesus für immer verloren zu haben. So wartete sie jetzt mit besorgtem Herzen auf seine Rückkehr. Auf der Hochzeit traf sie Jesus wieder – denselben liebevollen, pflichtbewussten Sohn. Und doch war er anders. Sein Aussehen hatte sich verändert. Er war von den Spuren seines Kampfes in der Wüste gezeichnet. Ein Ausdruck von Würde und Kraft zeugte nun von seiner göttlichen Sendung. Er wurde von einer Gruppe junger Männer begleitet, deren Augen ehrfürchtig auf ihn gerichtet waren und die ihn Meister nannten. Diese Begleiter berichteten Maria, was sie bei der Taufe von Jesus und bei anderen Gelegenheiten gehört und gesehen hatten. Sie schlossen mit den Worten: »Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben.« (Johannes 1,45) Als sich die Gäste versammelten, schienen sich viele für ein besonderes Gesprächsthema zu interessieren. Es herrschte eine gespannte Zurückhaltung. Sie standen in kleinen Gruppen zusammen und sprachen angeregt und leise miteinander. Verwunderte Blicke waren auf Marias Sohn gerichtet. Nachdem Maria die Worte der Jünger über Jesus gehört hatte, wurde sie von der freudigen Gewissheit erfüllt, dass ihre lang gehegten Hoffnungen nicht vergebens waren. Maria wäre nicht ein Mensch gewesen, hätte sich die heilige Freude nicht mit ihrem natürlichen Mutterstolz vermischt. Als sie die vielen Blicke sah, die auf Jesus gerichtet waren, wünschte sie sich sehnlichst, er würde der Hochzeitsgesellschaft beweisen, dass er wirklich der Geehrte Gottes war. Sie hoffte auf eine Gelegenheit, bei der er öffentlich ein Wunder vollbringen würde.
In jener Zeit war es üblich, dass die Feierlichkeiten einer Hochzeit mehrere Tage dauerten. Bevor das Fest zu Ende war, stellte sich heraus, dass der Vorrat an Wein nicht ausreichen würde, was Bestürzung und Sorge auslöste. Es war ungewöhnlich, an Festen auf Wein zu verzichten. Das Fehlen von Wein wäre als mangelnde Gastfreundschaft angesehen worden. Maria hatte als Verwandte des Brautpaares bei den Vorbereitungen zum Fest mitgeholfen und sagte jetzt zu Jesus: »Sie haben keinen Wein mehr.« (Johannes 2,3) Diese Worte waren ein Wink, dass er sie mit dem Nötigsten versorgen könnte. Aber Jesus antwortete: »Was geht‘s dich an, Frau, was ich tue? Meine Stunde ist noch nicht gekommen.« (Johannes 2,4) Diese uns schroff erscheinende Antwort drückte keine Kälte oder Unhöflichkeit aus. Die Art, wie der Erlöser seine Mutter anredete, entsprach durchaus der damaligen orientalischen Gepflogenheit. Man bediente sich dieser Anrede bei Personen, denen man Achtung erweisen wollte. Jede Handlung von Christus auf dieser Erde entsprach dem von ihm selbst erlassenen Gebot: »Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.« (2. Mose 20,12) Als Jesus am Kreuz seiner Mutter zum letzten Mal seine liebevolle Aufmerksamkeit schenkte, sprach er sie wieder in der gleichen Weise an und übergab sie dann der Fürsorge seines Lieblingsjüngers (vgl. Johannes 19,26). Sowohl bei der Hochzeit als auch am Kreuz erklärte die in seiner Stimme, seinem Blick und seinem Verhalten zum Ausdruck kommende Liebe die Bedeutung seiner Worte. Bei seinem Besuch als Junge im Tempel, als ihm das Geheimnis seiner Lebensaufgabe bewusst wurde, hatte Christus zu Maria gesagt: »Wisst ihr nicht, dass ich sein muss in dem, was meines Vaters ist?« (Lukas 2,49) Diese Worte umschrieben das Leitmotiv seines ganzen Lebens und Wirkens sehr treffend. Alles musste sich seinem großen Erlösungswerk unterordnen, das zu erfüllen er gekommen war. Nun wiederholte er diese Lehre. Weil Maria mit Jesus verwandt war, stand sie in der Gefahr, anzunehmen, dass sie ein besonderes Anrecht auf ihn hätte oder ihm gewissermaßen Anweisungen für seinen Dienst erteilen könnte. 