Die erste Tempelreinigung

Die erste Tempelreinigung

Johannes 2,12-22

»Danach ging Jesus nach Kapernaum, er, seine Mutter, seine Brüder und seine Jünger, und sie blieben nicht lange da. Und das Passafest der Juden war nahe, und Jesus zog hinauf nach Jerusalem.« (Johannes 2,12.13) Auf dieser Reise schloss sich Jesus einer der großen Gruppen an, die sich auf dem Weg in die Hauptstadt befanden. Er hatte seinen Auftrag noch nicht öffentlich bekanntgemacht und mischte sich nun unbemerkt unter die Menge. Bei solchen Anlässen war das Kommen des Messias, das durch den Dienst des Täufers so an Bedeutung gewonnen hatte, oft Gegenstand der Unterhaltung. Mit wachsender Begeisterung verweilte man bei der Hoffnung auf nationale Größe. Jesus wusste, dass diese Hoffnung enttäuscht werden würde, denn sie beruhte auf einer falschen Auslegung der Schriften. Mit tiefem Ernst erklärte er die Weissagungen und versuchte die Menschen dazu anzuregen, Gottes Wort gründlicher zu studieren.

Die jüdischen Führer hatten dem Volk beigebracht, dass es in Jerusalem lerne, Gott anzubeten. Hier versammelten sich während der Passawoche Scharen von Menschen aus allen Teilen Israels und sogar aus fernen Ländern. Die Tempelhöfe füllten sich mit einer bunt zusammengewürfelten Menge. Vielen war es nicht möglich, ihre Opfergaben mitzubringen, die als Symbol für das eine große Opfer dargebracht werden sollten. Um es diesen Pilgern einfacher zu machen, wurden Opfertiere im äußeren Vorhof des Tempels gekauft und verkauft. Hier kamen Angehörige aller Gesellschaftsschichten zusammen, um ihre Opfergaben zu erwerben und alles ausländische Geld in Tempelmünzen umzuwechseln. Jeder Jude musste jährlich einen halben Schekel »als Lösegeld für sein Leben« bezahlen. Der auf diese Weise gesammelte Betrag diente für den Unterhalt des Tempels (vgl. 2. Mose 30,12-16). Außerdem wurden freiwillig große Summen gespendet, die in die Schatzkammer des Tempels flossen. Es wurde erwartet, dass alles andere Geld in Münzen, in sogenannte Tempelschekel, gewechselt wurde. Diese wurden dann für den Dienst im Heiligtum entgegengenommen. Der Geldwechsel bot Gelegenheit zu Betrug und Wucher und war zu einem ruchlosen Gewerbe verkommen, das für die Priester eine Einnahmequelle bedeutete. Die Händler verlangten für die Opfertiere ungewöhnlich hohe Preise und teilten ihren Gewinn mit den Priestern und Obersten, die sich dadurch auf Kosten des Volkes bereicherten. Die Festbesucher machte man glauben, Gottes Segen würde nicht auf ihren Kindern und ihrem Acker ruhen, wenn sie keine Opfer brächten. Auf diese Weise konnte ein hoher Preis gefordert werden. Denn wer von so weit gekommen war, wollte nicht in die Heimat zurückkehren, ohne das Zeichen der Hingabe, für das sie gekommen waren. Zur Zeit des Passafestes wurden viele Opfer dargebracht, und das Geschäft im Vorhof des Tempels florierte. Die dadurch entstandene Unruhe ließ eher auf einen lärmenden Viehmarkt als auf den heiligen Tempel Gottes schließen. Man hörte hektisches Feilschen, das Brüllen der Rinder, das Blöken der Schafe und das Gurren der Tauben, vermischt mit dem Geräusch klingender Münzen und dem Lärm ärgerlicher Wortgefechte. Das Durcheinander war so groß, dass es die Andächtigen störte. Deren Gebete zum Allerhöchsten wurden vom Tumult übertönt, der bis in den Tempel drang. Die Juden waren außerordentlich stolz auf ihre Frömmigkeit. Sie freuten sich über ihren Tempel und empfanden jedes Wort der Missbilligung ihm gegenüber als Gotteslästerung. Sie waren peinlich genau in der Durchführung der Zeremonien, die in Verbindung mit dem Tempel standen. Aber die Liebe zum Geld hatte sie skrupellos gemacht. Sie waren sich kaum bewusst, wie weit sie von der ursprünglichen Bedeutung ihres Gottesdienstes, den Gott selbst eingesetzt hatte, abgewichen waren.

