Die ersten Jünger

Die ersten Jünger

Johannes 1,19-51

Johannes der Täufer predigte und taufte in der Nähe von »Betanien, einem Dorf am Ostufer des Jordan« (Johannes 1,28 NLB). Nicht weit von dieser Stelle entfernt hatte Gott einst den Lauf des Flusses aufgehalten, bis das Volk Israel hindurchgegangen war. Ganz in der Nähe war die Festung Jericho durch die himmlischen Heere gestürzt worden. Die Erinnerung an diese Ereignisse wurde zu jener Zeit wieder wachgerufen und erzeugte ein großes Interesse an der Botschaft des Täufers. Würde er, der in der Vergangenheit auf so wunderbare Weise gewirkt hatte, erneut seine Macht offenbaren und Israel befreien? Diese Gedanken bewegten die Herzen der Menschen, die sich täglich in Scharen an den Ufern des Jordan versammelten. Die Predigten von Johannes machten einen solch tiefen Eindruck auf die Nation, dass sich die religiösen Würdenträger damit auseinandersetzen mussten. Wegen der Gefahr eines Aufstandes betrachteten die Römer jede öffentliche Versammlung mit großem Misstrauen. Was immer auf eine Volkserhebung hindeutete, löste bei der jüdischen Obrigkeit Angst aus. Johannes hatte beim Hohen Rat keine Bewilligung für sein Wirken eingeholt und damit dessen Autorität nicht anerkannt. Und er hatte das Volk, Oberste, Pharisäer und Sadduzäer gleichermaßen getadelt. Dennoch folgte ihm das Volk voller Erwartung. Das Interesse an seinem Wirken schien beständig zuzunehmen. Obwohl er sich dem Hohen Rat nicht unterstellt hatte, betrachteten ihn die jüdischen Führer als einen öffentlichen Lehrer, womit Johannes in ihren Zuständigkeitsbereich fiel. Der Hohe Rat bestand aus ausgewählten Mitgliedern der Priesterschaft und aus obersten Führern und Lehrern der Nation. Der Hohepriester war gewöhnlich der Vorsitzende. Alle Mitglieder mussten Männer reiferen Alters sein, aber noch nicht betagt. Es mussten Gelehrte sein, die nicht nur in der jüdischen Religion und Geschichte bewandert waren, sondern auch ein großes Allgemeinwissen besaßen. Sie durften keine körperlichen Gebrechen aufweisen, mussten verheiratet sein und Kinder haben, weil sie als solche – eher als andere – menschlicher und rücksichtsvoller sein würden. Ihr Versammlungsort war ein mit dem Tempel verbundener Raum in Jerusalem. Zur Zeit der jüdischen Unabhängigkeit war der Hohe Rat das oberste Gericht der Nation und besaß sowohl weltliche als auch geistliche Vollmachten. Obwohl er jetzt den römischen Statthaltern untergeordnet war, übte er doch großen Einfluss auf der bürgerlichen und religiösen Ebene aus. Der Hohe Rat konnte eine Untersuchung über das Wirken des Johannes nicht länger aufschieben. Einige erinnerten sich an die Offenbarung, die sein Vater Zacharias im Tempel erhalten hatte, und an dessen Weissagung, die auf seinen Sohn als Vorläufer des Messias hinwies. Durch die Unruhen und Veränderungen der letzten 30 Jahre waren diese Hinweise beinahe in Vergessenheit geraten. Nun aber, aufgewühlt durch das Wirken des Täufers, erinnerte man sich wieder daran. Lange war es her, seit Israel das letzte Mal einen Propheten gehabt und eine derartige Reformation erlebt hatte, wie sie jetzt im Gang war. Die Aufforderung zum Sündenbekenntnis erschien ihnen fremd und war aufsehenerregend. Viele der führenden Männer wollten sich die Aufrufe und Anklagen des Täufers nicht anhören. Sie fürchteten, dazu gebracht zu werden, Geheimnisse ihres eigenen Lebens preiszugeben. Doch seine Predigt war eine klare Ankündigung des Messias. Es war wohl bekannt, dass die 70 Jahrwochen aus der Prophezeiung Daniels, die sich auf das Kommen und Wirken des Messias bezogen (vgl. Daniel 9,24-26), beinahe abgelaufen waren. Alle waren begierig darauf, an dieser Ära nationaler Herrlichkeit, die anschließend erwartet wurde, teilzuhaben. Die Begeisterung des Volkes war so groß, dass der Hohe Rat bald gezwungen war, den Dienst des Johannes entweder gutzuheißen oder abzulehnen. Die Macht des Rates über das Volk war bereits am Schwinden, und es stellte sich die ernste Frage, wie seine Autorität aufrechterhalten werden konnte. In der Hoffnung, eine Lösung zu finden, schickten die Obersten eine Abordnung von Priestern und Leviten zum Jordan, um mit dem neuen Lehrer zu verhandeln.