30 Jahre lang war er ihr ein liebevoller und gehorsamer Sohn gewesen, und seine Liebe war unverändert geblieben. Doch nun musste er mit dem Werk seines himmlischen Vaters beginnen. Als Sohn des Allerhöchsten und als Erlöser der Welt durften ihn keine irdischen Bindungen von der Erfüllung seiner Aufgabe abhalten oder sein Verhalten beeinflussen. Er musste frei sein, um den Willen Gottes erfüllen zu können. Darin liegt auch eine Lehre für uns: Gottes Ansprüche stehen höher als die Bindungen menschlicher Beziehungen. Wir sollen uns durch keine irdischen Verlockungen vom Weg, den Gott uns zu gehen heißt, abbringen lassen. Die einzige Hoffnung auf Erlösung für unser gefallenes Menschengeschlecht liegt in Christus. Auch Maria konnte nur durch das Lamm Gottes Erlösung finden, denn sie selbst besaß keine eigenen Verdienste. Ihre Beziehung zu Jesus setzte sie in kein anderes geistliches Verhältnis ihm gegenüber als andere Menschen. Dies gab der Erlöser mit seinen Worten zu verstehen. Jesus machte eine klare Unterscheidung in seinem Verhältnis zu ihr als Menschensohn und als Gottessohn. Ihre verwandtschaftliche Beziehung stellte Maria in keiner Weise auf die gleiche Stufe mit ihm. Die Worte »Meine Stunde ist noch nicht gekommen« (Johannes 2,4) wiesen auf die Tatsache hin, dass jede Handlung von Christus in seinem irdischen Leben eine Erfüllung des Plans war, der schon seit ewigen Zeiten bestanden hatte. Bevor Jesus auf diese Erde kam, lag ihm der Plan in allen Einzelheiten vor. Als er aber unter uns Menschen weilte, wurde er Schritt für Schritt vom Willen seines Vaters geleitet. Er zögerte nicht, zu der für ihn bestimmten Zeit zu handeln. Der gleiche Gehorsam ließ ihn aber auch warten, bis seine Zeit gekommen war. Als er zu Maria sagte, dass seine Stunde noch nicht gekommen sei, reagierte Jesus auf ihren unausgesprochenen Gedanken – auf die Messiaserwartung, die Maria gemeinsam mit den anderen hegte. Sie hoffte, er würde sich als Messias offenbaren und den Thron Israels besteigen. Doch die Zeit dafür war noch nicht reif. Jesus hatte das Los der Menschheit nicht als König auf sich genommen, sondern als »ein Mann der Schmerzen und mit Leiden vertraut« (Jesaja 53,3 Elb.).
Obwohl Maria nicht das richtige Verständnis vom Auftrag ihres Sohnes hatte, vertraute sie ihm vorbehaltlos. Auf diesen Glauben antwortete Jesus. Das erste Wunder vollbrachte er, um Marias Vertrauen zu ehren und den Glauben seiner Jünger zu stärken. Die Jünger würden vielen großen Versuchungen begegnen, die ihren Glauben erschüttern. Die Prophezeiungen hatten ihnen über alle Meinungsverschiedenheiten hinweg klargemacht, dass Jesus der Messias war. Sie erwarteten, dass ihn die religiösen Führer mit noch größerem Vertrauen aufnehmen als sie selbst. Die Jünger erzählten dem Volk von seinen wunderbaren Taten und bezeugten damit ihr eigenes Vertrauen in seinen Dienst. Allerdings waren sie erstaunt und von der Tatsache bitter enttäuscht, mit wie viel Unglauben, großen Vorurteilen und Feindseligkeiten die Priester und Rabbiner Jesus begegneten. Die ersten Wunder des Erlösers bestärkten die Jünger darin, diesem Widerstand entgegenzutreten. Maria fühlte sich durch die Worte von Jesus in keiner Weise beunruhigt und sagte zu den Bediensteten am Tisch: »Was er euch sagt, das tut.« (Johannes 2,5) So tat sie das, was sie konnte, um den Weg für das Wirken von Christus vorzubereiten. Beim Eingang standen sechs große, steinerne Wasserkrüge. Jesus bat die Diener, sie mit Wasser zu füllen. So geschah es. Da der Wein dringend gebraucht wurde, sagte Jesus: »Schöpft nun und bringt‘s dem Speisemeister!