Als der Herr einst auf den Berg Sinai herabkam, wurde dieser Ort durch seine Gegenwart geheiligt. Mose erhielt den Auftrag, den Berg einzuzäunen und ihn zu heiligen. Gott erhob warnend seine Stimme und sagte: »Hütet euch, auf den Berg zu steigen oder auch nur seinen Fuß zu berühren. Jeder, der den Berg berührt, wird mit dem Tod bestraft. Keine Hand soll den Berg berühren. Wer es aber tut, soll gesteinigt oder mit Pfeilen erschossen werden; ob Tier oder Mensch, niemand soll am Leben bleiben.« (2. Mose 19,12.13 EÜ) So lernten sie, dass jeder Ort, an dem Gott seine Gegenwart offenbart, ein heiliger Ort ist. Die Vorhöfe des Tempels hätten genauso als heilig angesehen werden sollen. Aber im Kampf um den Gewinn hatte man den Blick dafür verloren. Die Priester und Obersten waren dazu berufen, Gottes Stellvertreter für die Nation zu sein. Sie hätten gegen die Missstände im Tempelhof einschreiten müssen und dem Volk ein Vorbild in Rechtschaffenheit und Barmherzigkeit sein sollen. Anstatt ihrem eigenen Vorteil nachzusinnen, hätten sie die Umstände und Bedürfnisse der Gläubigen beachten und denen behilflich sein sollen, die keine der vorgeschriebenen Opfergaben kaufen konnten. Aber das taten sie nicht. Habsucht hatte ihre Herzen verhärtet. Zum Fest kamen Leidende, Bedürftige und Bedrückte, Blinde, Lahme und Taube. Einige wurden auf Betten gebracht. Es kamen viele, die zu arm waren, um auch nur die bescheidenste Opfergabe für Gott zu kaufen oder sich Nahrung zu besorgen, um den eigenen Hunger zu stillen. Sie waren durch die Aussagen der Priester tief bekümmert. Diese prahlten mit ihrer Frömmigkeit und behaupteten, die Beschützer des Volkes zu sein. In Wirklichkeit aber hatten sie weder Mitgefühl noch Erbarmen. Die Armen, die Kranken und die Sterbenden flehten vergeblich um ihre Gunst. Ihr Leid weckte kein Mitgefühl in den Herzen der Priester.

Als Jesus den Tempel betrat, überblickte er den ganzen Schauplatz. Er sah die unredlichen Geschäfte und das Elend der Armen, die glaubten, ohne Blutvergießen keine Vergebung ihrer Sünden erlangen zu können. Er sah den äußeren Vorhof seines Tempels in einen gottlosen Handelsplatz verwandelt. Die heilige Stätte war zu einer riesigen Wechselstube geworden. Christus erkannte, dass hier etwas getan werden musste! Unzählige Zeremonien waren dem Volk auferlegt worden, ohne dass ihnen deren genaue Bedeutung erklärt worden war. Die Gläubigen brachten ihre Opfer dar, ohne zu verstehen, dass diese nur ein Sinnbild für das eine vollkommene Opfer waren. Und jetzt stand er, auf den der ganze jüdische Opferdienst hinwies, unerkannt und unbeachtet mitten unter ihnen. Christus selbst hatte die vielfältigen Opfer angeordnet. Er kannte ihren symbolischen Wert und sah, dass sie nun verfälscht waren und missverstanden wurden. Geistliche Anbetung war kaum noch vorhanden. Die Priester und Obersten hatten keine Beziehung zu Gott. Nun war es die Aufgabe von Christus, einen völlig anderen Gottesdienst einzuführen. Von den Stufen des Tempelhofes aus schaute Jesus mit durchdringendem Blick auf das Bild, das sich ihm bot. Seine Augen sahen vorherwissend in die Zukunft und überblickten nicht nur Jahre, sondern ganze Jahrhunderte und Zeitalter. Er sah, wie die Priester und Obersten des Volkes den Bedürftigen ihr Recht vorenthalten und verbieten würden, den Armen das Evangelium zu predigen. Er