Eine große Volksmenge hörte den Worten des Johannes zu, als sich die Abgeordneten des Hohen Rates dem Jordan näherten. Die hochmütigen Rabbiner trugen ein betont vornehmes Wesen zur Schau, um das Volk mit ihrer angeblichen Autorität zu beeindrucken und den Propheten fügsam zu machen. Mit großem Respekt, beinahe ängstlich, teilte sich die Menge und ließ die Rabbiner durch die Reihen schreiten. Die hohen Männer in ihren prächtigen Gewändern, stolz auf ihren Rang und ihre Macht, standen jetzt vor dem Prediger aus der Wüste. »Wer bist du eigentlich?«, wollten sie wissen. Johannes, der ihre Gedanken erriet, erwiderte: »Ich bin nicht der Christus.«
Und sie fragten ihn: »Wer bist du dann? Bist du Elia?« Er sprach: »Nein.« »Bist du der Prophet?« »Nein.«»Wer bist du dann? Sag es uns, damit wir die Antwort denen überbringen können, die uns geschickt haben. Was sagst du selbst, wer du bist?« (Johannes 1,19-22)

Johannes antwortete mit den Worten des Propheten Jesaja: »Ich bin eine Stimme, die in der Wüste ruft: ›Ebnet den Weg für das Kommen des Herrn!‹« (vgl. Johannes 1,23 NLB) Die Schriftstelle, die Johannes hier anführte, war die großartige Prophezeiung Jesajas: »Tröstet, tröstet mein Volk!, spricht euer Gott. Redet mit Jerusalem freundlich und predigt ihr, dass ihre Knechtschaft ein Ende hat, dass ihre Schuld vergeben ist … Es ruft eine Stimme: In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg, macht in der Steppe eine ebene Bahn unserem Gott! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden, und was uneben ist, soll gerade, und was hügelig ist, soll eben werden; denn die Herrlichkeit des Herrn soll offenbart werden, und alles Fleisch miteinander wird es sehen.« (Jesaja 40,1-5) Wenn im Altertum ein König durch ein spärlich besiedeltes Gebiet seines Reiches zog, wurden Männer dem königlichen Wagen vorausgeschickt, um unebene Wegstellen auszubessern, damit der König sicher und ungehindert durchfahren konnte. Mit dieser Gepflogenheit wollte der Prophet die Arbeit des Evangeliums darstellen. »Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden.« (Jesaja 40,4) Wenn der Geist Gottes mit seiner wunderbar belebenden Kraft den Menschen berührt, wird sein Stolz gedemütigt und weltliche Vergnügungen, Stellung und Macht werden als wertlos erkannt. »Falsche Gedankengebäude« und der »Hochmut … der sich der wahren Gotteserkenntnis entgegenstellt«, werden niedergerissen, und jeder Gedanke, der sich gegen Gott auflehnt, wird gefangen genommen und »dem Befehl von Christus« unterstellt (2. Korinther 10,5 GNB). Demut und selbstlose Liebe, die von den Menschen so wenig geschätzt werden, gelten dann als hohe Werte. Diese Veränderung bewirkt das Evangelium, und die Botschaft des Täufers war ein Teil davon. Die Schriftgelehrten setzten ihre Befragung fort: »Warum taufst du denn, wenn du nicht der Christus bist, noch Elia noch der Prophet?« (Johannes 1,25) Das Wort »Prophet« bezogen die Juden auf Mose. Sie nahmen an, Mose würde eines Tages von den Toten auferstehen und dann zum Himmel auffahren. Sie wussten nicht, dass er längst dort war. Als der Täufer seinen Dienst aufnahm, dachten viele, er sei der von den Toten auferstandene Mose, denn er wusste sehr genau über die Prophezeiungen und die Geschichte Israels Bescheid. Man glaubte auch, dass vor dem Kommen des Messias Elia persönlich erscheinen würde. Dieser Erwartung widersprach Johannes, indem er ihre Frage verneinte. Allerdings hatten seine Worte noch einen tieferen Sinn. Jesus sagte später, indem er auf Johannes hinwies: »Und wenn ihr es annehmen wollt: Er ist Elia, der kommen soll.