« (Johannes 2,8) Statt des Wassers, mit dem die Krüge gefüllt worden waren, floss Wein heraus. Weder der Speisemeister noch die Gäste hatten den Mangel an Wein bemerkt. Als aber der Speisemeister den Wein kostete, den die Diener ihm brachten, fand er ihn bedeutend besser als jeden Wein, den er jemals zuvor getrunken hatte. Auch war er ganz anders als der Wein, der zu Beginn des Festes ausgeschenkt worden war. Er wandte sich an den Bräutigam und sagte: »Jeder bringt doch zuerst den guten Wein auf den Tisch, und wenn die Gäste schon reichlich getrunken haben, folgt der schlechtere. Aber du hast den guten Wein bis zuletzt aufgehoben!« (Johannes 2,10 GNB) So wie die Menschen zuerst den besten Wein auftragen und nachher den geringeren, so macht es die Welt mit ihren Gaben. Was sie anbietet, mag dem Auge gefallen und die Sinne fesseln, doch im Nachhinein erweist es sich als unbefriedigend. Der Wein verwandelt sich in Bitternis und die Fröhlichkeit in Schwermut. Was mit Gesang und Heiterkeit begonnen hat, endet mit Ernüchterung und Abscheu. Aber die Gaben, die Jesus verleiht, sind immer frisch und neu. Das Fest, das er für die Menschen zubereitet, schenkt immer Erfüllung und Freude. Jede neue Gabe, die wir empfangen, macht uns fähiger, die Segnungen Gottes zu schätzen und uns darüber zu freuen. Er schenkt Gnade um Gnade. Sein Vorrat ist unerschöpflich. Die Tatsache, dass du heute eine reiche Gabe erhältst, ist die Garantie dafür, dass du morgen, wenn du an ihm festhältst, ein noch kostbareres Geschenk erhalten wirst. Die Worte von Jesus an Nathanael enthalten die Regel, nach der Gott an gläubigen Menschen handelt. Mit jedem neuen Beweis seiner Liebe verspricht er dem offenen Herzen: »Glaubst du …? Du wirst noch viel größere Dinge erleben.« (Johannes 1,50 GNB)
Das Geschenk von Christus für das Hochzeitsfest war ein Sinnbild. Das Wasser stellte die Taufe in seinen Tod dar, der Wein das Vergießen seines Blutes für die Sünden der Welt. Das Wasser wurde durch menschliche Hände in die Krüge gefüllt. Doch die lebenspendende Kraft konnte dem Wasser allein durch das Wort von Christus verliehen werden. So ist es auch mit den Zeremonien, die auf den Tod des Erlösers hinweisen. Allein durch die Kraft von Christus, die durch den Glauben wirkt, können diese Handlungen den Menschen zur Stärkung dienen. Auf das Wort von Christus hin wurden die Hochzeitsgäste großzügig versorgt. Ebenso reichlich schenkt er seine Gnade, um alle Sünden der Menschheit zu tilgen und die Herzen zu erneuern und zu erhalten. Beim ersten Fest, das Christus mit seinen Jüngern besuchte, reichte er ihnen den Kelch, der sein Werk für ihre Errettung symbolisierte. Beim letzten Abendmahl gab er ihnen den Kelch erneut und setzte damit die heilige Handlung ein, die seinen Tod verkündigen soll, »bis er kommt« (1. Korinther 11,26). Beim Weggang ihres Herrn wurden die traurigen Jünger mit der Verheißung des Wiedersehens getröstet. Jesus sagte: »Ich werde von nun an nicht mehr von diesem Gewächs des Weinstocks trinken bis an den Tag, an dem ich von Neuem davon trinken werde mit euch in meines Vaters Reich.« (Matthäus 26,29) Der Wein, den Christus für die Gäste zubereitet hatte, und jener, den er den Jüngern als Sinnbild für sein Blut gab, war der reine Saft der Beeren. Darauf bezieht sich der Prophet Jesaja, wenn er vom neuen Wein, vom »Saft in der Traube« spricht und sagt: »Verdirb es nicht, denn es ist ein Segen darin!« (Jesaja 65,8) Es war Christus, der im Alten Testament das Volk Israel warnte: »Der Wein macht zum Spötter, das starke Getränk macht wild, und keiner, der sich damit berauscht, wird weise.