sah, wie Gottes Liebe vor den Sündern verheimlicht wurde und wie Menschen seine Gnade zu einer Handelsware machten. Während er das Geschehen betrachtete, lag ein Ausdruck von Empörung, Autorität und Macht auf seinem Angesicht. Inzwischen wurden die Menschen auf ihn aufmerksam. Die Augen derer, die den unheiligen Handel trieben, blickten gebannt auf den Herrn. Sie konnten ihren Blick nicht abwenden. Es wurde ihnen bewusst, dass dieser Mann ihre innersten Gedanken las und ihre versteckten Absichten durchschaute. Einige versuchten, ihre Gesichter zu verbergen, so, als stünden ihre bösen Taten darin geschrieben, um von jenen durchdringenden Augen gelesen zu werden. Der Lärm verebbte. Die Stimmen der Händler und Käufer verstummten. Eine qualvolle Stille trat ein. Ein Gefühl des Schreckens packte die Anwesenden. Es war, als würden alle vor dem Richterstuhl Gottes stehen, um über ihre Taten Rechenschaft abzulegen. Sie schauten auf Christus und sahen Göttlichkeit durch seine menschliche Gestalt leuchten. Der König des Himmels stand vor ihnen wie der Richter am Jüngsten Tag – zwar nicht umgeben von der Herrlichkeit, die ihn dann bekleiden wird, aber mit derselben Macht, die das Innerste durchschaut. Jesus blickte über die Menge und erfasste dabei jeden Einzelnen. Seine Gestalt schien sich in gebietender Würde über alle Anwesenden zu erheben, und göttliches Licht erhellte sein Antlitz. Er sprach, und seine klare, klangvolle Stimme – dieselbe Stimme, die einst auf dem Sinai das Gesetz verkündigt hatte, das die Priester und Obersten jetzt übertraten – hallte durch den Tempel: »Tragt das weg und macht nicht meines Vaters Haus zum Kaufhaus!« (Johannes 2,16) Dann stieg er langsam die Stufen hinab, erhob eine Peitsche aus Stricken, die er bei seinem Eintritt in den Hof genommen hatte, und gebot den Händlern, den Tempelbezirk zu verlassen. Voller Eifer und Ernst, wie er dies zuvor noch nie offenbart hatte, stieß er die Tische der Geldwechsler um. Mit hellem Klimpern fielen die Münzen auf den Marmorboden. Niemand wagte es, die Autorität von Jesus in Frage zu stellen; niemand hatte den Mut, seinen durch Wucher erwirtschafteten Gewinn vom Boden aufzuheben. Jesus schlug sie nicht mit der Peitsche, dennoch wirkte dieses einfache Instrument in seiner hoch erhobenen Hand so furchterregend wie ein flammendes Schwert. Tempeldiener, feilschende Priester, Geldwechsler und Viehhändler mit ihren Schafen und Ochsen verließen, getrieben von dem einen Gedanken, dem Verdammungsurteil seiner Gegenwart zu entfliehen, überstürzt ihre Plätze. Die Menge, die die Göttlichkeit in Jesus spürte, wurde von Panik erfasst. Schreckensrufe kamen über Hunderte von bleichen Lippen. Selbst die Jünger zitterten. Die Worte und das Handeln von Jesus versetzten sie in Angst und Schrecken. Sein Verhalten war so ganz anders als sonst. Sie erinnerten sich, dass von ihm geschrieben stand: »Der Eifer um dein Haus hat mich verzehrt.« (Psalm 69,10 Elb.) Bald war die lärmende Menge mit ihrer Handelsware aus dem Tempel verschwunden. Die Höfe waren nun frei von unheiligen Geschäften, und eine tiefe, feierliche Stille legte sich über den Ort, an dem eben noch das größte Stimmengewirr geherrscht hatte. Der Herr, der vor langer Zeit durch seine Gegenwart den Berg geheiligt hatte, heiligte nun den Tempel, der zu seiner Ehre errichtet worden war. 

