Eines Tages befand sich der Heiland mit seinen Jüngern auf dem Wege nach Gethsemane, einem ruhig gelegenen Ort am Fuße des Ölberges, den der Herr oft aufgesucht hatte, um nachzudenken und zu beten. Jesus hatte den Jüngern das Wesen seiner Sendung und ihre geistliche Bindung zu ihm, die sie unterhalten sollten, erklärt. Nun veranschaulichte er ihnen diese Erklärung. Das silberne Licht des Mondes enthüllte einen Weinstock, der voller Reben war. Der Heiland lenkte die Aufmerksamkeit der Jünger auf dieses Bild und benutzte es als Symbol. „Ich bin der rechte Weinstock“, (Johannes 15,1) sagte er. Statt die anmutige Palme, die stattliche Zeder oder die starke Eiche für seinen Vergleich heranzuziehen, wies der Herr auf den Weinstock mit den sich anklammernden Ranken und verglich sich mit ihm. Palmen, Zedern und Eichen stehen allein; sie brauchen keine Stütze. Der Wein aber rankt sich am Spalier entlang und strebt dadurch himmelwärts. So war Christus als Mensch von der göttlichen Macht abhängig. „Der Sohn kann nichts von sich selber tun“, (Johannes 5,19) erklärte er. „Ich bin der rechte Weinstock.“
Die Juden hatten den Weinstock stets als die edelste aller Pflanzen betrachtet; sie nahmen ihn als Sinnbild alles dessen, was stark, herrlich und fruchtbar war. Israel selbst war als ein Weinstock dargestellt worden, den Gott in dem verheißenen Lande gepflanzt hatte. (Jesaja 5,1-7) Die Juden gründeten die Hoffnung ihres Heils auf die Tatsache, dass sie mit Israel verbunden waren; aber Jesus sagte: „Ich bin der rechte Weinstock.“ Glaubt nicht, dass ihr durch die Verbindung mit Israel Teilhaber des göttlichen Lebens und Erben seiner Verheißung werdet; durch mich allein wird geistliches Leben empfangen. „Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner.“ (Johannes 15,1) Auf Palästinas Hügeln hatte der himmlische Vater diesen guten Weinstock gepflanzt, und er selbst war der Weingärtner. Viele wurden durch die Schönheit dieses Weinstockes angezogen und bekannten, er sei himmlischen Ursprungs. Nur den Führern Israels erschien er wie eine Wurzel auf dürrem Erdreich. Sie nahmen die Pflanze, beschädigten sie und zertraten sie unter ihren unheiligen Füßen in der Hoffnung, sie für immer zu vernichten; doch der himmlische Weingärtner ließ das edle Reis nicht aus dem Auge. Nachdem die Menschen glaubten, es vernichtet zu haben, nahm er es und verpflanzte es auf die andere Seite der Mauer. So war der Weinstock nunmehr nicht länger sichtbar, und er blieb den zerstörenden Angriffen der Menschen entzogen. Aber seine Reben hingen über die Mauer und wiesen wiederum auf den Weinstock; durch sie konnten immer noch Wildlinge mit dem guten Weinstock verbunden werden. Auch sie haben Früchte gezeitigt und sind zur Ernte geworden, die die Vorübergehenden eingebracht haben.