« (Sprüche 20,1 Schl.) Und er selbst stellte kein solches Getränk bereit. Satan verführt die Menschen zu Genüssen, die den Verstand trüben und das geistliche Wahrnehmungsvermögen lähmen. Doch Christus lehrt uns, die niederen Triebe zu beherrschen. Sein ganzes Leben war ein Beispiel der Selbstverleugnung. Um die Macht der Begierden zu brechen, bestand er an unserer Stelle die schwerste Prüfung, welche die menschliche Natur ertragen konnte. Es war Christus, der Johannes den Täufer anwies, weder Wein noch starkes Getränk zu trinken (vgl. Lukas 1,15). Auch der Frau von Manoah schrieb er vor, enthaltsam zu sein (vgl. Richter 13,4). Er sprach einen Fluch über den Menschen aus, der seinen Nächsten betrunken macht (vgl. Habakuk 2,15). Christus widersprach seiner eigenen Lehre nicht. Der unvergorene Wein, den er für die Hochzeitsgäste bereitete, war ein gesundes und erfrischendes Getränk. Dessen Wirkung sollte den Geschmack mit einem gesunden Appetit in Einklang bringen. Als sich die Gäste auf dem Fest über die Güte des Weines äußerten, wurden Nachforschungen angestellt, was bewirkte, dass die Diener über das Wunder berichteten. Die Gäste waren für einen Augenblick so überrascht, dass sie gar nicht an den dachten, der das wunderbare Werk vollbracht hatte. Als sie ihn dann überall suchten, stellte sich heraus, dass er sich ganz unauffällig zurückgezogen hatte. Nicht einmal seine Jünger hatten es bemerkt. Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft richtete sich nun auf die Jünger. Zum ersten Mal hatten sie die Gelegenheit, ihren Glauben an Jesus zu bekennen. Sie berichteten, was sie am Jordan gesehen und gehört hatten. In vielen Zuhörern wurde die Hoffnung wach, dass Gott seinem Volk einen Befreier gesandt hatte. Die Nachricht vom Wunder auf dem Fest verbreitete sich in der ganzen Gegend bis nach Jerusalem. Mit neuem Eifer erforschten die Priester und Ältesten die Weissagungen, die auf das Kommen von Christus hinwiesen. Man war sehr daran interessiert, Näheres über das Wirken dieses neuen Lehrers zu erfahren, der so bescheiden unter dem Volk auftrat.
Der Dienst von Christus stand in deutlichem Gegensatz zu jenem der jüdischen Ältesten. Weil sie den Überlieferungen und dem Formenwesen so viel Beachtung schenkten, zerstörten sie die wahre Freiheit des Denkens und Handelns. Sie lebten in ständiger Angst, sich zu verunreinigen. Um die Berührung mit den »Unreinen« zu vermeiden, hielten sie sich nicht nur von den Heiden fern, sondern auch von den meisten Angehörigen ihres eigenen Volkes. Sie versuchten nicht, ihnen zum Segen zu sein oder sie als Freunde zu gewinnen. Indem sie sich ständig mit diesen Dingen befassten, ließen sie ihren Geist verkümmern und engten ihren Lebensbereich ein. Ihr Beispiel förderte Egoismus und Intoleranz in allen Volksschichten. Jesus begann sein Reformationswerk mit großer Anteilnahme für die Menschheit. Während er Gottes Gesetz höchste Ehrerbietung entgegenbrachte, tadelte er die überhebliche Frömmigkeit der Pharisäer und versuchte, das Volk von den sinnlosen und einengenden Vorschriften zu befreien. Er wollte die trennenden Schranken der verschiedenen Gesellschaftsklassen niederreißen und alle Menschen als Kinder einer einzigen Familie zusammenbringen. Seine Anwesenheit auf dem Hochzeitsfest sollte ein Schritt in diese Richtung sein. Gott hatte Johannes den Täufer in die Wüste geführt, um ihn vor dem Einfluss der Priester und Rabbiner zu bewahren und ihn auf seine besondere Aufgabe vorzubereiten. Aber die Einsamkeit und Entbehrung in seinem Leben waren nicht als Beispiel für das Volk gedacht. Johannes selbst hatte seine Zuhörer nicht angewiesen, ihre bisherige Tätigkeit aufzugeben. Er forderte sie dazu auf, ihre Sinnesänderung zu bekunden, indem sie Gott an jenem Platz treu dienten, an den er sie gerufen hatte. Jesus tadelte die Genusssucht in jeder Form, und doch war er von Natur aus gesellig. Er nahm die Gastfreundschaft von Menschen