Mit der Reinigung des Tempels machte Jesus seine Aufgabe als Messias öffentlich bekannt und begann so seinen Dienst. Der Tempel, errichtet als Wohnstätte der göttlichen Gegenwart, sollte Israel und der ganzen Welt als Anschauungsunterricht dienen. Von Ewigkeit her war es die Absicht Gottes, dass jedes geschaffene Wesen – vom glänzenden und heiligen Seraph bis zum Menschen – ein Tempel Gottes sein sollte, in dem der Schöpfer wohnt. Infolge der Sünde verlor der Mensch diese hohe Bestimmung. Das Innerste des Menschen, durch das Böse verfinstert und entweiht, konnte die Herrlichkeit des Schöpfers nicht mehr offenbaren. Doch indem der Sohn Gottes die menschliche Natur annahm, wurde die ursprüngliche Absicht des Himmels erfüllt. Gott wohnt im Menschen, und durch seine rettende Gnade wird das Innerste des Menschen wieder zu seinem Tempel. Es war Gottes Plan, dass der Tempel in Jerusalem ein ständiges Zeugnis für die hohe Bestimmung sein sollte, zu der jeder Mensch berufen ist. Aber die Juden hatten die Bedeutung des Gebäudes, auf das sie so stolz waren, nicht verstanden. Sie stellten sich nicht dem Geist Gottes als heilige Tempel zur Verfügung. Die Tempelhöfe in Jerusalem, vom Lärm unheiliger Geschäfte erfüllt, waren ein treffendes Bild für ihre eigenen Herzenstempel, die durch sinnliche Begierden und böse Gedanken verunreinigt waren. Durch die Säuberung des Tempels von weltlichen Käufern und Händlern kündigte Jesus seine Mission an, das menschliche Herz vom Schmutz der Sünde zu reinigen – von den irdischen Wünschen, den selbstsüchtigen Begierden und den schlechten Gewohnheiten. »Bald wird kommen zu seinem Tempel der Herr, den ihr sucht; und der Engel des Bundes, den ihr begehrt, siehe, er kommt! spricht der Herr Zebaoth. Wer wird aber den Tag seines Kommens ertragen können und wer wird bestehen, wenn er erscheint? Denn er ist wie das Feuer eines Schmelzers und wie die Lauge der Wäscher. Er wird sitzen und schmelzen und das Silber reinigen, er wird die Söhne Levi reinigen und läutern wie Gold und Silber.« (Maleachi 3,1-3) »Wisst ihr nicht, dass ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt? Wenn jemand den Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott verderben, denn der Tempel Gottes ist heilig; der seid ihr.« (1. Korinther 3,16.17) Kein Mensch kann sich aus eigener Kraft von all dem Bösen trennen, das sich in seinem Inneren eingenistet hat. Nur Christus vermag den Tempel der Seele zu reinigen. Aber er will sich den Zutritt nicht erzwingen. Er dringt nicht in das Herz ein wie damals in den Tempel, sondern er sagt: »Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen.« (Offenbarung 3,20) Er will nicht nur für einen Tag kommen; denn er sagt: »Ich will unter ihnen wohnen und wandeln … und sie sollen mein Volk sein.« (2. Korinther 6,16) Er wird »unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen« (Micha 7,19). Seine Gegenwart will das Innerste eines Menschen reinigen und heiligen, damit er »ein heiliger Tempel« und eine »Wohnung Gottes im Geist« (Epheser 2,21.22) sein kann.