« (Matthäus 11,14 Elb.) Johannes kam im Geist und in der Kraft des Elia, um die Werke zu tun, die auch Elia getan hatte. Hätten die Juden Johannes angenommen, hätte er dessen Werke für sie vollbracht. Doch sie lehnten seine Botschaft ab, denn für sie war er nicht der Elia. So konnte Johannes für sie nicht die Aufgabe erfüllen, die zu vollbringen er gekommen war. Viele von denen, die am Jordan standen, waren bei der Taufe von Jesus dabei gewesen. Doch das dort gegebene Zeichen war nur wenigen in seiner Bedeutung bewusst geworden. In den vergangenen Monaten, während der Täufer wirkte, hatten es viele abgelehnt, dem Aufruf zur Umkehr zu folgen. Dadurch waren ihre Herzen verhärtet und ihr Verstand getrübt worden. Als der Himmel dann bei der Taufe von Jesus dessen Gottessohnschaft bezeugte, verstanden sie es nicht. Den Augen, die sich niemals voller Vertrauen dem unsichtbaren Gott zugewandt hatten, blieb die Offenbarung seiner Herrlichkeit verborgen. Ohren, die nie auf seine Stimme gehört hatten, vernahmen auch die Worte vom Himmel nicht. So ist es auch heute. Wie oft ist in Versammlungen die Anwesenheit von Christus und seiner Engel deutlich spürbar, und trotzdem wissen es viele nicht! Sie stellen nichts Außergewöhnliches fest. Doch einigen ist die Gegenwart des Erlösers bewusst. Friede und Freude erfüllt ihre Herzen. Sie werden getröstet, ermutigt und gesegnet.

Die Abgeordneten von Jerusalem hatten Johannes gefragt: »Warum taufst du denn?« (Johannes 1,25) Sie warteten nun auf seine Antwort. Als sein Blick über die Menge schweifte, begannen seine Augen plötzlich zu leuchten. Sein Gesicht strahlte, und er war tief ergriffen. Mit ausgestreckten Händen rief er aus: »Ich taufe mit Wasser; aber er ist mitten unter euch getreten, den ihr nicht kennt. Der wird nach mir kommen, und ich bin nicht wert, dass ich seine Schuhriemen löse.« (Johannes 1,26.27) Die Botschaft war klar und unmissverständlich, die dem Hohen Rat zu überbringen war. Die Worte von Johannes konnten sich auf keinen anderen beziehen als auf den schon lange Verheißenen. Der Messias befand sich mitten unter ihnen! Verblüfft blickten die Priester und Obersten um sich, in der Hoffnung den zu entdecken, von dem Johannes gesprochen hatte. Aber in der großen Menschenmenge war er nicht zu erkennen. Als Johannes bei der Taufe von Jesus auf ihn als das Lamm Gottes zeigte, fiel neues Licht auf den Auftrag des Messias. Die Gedanken des Propheten wurden auf die Worte Jesajas gelenkt: Er war »wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird« (Jesaja 53,7). In den folgenden Wochen studierte Johannes mit neuem Eifer die Weissagungen und die Lehren des Opferdienstes. Er konnte zwar die beiden Phasen des Dienstes von Christus nicht klar voneinander unterscheiden – einmal als leidendes Opfer, zum anderen als triumphierender König – doch er verstand, dass sein Kommen eine tiefere Bedeutung besaß, als die Priester und das Volk dachten. Als er Jesus bei dessen Rückkehr aus der Wüste in der Menge erblickte, war er überzeugt, dass dieser dem Volk ein Zeichen seines wahren Wesens geben würde. Fast ungeduldig wartete er darauf, wie der Erlöser seine Aufgabe bekanntmachen wird. Doch dieser sagte kein Wort und gab auch kein Zeichen. Jesus ging überhaupt nicht auf die Ankündigung