„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben.“ (Johannes 15,5) Das sagte der Herr zu seinen Jüngern. Obgleich er im Begriff stand, sie zu verlassen, war ihre geistliche Verbindung mit ihm unverändert. Die Verbindung der Rebe mit dem Weinstock, so sagte er, veranschaulicht das Verhältnis, in dem ihr zu mir bleiben sollt. Der junge Trieb wird dem Weinstock eingepfropft und wächst Faser auf Faser, Ader auf Ader in den Stamm ein, so dass das Leben des Weinstocks sich mit dem der Rebe vereinigt. So empfängt auch die in Schuld und in Sünden abgestorbene Seele neues Leben durch die Verbindung mit Christus, die durch den Glauben an ihn als einen persönlichen Heiland hergestellt wird. Der Sünder vereinigt seine Schwachheit mit der Stärke Christi, seine Leere mit der Fülle Jesu und seine Gebrechlichkeit mit Christi ausdauernder Kraft. Er wird eines Sinnes mit ihm; die menschliche Natur Christi hat unser Menschsein berührt und unsere menschliche Natur die Gottheit. So wird der Mensch durch die Vermittlung des Heiligen Geistes der göttlichen Natur teilhaftig; er ist „begnadet… in dem Geliebten“. (Epheser 1,6) Diese Verbindung mit Christus muss, wenn sie einmal entstanden ist, aufrechterhalten werden. Der Herr sagte: „Bleibet in mir und ich in euch. Gleichwie die Rebe kann keine Frucht bringen von sich selber, sie bleibe denn am Weinstock, so auch ihr nicht, ihr bleibet denn in mir.“ (Johannes 15,4) Dies ist aber keine zufällige Berührung, keine gelegentliche Verbindung, sondern die Rebe wird ein Teil des Weinstocks. Leben, Kraft und Fruchtbarkeit fließen ihr ungehindert und beständig aus der Wurzel zu. Getrennt vom Weinstock aber ist die Rebe nicht lebensfähig. Auch ihr, so sprach Jesus, könnt nicht leben ohne mich. Das Leben, das ihr von mir empfangen habt, kann nur durch die beständige Gemeinschaft mit mir bewahrt werden. Ohne mich könnt ihr weder eine Sünde überwinden noch einer Versuchung widerstehen.
„Bleibet in mir und ich in euch.“ (Johannes 15,4) Das bedeutet ein beständiges Empfangen seines Geistes, ein Leben der vorbehaltlosen Hingabe an seinen Dienst. Die Verbindung zwischen dem einzelnen und seinem Gott darf nicht unterbrochen werden. Wie die Rebe unaufhörlich den Saft aus dem lebenden Weinstock zieht, so müssen wir uns an Jesus klammern und von ihm durch den Glauben die Stärke und Vollkommenheit seines Wesens empfangen. Die Wurzel sendet die Nahrung durch die ganze Rebe hindurch in die äußersten Spitzen; ebenso übermittelt der Herr dem Gläubigen Ströme voller geistlicher Stärke. Solange die Seele mit Christus verbunden ist, besteht keine Gefahr, dass sie verwelkt oder umkommt. Das Leben des Weinstocks zeigt sich deutlich in seinen duftenden Früchten. „Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun.“ (Johannes 15,5) Leben wir durch den Glauben an den Sohn Gottes, dann werden sich die Früchte des Geistes in unserem Wandel offenbaren; nicht eine einzige Frucht wird fehlen (Galater 5,22.23; Epheser 5,9).
„Und mein Vater (ist) der Weingärtner. Eine jegliche Rebe an mir die nicht Frucht bringt, wird er wegnehmen.“ (Johannes 15,1.2) Während das eingepfropfte Reis äußerlich mit dem Weinstock verbunden ist, so kann doch die lebendige Verbindung fehlen. Dann werden sich weder Wachstum noch Fruchtbarkeit zeigen. So gibt es auch eine scheinbare Verbindung mit Christus, ohne durch den Glauben wirklich mit ihm eins zu sein. Ein Glaubensbekenntnis macht den Menschen wohl zum Mitglied einer christlichen Gemeinschaft; aber erst Charakter und Lebensführung beweisen, ob er mit Christus verbunden ist. Trägt solch Bekenner keine Frucht, dann wird er wie eine schlechte Rebe verwelken und vergehen. „Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer, und müssen brennen.“ (Johannes 15,6) „Eine jegliche Rebe an mir… die da Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe.“ (Johannes 15,2) Von der Jüngerschar, die Jesus erwählt hatte, stand einem unmittelbar bevor, wie eine verdorrte Rebe fortgeworfen zu werden, die anderen aber würden unter das Winzermesser scharfer Prüfungen kommen. In ernster Besorgnis erklärte Jesus die Absicht des Weingärtners. Das Beschneiden verursacht Schmerzen, aber es ist der Vater, der das Messer führt. Er arbeitet nicht mit lässiger Hand oder mit gleichgültigem Herzen. Einige Reben wachsen am Boden; sie müssen daher von den irdischen Stützen getrennt werden, an denen ihre Ranken haften. Sie sollen sich aufwärts entwickeln und an Gott Halt finden. Das überreichliche Laub, das der Frucht die Lebenskraft entzieht, muss beschnitten werden; es muss entfernt werden, damit gleichzeitig die milden Strahlen der Sonne der Gerechtigkeit eindringen können. Der Weingärtner schneidet den zu üppigen Wuchs ab, damit die Früchte schöner und reichlicher gedeihen können. „Darin wird mein Vater verherrlicht, dass ihr viel Frucht bringet.“ (Johannes 15,8) Gott will die Heiligkeit, die Güte und das Erbarmen seines Wesens durch uns offenbaren. Dennoch gebietet Jesus den Jüngern nicht, danach zu trachten, Frucht zu bringen; er sagt ihnen nur, in ihm zu bleiben. „Wenn ihr in mir bleibet“, sprach er, „und meine Worte in euch bleiben, werdet ihr bitten, was ihr wollt, und es wird euch widerfahren.“ (Johannes 15,7)
Christus bleibt in den Gläubigen durch sein Wort. Das ist die gleiche lebendige Verbindung, wie sie durch das Abendmahl versinnbildet wird. Christi Worte sind Geist und Leben. Wer sie aufnimmt, empfängt das Leben des Weinstocks. Wir leben „von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht“. (Matthäus 4,4) Das Leben Christi in uns erzeugt die gleichen Früchte wie in ihm, und wenn wir in Christus leben, an ihm hangen, von ihm gestützt werden und unsere Nahrung von ihm nehmen, dann tragen wir auch Frucht gleich ihm. Die Frucht des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Mäßigkeit (Galater 5,22.23). Wenn sich ein Mensch zu Gott bekehrt hat, wird ihm ein neues moralisches Empfinden zuteil. Er wird von anderen Beweggründen beseelt und liebt das, was Gott liebt, weil sein Leben mit der goldenen Kette der unveränderlichen Verheißungen des Lebens Jesu verbunden ist. Liebe, Freude, Friede und unaussprechliche Dankbarkeit werden die Seele durchdringen. Wer so gesegnet wird, der wird sagen: „… du machst mich groß.“ (Psalm 18,36). Wer aber darauf wartet, dass sein Charakter spontan verändert wird, ohne eigenes, entschiedenes Bemühen, die Sünde zu überwinden, der wird gewiss enttäuscht werden.
Wenn wir auf Jesus schauen, haben wir keinen Grund zu irgendwelchen Befürchtungen. Es gibt keinen Grund zu zweifeln; denn er ist imstande, alle zu erlösen, die zu ihm kommen. Trotzdem müssen wir ständig auf der Hut sein, damit uns der Feind nicht überlistet, wodurch wir wieder von ihm gefangen werden und die alte Natur wieder die Oberhand gewinnt. Wir müssen schaffen, dass wir selig werden, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist es, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen nach seinem Wohlgefallen (Philipper 2,12.13). Mit unseren begrenzten Möglichkeiten müssen wir in unserem Bereich heilig sein wie Gott in seinem Bereich heilig ist (1. Petrus 1,14-16). Im Rahmen unserer Fähigkeiten sollen wir die Wahrheit, Liebe und Vortrefflichkeit des göttlichen Wesens widerspiegeln. Wie man ein Siegel in Wachs eindrücken kann, so muss die Seele das Wirken des Geistes Gottes aufnehmen und das Ebenbild Christi bewahren. Wir müssen täglich an geistlicher Schönheit zunehmen. In unseren Bemühungen, dem göttlichen Vorbild nachzueifern, werden wir oft scheitern. Wir werden oft wegen unserer Unzulänglichkeiten und Fehler niederknien müssen, um zu Jesu Füßen zu weinen. Aber wir dürfen uns nicht entmutigen lassen. Wir müssen noch ernster beten, noch mehr glauben und mit noch größerer Beharrlichkeit versuchen, die Ähnlichkeit Christi zu erreichen.
Wenn wir unserer eigenen Kraft misstrauen, werden wir auf die Kraft unseres Erlösers bauen und Gott loben, der das Heil unseres Angesichtes und unser Gott ist. Dort wo es Eintracht mit Gott gibt, da herrscht Liebe. Mögen wir auch noch so viele andere Früchte bringen, wenn die Liebe fehlt, nützen sie nichts (1. Korinther 13,1-3). Die Liebe zu Gott und zu unserem Nächsten ist unser oberster Grundsatz (Matthäus 22,36-40). Niemand kann Christus lieben, der seine Kinder nicht liebt (1. Johannes 5,2). Sind wir mit Christus verbunden, dann haben wir auch Christi Geist. Reinheit und Liebe prägen den Charakter, Sanftmut und Wahrheit beherrschen das Leben. Sogar der Gesichtsausdruck verändert sich. Wenn Christus in der Seele wohnt, übt er eine umwandelnde Kraft aus, und die äußere Erscheinung lässt den innewohnenden Frieden und die Freude erkennen.