Überwältigt von Angst vor dem durchdringenden Blick, der ihre geheimsten Gedanken lesen konnte, waren die Priester und Obersten aus dem Tempel geflohen. Auf ihrer Flucht begegneten ihnen andere, die zum Tempel wollten. Denen befahlen sie umzukehren und berichteten, was sie gehört und gesehen hatten. Christus schaute den davonhastenden Menschen nach. Er hatte großes Erbarmen mit ihnen, weil sie sich fürchteten und nicht wussten, was wahrer Gottesdienst ist. In diesem Vorfall sah er symbolisch die Zerstreuung der gesamten jüdischen Nation – um ihrer Boshaftigkeit und Unbußfertigkeit willen. Warum flohen die Priester aus dem Tempel? Warum waren sie nicht standhaft geblieben? Derjenige, der ihnen befohlen hatte zu gehen, war der Sohn eines Zimmermanns, ein armer Galiläer ohne irdische Stellung und Macht. Warum leisteten sie keinen Widerstand? Warum verließen sie ihren Besitz, den sie auf so üble Weise erworben hatten, und rannten auf die Anweisung des Einen davon, dessen äußere Erscheinung so bescheiden war? Christus sprach mit der Vollmacht eines Königs. In seinem Auftreten und im Klang seiner Stimme lag etwas, dem sie nicht widerstehen konnten. Seine befehlenden Worte machten ihnen bewusst, dass sie in Wirklichkeit Heuchler und Diebe waren. Als die Göttlichkeit von Jesus durch seine Menschlichkeit hindurchleuchtete, sahen sie nicht nur Empörung auf seinem Antlitz. Sie erkannten auch die Tragweite seiner Worte. Es schien ihnen, als würden sie vor dem Thron des ewigen Richters stehen, um ihr Urteil für Zeit und Ewigkeit zu empfangen. Eine Zeitlang waren sie überzeugt, dass Jesus ein Prophet war, und viele hielten ihn sogar für den Messias. Der Heilige Geist erinnerte sie an die Aussagen der Propheten über den Erlöser. Würden sie dieser Überzeugung nachgeben? Doch bereuen wollten sie nicht. Sie wussten, dass Jesus Mitleid mit den Armen hatte. Ihnen war klar, dass sie in ihren Geschäften mit dem Volk Wucher getrieben und sich daher schuldig gemacht hatten. Und weil Christus ihre Gedanken erkannte, hassten sie ihn. Sein öffentlicher Tadel demütigte ihren Stolz, und wegen seines wachsenden Einflusses beim Volk wurden sie eifersüchtig. Sie entschlossen sich, ihn über seine Macht zu befragen, mit der er sie hinausgetrieben hatte, und darüber, wer ihm diese Kraft gegeben hatte.

Langsam und nachdenklich, aber mit Hass im Herzen, kehrten sie zum Tempel zurück. Doch welch eine Veränderung hatte während ihrer Abwesenheit stattgefunden! Als sie flüchteten, waren die Armen zurückgeblieben. Diese blickten jetzt auf Jesus, dessen Antlitz Liebe und Mitgefühl ausdrückte. Mit Tränen in den Augen sagte er zu denen, die zitternd um ihn standen: »Fürchtet euch nicht! Ich will euch erlösen, und ihr sollt mich preisen. Denn dazu bin ich in die Welt gekommen.« Die Menschen drängten sich immer näher um Jesus und baten: »Meister, segne uns!« Und Jesus vernahm jede Bitte. Mit tiefem Erbarmen, stärker als das einer liebevollen Mutter, beugte er sich über die leidenden Kleinen. Allen schenkte er seine Aufmerksamkeit. Jeder wurde geheilt, was immer seine Krankheit war. Die Stummen öffneten ihren Mund zum Lob, die Blinden sahen das Gesicht dessen, der sie geheilt hatte. Die Herzen der Leidenden wurden froh. Was für eine Entdeckung war es für die Priester und Tempeldiener, als sie die Stimmen der Freude hörten! Die Versammelten erzählten von ihren Schmerzen, unter denen sie gelitten hatten, von ihren enttäuschten Hoffnungen, von kummervollen Tagen und schlaflosen Nächten. Ehe aber ihr letzter Hoffnungsfunke zu verlöschen drohte, hatte sie Jesus geheilt. »Die Last war so schwer«, sagte einer, »aber ich habe einen gefunden, der mir half. Er ist der Messias, den Gott gesandt hat, und ich will mein Leben seinem Dienst weihen.