des Täufers ein, sondern mischte sich unter dessen Anhänger. Er gab weder einen sichtbaren Hinweis auf seine besondere Aufgabe, noch unternahm er etwas, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Am nächsten Tag sah der Täufer, dass Jesus ihm entgegenkam. Während die Herrlichkeit Gottes auf dem Propheten ruhte, streckte er seine Hände aus und rief: »Siehe, das ist Gottes Lamm, das der Welt Sünde trägt! Dieser ist‘s, von dem ich gesagt habe: Nach mir kommt ein Mann, der vor mir gewesen ist … Und ich kannte ihn nicht. Aber damit er Israel offenbart werde, darum bin ich gekommen, zu taufen mit Wasser … Ich sah, dass der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm. Und ich kannte ihn nicht. Aber der mich sandte, zu taufen mit Wasser, der sprach zu mir: Auf wen du siehst den Geist herabfahren und auf ihm bleiben, der ist‘s, der mit dem Heiligen Geist tauft. Und ich habe es gesehen und bezeugt: Dieser ist Gottes Sohn.« (Johannes 1,29-34)

War dieser Mann der Messias? Mit Scheu und Verwunderung sahen die Menschen auf den Einen, der soeben als Sohn Gottes bezeichnet worden war. Sie waren von den Worten des Johannes tief beeindruckt, denn er hatte im Namen Gottes zu ihnen geredet. Tag für Tag hatten sie ihm zugehört, wenn er ihre Sünden tadelte. Und die Überzeugung, dass er vom Himmel gesandt war, wurde jeden Tag stärker. Wer aber war der Eine, der größer als der Täufer sein sollte? An seiner Kleidung und Haltung fanden sie nichts, was seinen besonderen Rang angedeutet hätte. Er schien ein gewöhnlicher Mensch zu sein und war gekleidet wie sie selbst – mit dem einfachen Gewand der Armen. In der Menge waren etliche, die bei der Taufe von Christus die göttliche Herrlichkeit gesehen und Gottes Stimme gehört hatten. Aber seit jener Zeit hatte sich das Aussehen des Erlösers stark verändert. Bei der Taufe war sein Gesicht durch das Licht vom Himmel verklärt, jetzt war es bleich, matt und abgezehrt, sodass ihn nur der Prophet Johannes erkannte. Doch die Menschen sahen in seinem Blick göttliches Erbarmen, gemischt mit innerer Stärke. Jeder kurze Blick, jeder Gesichtszug war von Demut und unbeschreiblicher Liebe gezeichnet. Er schien von einem geistlichen Einfluss umgeben zu sein. Obwohl sein Umgang behutsam und unaufdringlich war, beeindruckte er die Menschen mit einer unsichtbaren Stärke, die nicht ganz verborgen blieb. War dies der Verheißene, auf den Israel so lange gewartet hatte? Jesus kam in Armut und Erniedrigung, damit er unser Vorbild, aber auch unser Erlöser sein konnte. Wie hätte er Demut lehren können, wenn er in königlicher Pracht erschienen wäre? Wie hätte er solch einschneidende Wahrheiten darlegen können, wie er es in der Bergpredigt tat? Wo hätte es Hoffnung für die Geringsten gegeben, wenn Jesus gekommen wäre, um als König unter den Menschen zu leben? Der Menge war es offenbar unmöglich, den von Johannes Angekündigten mit ihren hohen Erwartungen in Verbindung zu bringen. Darum waren viele enttäuscht und zutiefst verunsichert. Die Worte, welche die Priester und Rabbiner zu hören gehofft hatten, dass nämlich Jesus die Königsherrschaft in Israel wieder aufrichten werde, blieben unausgesprochen. Auf einen solchen König hatten sie gewartet und nach ihm Ausschau gehalten. Einen solchen König waren sie bereit zu empfangen. Aber einen, der in ihren Herzen ein Königreich der Gerechtigkeit und des Friedens zu errichten beabsichtigte, wollten sie nicht akzeptieren.