aller Volksschichten an und war in den Häusern der Armen ebenso zu Gast wie in den Villen der Reichen. Er verkehrte mit Gelehrten und Ungebildeten und versuchte, ihre Gedanken von alltäglichen Dingen auf Fragen des geistlichen und ewigen Lebens zu lenken. Er erteilte keinen Freibrief für Ausschweifungen, und kein Schatten von weltlichem Leichtsinn fiel auf sein Benehmen. Er fand Gefallen an natürlicher Fröhlichkeit und hieß geselliges Beisammensein durch seine Anwesenheit gut. Eine jüdische Hochzeit war ein eindrückliches Ereignis. Die Fröhlichkeit auf dem Fest missfiel dem Menschensohn nicht. Durch seine Teilnahme bekräftigte Jesus die Ehe als eine göttliche Einrichtung. Sowohl im Alten als auch im Neuen Testament stellt das Ehebündnis die liebevolle und heilige Beziehung zwischen Christus und seiner Gemeinde dar. Die frohe Hochzeitsfeier ließ die Gedanken von Jesus in die Zukunft schweifen, auf den freudigen Tag, an dem er seine Braut in das Haus seines Vaters heimführen wird – an dem Tag, an dem die Erlösten, zusammen mit ihrem Erlöser, am Hochzeitsmahl des Lammes teilnehmen werden. Er sagte: »Wie sich ein Bräutigam freut über die Braut, so wird sich dein Gott über dich freuen.« »Man soll dich nicht mehr nennen ›Verlassene‹ … sondern du sollst heißen ›Meine Lust‹ … denn der Herr hat Lust an dir.« (Jesaja 62,5.4) »Er wird sich über dich freuen und dir freundlich sein, er wird dir vergeben in seiner Liebe und wird über dich mit Jauchzen fröhlich sein.« (Zefanja 3,17) Als dem Apostel Johannes in einer Vision das Geschehen im Himmel gezeigt wurde, schrieb er: »Und ich hörte etwas wie eine Stimme einer großen Schar und wie eine Stimme großer Wasser und wie eine Stimme starker Donner, die sprachen: Halleluja! Denn der Herr, unser Gott, der Allmächtige, hat das Reich eingenommen! Lasst uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Braut hat sich bereitet! … Selig sind, die zum Hochzeitsmahl des Lammes berufen sind.« (Offenbarung 19,6.7.9) Es war die Absicht von Jesus, jeden einzelnen Menschen in sein Reich einzuladen. Er erreichte die Herzen der Menschen, indem er zu ihnen ging und sich um ihr Wohl bemühte. Er besuchte sie auf den Straßen, in ihren Häusern, auf den Booten, in der Synagoge, am Seeufer und auf dem Hochzeitsfest. Er traf sie bei ihrer täglichen Arbeit und zeigte Interesse an ihren weltlichen Geschäften. Er unterwies sie in ihren Wohnungen, und die Familien wurden in ihren eigenen Heimen von seiner göttlichen Gegenwart beeinflusst. Durch seine große und persönliche Anteilnahme gewann er die Herzen der Menschen. Er zog sich oft ins Gebirge zurück, um allein zu beten, denn dies war eine Vorbereitung auf seinen Dienst unter den Menschen, die im Alltagsleben standen. Von diesen stillen Zeiten des Gebets kehrte er zurück, um den Kranken Linderung zu bringen, die Unwissenden zu unterweisen und die Ketten derer zu sprengen, die Satan gefangen hielt (vgl. Lukas 4,18). Jesus bildete seine Jünger aus, indem er persönlichen Kontakt zu ihnen pflegte, aber auch in der Gemeinschaft untereinander. Manchmal lehrte er sie, wenn sie zusammen am Hang eines Berges oder am Seeufer saßen; oder er offenbarte ihnen die Geheimnisse des Reiches Gottes, während sie auf Wanderschaft waren. Er predigte nicht wie die Menschen heute. Wo immer er Menschenherzen fand, die für die göttliche Botschaft offen waren, legte er die Wahrheiten des Erlösungsweges dar. Er verlangte von seinen Jüngern nicht, dies oder jenes zu tun, sondern sagte nur: »Folgt mir nach!« Wenn er durch das Land zog oder Städte durchquerte, nahm er sie mit, damit sie sehen konnten, wie er das Volk lehrte. Er verband ihre Interessen mit den seinen, und sie schlossen sich ihm in seinem Dienst an.