« Eltern sagten zu ihren Kindern: »Er hat euer Leben gerettet. Erhebt eure Stimmen und preist ihn!« Die Stimmen der Kinder und Jugendlichen, der Väter und Mütter, der Freunde und Zuschauer vereinten sich in Lob und Dankesliedern. Hoffnung und Freude erfüllte ihre Herzen, und ihr Innerstes fand Frieden. Wiederhergestellt an Leib und Seele, kehrten sie heim und erzählten überall von der unvergleichlichen Liebe, die Jesus ausstrahlte. Als Christus gekreuzigt wurde, schlossen sich die Menschen, die auf diese Weise geheilt worden waren, nicht der pöbelnden Menge an, die schrie: »Kreuzige, kreuzige ihn!« (Lukas 23,21) Ihre Anteilnahme galt Jesus, weil sie selbst seine große Barmherzigkeit und wunderbare Kraft erfahren hatten. Sie betrachteten ihn als ihren Retter, weil er sie an Leib und Seele gesund gemacht hatte. Später erst, als sie die Verkündigung der Apostel hörten und Gottes Wort in ihre Herzen drang, erkannten sie ihren wahren Erlöser. So wurden sie zu Vertretern der Barmherzigkeit Gottes und zu Zeugen seiner Erlösung. Die Menge, die aus dem Tempelhof geflohen war, kam nach einiger Zeit zögernd zurück. Die meisten hatten sich vom Schrecken erholt, aber auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck von Unentschlossenheit und Angst. Sie sahen mit Erstaunen, was Jesus vollbracht hatte, und waren überzeugt, dass sich mit ihm die Weissagungen über den Messias erfüllt hatten. Die Verantwortung für die Sünde der Tempelentweihung lag größtenteils bei den Priestern. Auf ihre Anordnung hin war der Tempelhof in einen Marktplatz verwandelt worden. Im Vergleich dazu war das Volk unschuldig. Die Menschen waren von der göttlichen Autorität von Jesus beeindruckt, dennoch erwies sich der Einfluss der Priester und Obersten als größer. Sie betrachteten das Handeln von Christus als Neuheit und hinterfragten sein Recht, sich in das einzumischen, was die Verantwortlichen des Tempels erlaubt hatten. Sie fühlten sich angegriffen, weil ihre Geschäfte unterbrochen worden waren, und verschlossen sich den Mahnungen des Heiligen Geistes.

Vor allem die Priester und Obersten hätten in Jesus den Gesalbten des Herrn erkennen müssen, weil sie die heiligen Schriften, die sein Wirken beschrieben, besaßen. Sie wussten auch, dass sich in der Reinigung des Tempels eine übermenschliche Macht offenbart hatte. So sehr sie diesen Mann auch hassten, wurden sie doch den Gedanken nicht los, dass er ein Prophet sein könnte, der von Gott beauftragt war, die Heiligkeit des Tempels wiederherzustellen. Mit einer Ehrerbietung, die aus dieser Angst erwuchs, wandten sie sich an ihn mit der Frage: »Was zeigst du uns für ein Zeichen, dass du dies tun darfst?« (Johannes 2,18) Jesus hatte ihnen ein Zeichen gegeben. Indem er ihren Verstand erleuchtete und vor ihren Augen die Werke vollbrachte, die vom Messias erwartet wurden, hatte er bereits den überzeugenden Nachweis seines Wesens erbracht. Als sie nun nach einem Zeichen fragten, antwortete er mit einem Gleichnis, um ihnen zu zeigen, dass er ihre Bosheit erkannt hatte und sah, wohin sie diese Einstellung führen würde. »Brecht diesen Tempel ab«, sagte er, »und in drei Tagen will ich ihn aufrichten.