Am nächsten Tag, als zwei Jünger neben ihm standen, sah Johannes Jesus erneut in der Menge. Wieder leuchtete aus dem Angesicht des Propheten die Herrlichkeit Gottes, und er rief: »Siehe, das ist Gottes Lamm!« (Johannes 1,36) Diese Worte durchdrangen die Herzen der Jünger; deren Sinn verstanden sie aber nicht ganz. Was bedeutete der Name, den ihm Johannes gegeben hatte: »Gottes Lamm«? Johannes selbst gab keine Erklärung dazu. Die beiden Jünger verließen den Täufer, um Jesus zu suchen. Der eine war Andreas, der Bruder des Simon Petrus; der andere war Johannes, der später eines der Evangelien schrieb. Sie wurden die ersten Jünger von Jesus. Aus einem inneren unwiderstehlichen Antrieb heraus folgten sie Jesus – gespannt darauf, mit ihm zu reden, dennoch schüchtern und still, ganz überwältigt von dem einen Gedanken: Ist dies der Messias? Jesus wusste, dass ihm die beiden Jünger folgten. Sie waren die ersten Früchte seines Wirkens. Das Herz des göttlichen Lehrers war voller Freude, dass sich diese beiden von seiner Gnade ansprechen ließen. Da drehte er sich um und fragte sie nur: »Was sucht ihr?« (Johannes 1,38) Er ließ ihnen die Freiheit, umzukehren oder ihr Anliegen vorzubringen. Doch sie hatten nur eine Absicht, und ihre Gedanken drehten sich nur um seine Anwesenheit. Sie fragten: »Rabbi … wo wohnst du?« (Johannes 1,38 EÜ) Während einer kurzen Unterhaltung am Wegrand konnten sie nicht das erfahren, wonach sie sich sehnten. Sie wollten mit Jesus allein sein, ihm zu Füßen sitzen und ihm zuhören. Da sagte Jesus zu ihnen: »›Kommt und seht!‹ Da gingen sie mit und sahen, wo er wohnte, und blieben jenen Tag bei ihm.« (Johannes 1,39 EÜ) Wären Johannes und Andreas auch so ungläubig gewesen wie die Priester und Obersten, hätten sie sich nicht als Lernende zu Jesus gesetzt. Sie wären als Zweifler gekommen, um über seine Worte zu urteilen. Auf diese Weise verschließen sich viele die Tür zu den kostbarsten Gelegenheiten. Doch diese beiden ersten Jünger handelten anders. Sie erwiderten den Ruf des Heiligen Geistes, den sie in der Predigt von Johannes dem Täufer gehört hatten. Und jetzt erkannten sie die Stimme des himmlischen Lehrers. Die Worte von Jesus waren für sie voller Frische, Wahrheit und Schönheit. Göttliches Licht erhellte die Lehren der alttestamentlichen Schriften. Die vielseitigen Themen der Wahrheit wurden ihnen klarer verständlich. Reue, Glaube und Liebe befähigen uns, himmlische Weisheit zu erlangen. Der Glaube, der durch die Liebe zur Tat wird, ist der Schlüssel zur Erkenntnis »und wer liebt … kennt Gott« (1. Johannes 4,7). Der Jünger Johannes war ein Mann von ernster und tiefer Zuneigung, leidenschaftlich und doch nachdenklich. Er hatte begonnen, die Herrlichkeit des Messias zu erkennen – nicht den weltlichen Prunk und die Macht, auf die zu hoffen er gelehrt worden war – sondern »die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit« (Johannes 1,14 EÜ). Diese wundersamen Dinge nahmen alle seine Gedanken in Anspruch.