Wir nehmen die Liebe Christi in uns auf wie die Rebe die Nährstoffe vom Weinstock aufnimmt. Wenn wir in Christus eingepflanzt sind, wenn wir Faser für Faser mit dem lebendigen Weinstock verbunden sind, dann wird dies durch kostbare Trauben lebendiger Frucht zu erkennen sein (Johannes 15,5). Sind wir mit dem Licht verbunden, so werden wir zu Lichtkanälen. Mit Worten und Taten werden wir das Licht vor der Welt leuchten lassen. Wahre Christen sind mit der Kette der Liebe verbunden, die die Erde mit dem Himmel vereinigt. Dadurch wird die sündige Menschheit mit dem unendlichen Gott verknüpft. Zur Ehre Gottes wird das Licht, das vom Angesichte Jesu Christi strahlt, in die Herzen seiner Nachfolger dringen. Durch Betrachten werden wir verwandelt (2. Korinther 3,18). Wenn wir über die Vollkommenheit unseres göttlichen Vorbildes nachdenken, wird in uns der Wunsch wach, völlig verwandelt und in das Ebenbild seiner Reinheit umgestaltet zu werden. Der Glaube an den Sohn Gottes bewirkt eine Veränderung unseres Charakters, so dass der Mensch des Verderbens zum Kind Gottes wird. Er kommt vom Tod zum Leben, wird geistlich gesinnt und lernt, geistliche Dinge richtig zu beurteilen. Gottes Weisheit erleuchtet ihn, und er erkennt, wie wunderbar Gottes Gesetz ist (Römer 7,12). Wenn jemand durch die Wahrheit verwandelt wird, geht die Umgestaltung seines Charakters weiter. Sein Verständnis nimmt zu. Indem ein Gotteskind Gott gehorsam wird, erhält es die Gesinnung Christi, und Gottes Wille geht ihm in Fleisch und Blut über. Wer sich vorbehaltlos unter die Leitung des Geistes Gottes stellt, wird erfahren, dass sich sein Verstand entfaltet und entwickelt. Ihm wird eine Förderung im Dienste Gottes zuteil, die nicht einseitig oder unvollständig ist – also auch keinen einseitigen Charakter hervorbringt – sondern, die alle Ansprüche auf Ausgewogenheit und Vollständigkeit erfüllt. Schwäche, die sich in Unschlüssigkeit und einem unfähigen Charakter zeigte, wird überwunden. Durch ständige Hingabe und fortgesetztes Streben nach Frömmigkeit gelangt der Mensch in eine solch enge Beziehung zu Christus, dass er den Geist Christi empfängt. Er ist eins mit Christus. Seine Grundsätze sind rechtschaffen und gefestigt. Sein Wahrnehmungsvermögen ist scharfsichtig, und er besitzt Weisheit, die von Gott kommt. Jakobus sagt: „Wer ist weise und klug unter euch? Der erzeige mit seinem guten Wandel seine Werke in der Sanftmut und Weisheit.“(Jakobus 3,13) „Die Weisheit aber von oben her ist aufs erste keusch, danach friedsam, gelinde, lässt sich sagen, voll Barmherzigkeit und guter Früchte, unparteiisch, ohne Heuchelei. Die Frucht aber der Gerechtigkeit wird gesät im Frieden denen, die den Frieden halten.“ (Jakous 3,17.18) Wer den Becher des Heils nimmt und den Namen des Herrn anruft, der wird diese Weisheit bekunden. Diese Erlösung, die dem Missetäter Vergebung bringt, bietet ihm auch die Gerechtigkeit, die bei der Untersuchung des Allwissenden bestehen kann. Sie verhilft ihm zum Sieg über den mächtigen Feind Gottes und der Menschen, bringt dem Empfänger ewiges Leben und Freude. Den Demütigen, die davon hören und sich freuen, mag es außerdem ein Thema der Erbauung sein.