« (Johannes 2,19) Diese Worte hatten eine zweifache Bedeutung. Jesus bezog sich damit nicht nur auf die Zerstörung des jüdischen Tempels und des Gottesdienstes, sondern auch auf seinen eigenen Tod – die Zerstörung des Tempels seines Leibes. Das aber planten die Leiter der Juden bereits. Als nämlich die Priester und Obersten zum Tempel zurückkehrten, hatten sie sich entschlossen, Jesus umzubringen, um so den Unruhestifter los zu werden. Als er ihnen jedoch ihre Absicht vor Augen führte, begriffen sie ihn nicht. Sie fassten seine Worte so auf, als bezögen sie sich allein auf den Tempel in Jerusalem. Darum erklärten sie unwillig: »Dieser Tempel ist in 46 Jahren erbaut worden, und du willst ihn in drei Tagen aufrichten?« (Johannes 2,20) Sie meinten nun, Jesus habe ihren Unglauben gerechtfertigt. Sie fühlten sich in ihrer Ablehnung ihm gegenüber bestätigt. Es war nicht die Absicht von Christus, dass die ungläubigen Juden oder sogar seine Jünger seine Worte zu diesem Zeitpunkt verstehen sollten. Er wusste, dass seine Feinde diese Worte falsch auslegen und gegen ihn verwenden würden. Während seines Verhörs würden sie seine Worte als Anklage gegen ihn Vorbringen und ihn auf Golgatha damit verhöhnen. Doch diese jetzt darzulegen hätte bedeutet, die Jünger über seine Leiden aufzuklären und sie mit Sorgen zu belasten, die sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht ertragen konnten. Gleichzeitig hätte eine Erklärung den Juden vorzeitig verraten, welche Auswirkungen ihre Vorurteile und ihr Unglaube einmal haben würden. Den Weg, den sie bereits eingeschlagen hatten, würden sie stetig weiterverfolgen, bis sie ihn als Lamm zur Schlachtbank geführt hätten. Christus sprach diese Worte zum Wohl derer, die einmal zum Glauben an ihn finden würden. Er wusste nämlich, dass sie eine weite Verbreitung finden würden, denn sie waren während des Passafestes gesprochen worden und würden so Tausenden zu Ohren kommen und in alle Teile der Welt getragen werden. Nach seiner Auferstehung von den Toten würde ihre Bedeutung verstanden werden und für viele der überzeugende Beweis seiner Göttlichkeit sein. Selbst die Jünger von Jesus lebten in großer geistlicher Finsternis, sodass sie seine Unterweisungen oft nicht begriffen. Viele dieser Aussagen verstanden sie erst durch die nachfolgenden Ereignisse. Als er nicht mehr bei ihnen war, fanden ihre Herzen in seinen Worten Halt.

In Bezug auf den Tempel in Jerusalem hatten die Worte »Brecht diesen Tempel ab, und in drei Tagen will ich ihn aufrichten« (Johannes 2,19) eine tiefere Bedeutung, als die Zuhörer erfassen konnten. Christus war das Fundament und das Leben des Tempels. Der Tempeldienst war ein Symbol für das Opfer des Sohnes Gottes. Das Priesteramt wurde eingesetzt, um zu zeigen, dass Christus eine Vermittlerrolle zwischen Gott und Mensch zu erfüllen hatte. Das ganze Opferwesen hatte den Zweck, im Voraus den Tod von Christus zur Erlösung der Welt darzustellen. Die Opfer würden ihre Wirksamkeit verlieren, sobald das große Ereignis stattgefunden hätte, auf das jahrhundertelang hingewiesen worden war. Da der ganze Tempeldienst ein Hinweis auf den Erlöser war, hatte er getrennt von ihm keinen Wert. Als die Juden ihre Ablehnung Christus gegenüber besiegelten und ihn dem Tod auslieferten, verwarfen sie damit alles, was dem Tempel und seinem Dienst Bedeutung verlieh. Seine Heiligkeit war von ihm gewichen, und er war dem Untergang geweiht. Von jenem Tag an waren die Opfer und die damit verbundenen Zeremonien bedeutungslos. Wie das Opfer Kains brachten auch jene Opfer keinen Glauben an den Erlöser zum Ausdruck. Indem die Juden Christus töteten, zerstörten sie gewissermaßen ihren eigenen Tempel. Und als er gekreuzigt wurde, riss der innere Vorhang des Tempels von oben bis unten entzwei – ein Zeichen dafür, dass das große endgültige Opfer gebracht worden war und das ganze System der Tieropfer für immer ein Ende gefunden hatte. »In drei Tagen will ich ihn aufrichten.