Andreas wollte die Freude weitergeben, die sein Herz erfüllte. Er machte sich auf die Suche nach seinem Bruder Simon und rief ihm zu: »Wir haben den Messias gefunden!« (Johannes 1,41) Simon brauchte keine weitere Aufforderung. Auch er hatte die Predigten des Täufers gehört und machte sich sofort auf den Weg zum Erlöser. Jesus blickte ihn lange an. Er erkannte seinen Charakter und sah den Verlauf seines Lebens. Seine ungestüme Natur, sein liebevolles, mitfühlendes Herz, sein Ehrgeiz und sein Selbstbewusstsein, die Geschichte seines Versagens, seine Reue, sein Einsatz und sein Märtyrertod – all das lag wie ein aufgeschlagenes Buch vor Jesus, und er sagte zu ihm: »Du bist Simon, Jonas Sohn, du sollst Kephas heißen (das heißt übersetzt: ›ein Stein‹)« (Johannes 1,42 Schl.) »Am nächsten Tag wollte Jesus nach Galiläa gehen und findet Philippus und spricht zu ihm: Folge mir nach!« (Johannes 1,43) Philippus gehorchte dieser Aufforderung und wurde sogleich ein Nachfolger von Christus. Philippus rief Nathanael. Dieser war in der Menge gewesen, als der Täufer Jesus als das Lamm Gottes bezeichnet hatte. Als Nathanael ihn sah, war er enttäuscht. Konnte dieser Mann, der die Spuren von Arbeit und Armut an sich trug, der Messias sein? Trotzdem konnte sich Nathanael nicht dazu entschließen, Jesus zurückzuweisen, denn die Botschaft des Johannes hatte ihn überzeugt. Als Philippus Nathanael suchte, hatte sich dieser draußen an einen ruhigen Ort zurückgezogen. Nathanael dachte über die Aussage des Johannes und über die Weissagungen nach, die den Messias betrafen. Er betete zu Gott, er möge ihn doch wissen lassen, ob derjenige, auf den Johannes gezeigt hatte, der Erlöser war. Da kam der Heilige Geist über ihn, und er erhielt die Zusicherung, dass Gott »zu seinem Volk gekommen« war und einen »mächtigen Retter« gesandt hatte (Lukas 1,68.69 NLB). Philippus wusste, dass sein Freund die alten Prophezeiungen studierte. Während Nathanael gerade unter einem Feigenbaum betete, entdeckte ihn Philippus. Oft hatten sie an diesem einsamen Ort im Schutz der Blätter miteinander gebetet. Die Botschaft »Wir haben den gefunden, von dem Mose im Gesetz und die Propheten geschrieben haben« (Johannes 1,45), erschien Nathanael wie eine sofortige Antwort auf sein Gebet. Der Glaube von Philippus war aber noch schwach, und er fügte deshalb mit leisem Zweifel hinzu: »Jesus, Josefs Sohn, aus Nazareth.« Da wurde Nathanaels Vorurteil erneut wach, und er rief aus: »Was kann aus Nazareth Gutes kommen!« (Johannes 1,45.46) Philippus ließ sich auf keine Auseinandersetzung ein und sagte: »Komm und sieh es!« (Johannes 1,46) »Als Jesus Nathanael auf sich zukommen sah, sagte er: ›Da kommt ein aufrechter Mann – ein wahrer Sohn Israels.‹« Höchst erstaunt erwiderte Nathanael: »›Woher kennst du mich?‹ Jesus antwortete: ›Ich sah dich unter dem Feigenbaum, noch bevor Philippus dich rief.‹« (Johannes 1,47.48 NLB) Das genügte ihm. Gottes Geist, der Nathanael bei seinem Gebet unter dem Feigenbaum Gewissheit gegeben hatte, sprach jetzt zu ihm in den Worten von Jesus. Obwohl Nathanael von Vorurteilen und Zweifeln noch nicht frei gewesen war, hatte ihn das aufrichtige Verlangen nach Wahrheit zu Jesus hingeführt, und nun wurde es gestillt. Sein Glaube übertraf den Glauben dessen, der ihn zu Jesus gebracht hatte. Er antwortete Jesus: »Rabbi, du bist Gottes Sohn, du bist der König von Israel!« (Johannes 1,49) Wenn sich Nathanael der Führung der Rabbiner anvertraut hätte, dann hätte er Jesus nie gefunden. Aus eigener Erfahrung und Überzeugung wurde er zu einem Jünger von Jesus. Noch heute lassen sich viele Menschen durch Vorurteile vom Guten fernhalten. Wie ganz anders würde sich ihr Leben gestalten, wenn sie wie einst Nathanael kommen und sehen würden! Keiner, der auf die Führung menschlicher Autoritäten vertraut, wird zur rettenden Erkenntnis der Wahrheit finden. Wir müssen wie Nathanael das Wort Gottes selbst prüfen und um die Erleuchtung durch den Heiligen Geist bitten. Der Eine, der Nathanael unter dem Feigenbaum sah, sieht auch uns im Verborgenen beten. Engel Gottes sind denen nahe, die in Demut nach göttlicher Führung verlangen.