Das Beispiel von Christus, die Anliegen der Menschen zu seinen eigenen zu machen, sollte von allen beherzigt werden, die sein Wort predigen und die frohe Botschaft von seiner Gnade empfangen haben. Wir dürfen nicht auf den geselligen Umgang mit Menschen verzichten. Wir sollen uns nicht von ihnen absondern. Um alle Gruppen von Menschen zu erreichen, müssen wir ihnen dort begegnen, wo sie sich befinden. Selten kommen Menschen aus eigenem Antrieb zu uns. Nicht nur von der Kanzel werden die Herzen der Menschen von der göttlichen Wahrheit berührt. Es gibt ein anderes Arbeitsfeld, das vielleicht bescheidener, aber ebenso vielversprechend ist. Man findet es in den Hütten der Armen und in den Villen der Reichen, an der einladenden Tafel und beim geselligen Zusammensein. Als Jünger von Christus werden wir uns nicht aus Liebe zum Vergnügen mit den Menschen treffen, um an ihren Torheiten teilzuhaben. Solche Gesellschaft würde uns nur schaden. Wir sollen die Sünde niemals durch unsere Worte oder Taten, durch unser Schweigen oder unsere Gegenwart gutheißen. Wohin wir auch gehen, wir sollen Jesus mit uns nehmen, damit die anderen sehen, wie kostbar unser Erlöser ist. Wer aber versucht, seinen Glauben zu bewahren, indem er ihn hinter Steinmauern versteckt, verliert wertvolle Gelegenheiten, um Gutes zu tun. Durch gesellschaftliche Beziehungen kommt das Christentum mit der Welt in Berührung. Jeder, der vom göttlichen Licht erleuchtet worden ist, soll den Weg derer erhellen, die das Licht des Lebens nicht kennen. Wir alle sollen Zeugen für Jesus werden. Unser Einfluss in der Gesellschaft – geheiligt durch seine Gnade – soll gestärkt werden, um Menschen für den Erlöser zu gewinnen. Lasst die Welt sehen, dass wir uns nicht selbstsüchtig mit unseren eigenen Interessen beschäftigen, sondern dass wir uns wünschen, dass auch andere unsere Segnungen und Vorrechte teilen. Lasst sie sehen, dass uns der Glaube nicht teilnahmslos oder streng macht. Mögen alle, die bekennen, Christus gefunden zu haben, dem Wohl der Menschen dienen, wie er es tat! Wir sollten unseren Mitmenschen nie den Eindruck vermitteln, Christen seien verdrießliche und unglückliche Menschen. Sind unsere Augen auf Jesus gerichtet, erblicken wir einen mitfühlenden Erlöser und empfangen das Licht von seinem Angesicht. Wo immer sein Geist herrscht, ist Friede. Und dort wird auch Freude sein, verbunden mit einem tiefen, heiligen Vertrauen auf Gott. Christus freut sich über seine Nachfolger, wenn sie zeigen, dass sie – wenn auch als Menschen – an der göttlichen Natur teilhaben. Sie sind keine Statuen, sondern lebendige Männer und Frauen. Ihre Herzen, erfrischt durch den Tau göttlicher Gnade, sind für die Sonne der Gerechtigkeit weit geöffnet. Das Licht, das auf sie scheint, übertragen sie durch Werke, die von der Liebe zu Christus zeugen, auf andere.