« (Johannes 2,19) Mit dem Tod des Erlösers schienen die Mächte der Finsternis die Oberhand gewonnen zu haben. Sie jubelten über ihren Triumph. Jesus aber ging aus dem Grab, das ihm Josef von Arimathäa überlassen hatte, als Sieger hervor. »Er hat die Mächte und Gewalten ihrer Macht entkleidet und sie öffentlich zur Schau gestellt und hat einen Triumph aus ihnen gemacht.« (Kolosser 2,15) Durch seinen Tod und seine Auferstehung wurde Christus ein »Diener am Heiligtum und an der wahren Stiftshütte, die Gott aufgerichtet hat und nicht ein Mensch« (Hebräer 8,2). Menschen errichteten das israelitische Heiligtum, sie bauten auch den jüdischen Tempel, doch das Heiligtum im Himmel, dessen Abbild das irdische war, wurde von keinem irdischen Baumeister erbaut. »Siehe, ein Mann, dessen Name ›Spross‹ ist, denn er wird … den Tempel des Herrn bauen … und er wird Herrlichkeit [als Schmuck] tragen und auf seinem Thron sitzen und herrschen, und er wird Priester sein auf seinem Thron« (Sacharja 6,12.13 Schl.). Der Opferdienst, der auf Christus hinwies, verlor seine Bedeutung. Stattdessen wurden die Augen der Menschen auf das wahre Opfer gelenkt, das für die Sünden der Welt dargebracht worden war. Das irdische Priestertum wurde ebenfalls bedeutungslos. Aber wir schauen auf Jesus, den Mittler des Neuen Bundes, und auf das »Blut der Besprengung, das besser redet als Abels Blut« (Hebräer 12,24). »Der Weg ins ›himmlische‹ Heiligtum« war noch »nicht offen … solange die Bestimmungen des irdischen Zeltes in Kraft sind … Jetzt aber ist diese Zeit angebrochen, denn jetzt ist Christus gekommen, der Hohepriester, der uns die wahren Güter gebracht hat. Er hat ein größeres und vollkommeneres Zelt durchschritten, ein Zelt, das nicht von Menschen gemacht wurde … Und was ihm den Weg ins Heiligtum öffnete, war nicht das Blut von Böcken und Kälbern, sondern sein eigenes Blut. Ein einziges Mal ist er hineingegangen, und die Erlösung, die er bewirkt hat, gilt für immer und ewig.« (Hebräer 9,8.11.12 NGÜ) »Und das ist auch der Grund dafür, dass er alle vollkommen retten kann, die durch ihn zu Gott kommen. Er, der ewig lebt, wird nie aufhören, für sie einzutreten.« (Hebräer 7,25 NGÜ) Obwohl der Mittlerdienst vom irdischen auf den himmlischen Tempel übertragen wurde und das Heiligtum und der große Hohepriester dem menschlichen Auge verborgen sind, haben die Nachfolger von Christus dadurch keinen Nachteil. Ihre Gemeinschaft mit ihm ist nicht unterbrochen und ihre Kraft nicht geringer – trotz der Abwesenheit von Jesus. Während Christus im himmlischen Heiligtum dient, ist er durch den Heiligen Geist gleichzeitig auch ein Diener der Gemeinde auf Erden. Er ist zwar für unsere Augen unsichtbar, hat aber sein Versprechen eingelöst, das er bei seinem Abschied gegeben hat: »Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende« (Matthäus 28,20). Während er untergebene Diener mit seiner Kraft bevollmächtigt, ist seine belebende Gegenwart immer noch in seiner Gemeinde spürbar. »Weil wir nun aber einen großen Hohenpriester haben – Jesus, den Sohn Gottes – wollen wir entschlossen an unserem Bekenntnis zu ihm festhalten. Jesus ist ja nicht ein Hoherpriester, der uns in unserer Schwachheit nicht verstehen könnte. Vielmehr war er – genau wie wir – Versuchungen aller Art ausgesetzt, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass er ohne Sünde blieb. Wir wollen also voll Zuversicht vor den Thron unseres gnädigen Gottes treten, damit er uns sein Erbarmen schenkt und uns seine Gnade erfahren lässt und wir zur rechten Zeit die Hilfe bekommen, die wir brauchen.« (Hebräer 4,14-16 NGÜ)

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