Mit der Berufung von Johannes, Andreas, Simon, Philippus und Nathanael wurde das Fundament für die christliche Gemeinde gelegt. Johannes der Täufer führte zwei seiner Jünger zu Jesus. Daraufhin suchte der eine, Andreas, seinen Bruder auf und brachte ihn zum Erlöser. Dann wurde Philippus berufen, und dieser fand Nathanael. Diese Beispiele zeigen uns die Wichtigkeit der Bemühungen, unsere Verwandten, Freunde und Nachbarn persönlich anzusprechen. Es gibt viele, die sich ihr Leben lang zu Christus bekennen, sich aber niemals darum bemühen, auch nur einen Menschen zum Erlöser zu bringen. Sie überlassen die ganze Arbeit dem Pastor. Er mag für diese Aufgabe wohl befähigt sein, aber er kann nicht das tun, was Gott den Gliedern der Gemeinde aufgetragen hat. Es gibt viele, welche die Zuwendung und Unterstützung liebevoller Christen brauchen. Schon manche, die ins Verderben gerannt sind, hätten gerettet werden können, wenn sich ihre Nachbarn – gewöhnliche Männer und Frauen – um sie gekümmert hätten. Viele warten darauf, dass sie persönlich angesprochen werden. Besonders in der Familie, in der Nachbarschaft und in der Stadt, wo wir leben, gibt es für uns als Gesandte von Christus viel zu tun. Wenn wir Christen sind, erfüllen wir diesen Dienst gern. Sobald jemand bekehrt ist, kommt in ihm der Wunsch auf, anderen mitzuteilen, welch einen wunderbaren Freund er in Jesus gefunden hat. Die rettende und heiligende Wahrheit lässt sich nicht im Herzen verschließen. Durch alle, die sich dem Herrn weihen, wird das göttliche Licht weitergegeben. Gott macht sie zu seinen Mitarbeitern, um anderen den Reichtum seiner Gnade mitzuteilen. Seine Zusage lautet: »Ich werde sie und die Umgebungen meines Hügels zum Segen machen; und ich werde den Regen fallen lassen zu seiner Zeit, Regengüsse des Segens werden es sein.« (Hesekiel 34,26 Elb.) Philippus sagte zu Nathanael: »Komm und sieh es!« (Johannes 1,46) Er bat ihn nicht einfach, dem Wort eines anderen zu glauben, sondern Christus mit eigenen Augen zu betrachten. Seit Jesus aber zum Himmel aufgefahren ist, hat er seine Nachfolger dazu bestimmt, seine Beauftragten zu sein. Eine der wirksamsten Möglichkeiten, Menschen für Jesus zu gewinnen, besteht darin, dass wir im Alltag nach seinem Vorbild leben. Unser Einfluss auf andere hängt nicht so sehr von dem ab, was wir sagen, sondern vielmehr von dem, was wir sind. Menschen mögen unsere Logik bekämpfen und sich über sie hinwegsetzen; sie mögen unsere Bitten ablehnen, doch ein Leben voll selbstloser Liebe ist ein Argument, dem sie nicht widersprechen können. Ein konsequentes Leben, geprägt von der Sanftmut, die Christus wirkt, ist in der Welt eine Macht. Die Lehren von Christus waren Ausdruck einer tiefen, inneren Überzeugung und Erfahrung. Diejenigen, die von ihm lernen, werden zu Lehrern nach seinem göttlichen Vorbild. Das Wort Gottes, verkündigt durch jemanden, der selbst durch dieses Wort verändert worden ist, besitzt eine lebenspendende Kraft. Es fesselt die Zuhörer und überzeugt sie davon, dass es eine lebendige Wirklichkeit ist. Wenn jemand die Wahrheit angenommen und liebgewonnen hat, wird sich dies deutlich in der Art und Weise zeigen, wie er handelt und spricht. Er gibt das weiter, was er selbst gehört, gesehen und was ihn aus dem Wort des Lebens berührt hat. So werden andere aufgrund seiner Erkenntnis über Christus Gemeinschaft mit ihm pflegen. Durch sein Zeugnis, das von Lippen kommt, die mit feuriger Kohle vom Altar berührt und gereinigt sind (vgl. Jesaja 6,6.7), erkennt der aufgeschlossene Zuhörer, dass dies die Wahrheit ist. Sie wird einen heiligenden Einfluss auf den Charakter ausüben. Wer sich bemüht, anderen Menschen Licht zu vermitteln, wird selbst gesegnet. »Regengüsse des Segens werden es sein.« (Hesekiel 34,26 Elb.) »Wer reichlich tränkt, der wird auch getränkt werden.« (Sprüche 11,25) Gott könnte sein Ziel, Menschen zu retten, auch ohne unsere Mithilfe erreichen. Damit unser Charakter aber dem von Jesus immer ähnlicher wird, müssen wir an seinem Werk mitarbeiten. Damit auch wir an seiner Freude teilhaben können – zu erleben, wie Menschen durch sein Opfer gerettet werden -, müssen wir uns an seinem Wirken zu ihrer Erlösung beteiligen. 

Nathanaels erstes Bekenntnis seines Glaubens war so tiefgründig, ernst und aufrichtig, dass es sich in den Ohren von Jesus wie Musik anhörte. Und er »antwortete und sprach zu ihm: Du glaubst, weil ich dir gesagt habe, dass ich dich gesehen habe unter dem Feigenbaum. Du wirst noch Größeres als das sehen« (Johannes 1,50). Der Erlöser blickte mit Freuden auf die vor ihm liegende Aufgabe, den Armen das Evangelium zu predigen, die zerbrochenen Herzen zu heilen und den Gefangenen Satans die Freiheit zu verkündigen (vgl. Lukas 4,18). Angesichts der überaus wohltuenden Segnungen, die er den Menschen brachte, fügte er hinzu: »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herabfahren über dem Menschensohn.« (Johannes 1,51) Dem Sinn nach sagte Christus: Am Ufer des Jordan öffnete sich der Himmel, und der Heilige Geist kam wie eine Taube auf mich herab. Dies war das Zeichen, dass ich Gottes Sohn bin. Und wer dies glaubt, dessen Glaube wird lebendig sein, und er wird sehen, dass der Himmel offen ist und sich nie wieder schließen wird, denn ich habe ihn für euch geöffnet. Die Engel Gottes steigen hinauf und tragen die Gebete der Notleidenden und Bedrückten zum Vater im Himmel. Sie kommen herab und bringen den Menschen Segen und Hoffnung, Mut, Hilfe und Leben. Unaufhörlich bewegen sich die Engel Gottes von der Erde zum Himmel und vom Himmel zur Erde. Die Wunder, die Christus an den Niedergeschlagenen, Kranken und Leidenden vollbrachte, wurden alle durch die Macht Gottes und den Dienst der Engel gewirkt. So erreichen uns auch alle Segnungen Gottes durch Jesus Christus und den Dienst seiner himmlischen Boten. Indem Christus die menschliche Natur annahm und zugleich durch seine Göttlichkeit den Thron Gottes umfasste, vereinte er sein Anliegen mit dem der in Sünde gefallenen Söhne und Töchter Adams. Dadurch ist Jesus Christus der Vermittler zwischen den Menschen und Gott und zwischen Gott und den Menschen geworden.

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