Natur und Offenbarung zeugen beide von Gottes Liebe. Unser himmlischer Vater ist die Quelle des Lebens, der Wahrheit und der Freude. Blickt nur hin auf die sinnvollen und herrlichen Wunder der Natur! Bedenkt, wie vortrefflich sie nicht nur den Bedürfnissen und dem Glück der Menschen, sondern auch aller anderen Lebewesen angepasst sind! Sonnenschein und Regen, die die Erde erquicken und erfrischen, Hügel, Seen und Ebenen erzählen uns von der Liebe des Schöpfers. Gott sorgt täglich für alle seine Geschöpfe. Der Psalmdichter spricht diesen Gedanken treffend mit den Worten aus: „Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zu seiner Zeit. Du tust deine Hand auf und erfüllest alles, was lebt, mit Wohlgefallen.“ (Psalm 145,15.16) Gott erschuf den Menschen heilig und glücklich. Die Erde, die schön aus des Schöpfers allmächtiger Hand hervorgegangen war (1.Mose 1,31), wies noch keine Spur des Verfalls oder einen Schatten des Fluchs auf. Erst die Übertretung des göttlichen Gesetzes, des Gesetzes der Liebe, brachte Verderben und Tod in die Welt (Römer 6,23; 1. Johannes 3,4). Dennoch offenbart sich Gottes Liebe inmitten der Leiden, den Folgen der Sünde. Zwar steht geschrieben, dass Gott den Acker (die Erde) um des Menschen willen verflucht hat, (1.Mose 3,17) die Dornen und Disteln, die Schwierigkeiten und Prüfungen, die das Dasein des Menschen zu einem Leben voll Mühe und Sorge machen würden, waren jedoch zu seinem Besten bestimmt. Sie bildeten einen Teil der notwendigen Schule im Heilsplan Gottes, die Menschheit aus der Erniedrigung und dem tiefen Fall, den die Sünde verursacht hatte, wieder emporzuheben. Trotzdem ist diese in Sünde gefallene Welt noch nicht gänzlich ein Ort des Elends und der Sorge.
In der Natur selbst finden wir Botschaften der Hoffnung und des Trostes. Es wachsen noch Blüten auf den Disteln, und die Dornen sind mit Rosen bedeckt. „Gott ist die Liebe!“ (1. Johannes 4,8) steht auf jeder sich öffnenden Knospe, auf jedem Grashalm geschrieben. Die lieblichen Vögel, deren frohe Lieder die Luft erfüllen, die zart gefärbten Blumen, die in ihrer vollkommenen Schönheit den Raum mit ihren Wohlgerüchen durchschweben, die stattlichen Bäume des Waldes mit dem saftigen Grün ihres reichen Blätterwerks; sie alle zeugen laut von der liebevollen, väterlichen Fürsorge unseres Gottes und von seinem Verlangen, seine Kinder glücklich zu machen. Gottes Wesen offenbart sich in seinem Wort. Als Mose betete: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen“, antwortete ihm der Herr: „Ich will vor deinem Angesicht alle meine Güte vorübergehen lassen.“ (2.Mose 33,18.19) Das ist seine Herrlichkeit. Als der Herr vor dem Angesicht Moses vorüberging, rief er: „Herr, Herr, Gott, barmherzig und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue! der da bewahrt Gnade in tausend Glieder und vergibt Missetat, Übertretung und Sünde.“ (2.Mose 34,6) In ähnliche Worte brach Jona aus: „Ich weiß, dass du gnädig, barmherzig, langmütig und von großer Güte bist.“ (Jona 4,2) Der Herr hat uns zu sich gezogen durch unzählige Beweise seiner Liebe im Himmel und auf Erden. Er hat sich uns durch die Werke der Natur, durch die innigsten und zartesten Bande, die das Menschenherz nur zu ersinnen und zu erkennen vermag, zu offenbaren gesucht; doch versinnbilden diese alle nur unvollkommen seine Liebe zu uns.
Trotz dieser klaren Beweise verblendete der Feind alles Guten die Herzen der Menschen so sehr, dass sie nur mit Furcht und Zittern auf Gott schauten und sich ihn als einen harten und unversöhnlichen Herrn vorstellten. Satan verleitete den Menschen dazu, Gott als ein Wesen anzusehen, dessen Haupteigenschaft starre Gerechtigkeit ist, als einen strengen Richter, einen unnachsichtigen Gläubiger. Er stellt den Schöpfer dar, als ob er mit misstrauischen Blicken die Irrtümer und Fehler der Menschen beobachtete und dann die armen Geschöpfe mit seinen Gerichten überfiele. Jesus kam nun auf die Erde und lebte unter Menschen, um diese dunklen Schatten zu entfernen und der Welt die unendliche Liebe Gottes zu offenbaren. Der Sohn verließ den Himmel, um uns den Vater zu zeigen. „Niemand hat Gott je gesehen; der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn uns verkündigt.“ (Johannes 1,18) „Niemand kennt den Sohn denn nur der Vater; und niemand kennt den Vater denn nur der Sohn und wem es der Sohn offenbaren will.“(Matthäus 11,27) Als einer der Jünger die Forderung stellte „Herr, zeige uns den Vater“, da antwortete Jesus: „So lange bin ich bei euch, und du kennst mich nicht, Philippus? Wer mich sieht, der sieht den Vater; wie sprichst du denn: Zeige uns den Vater?“ (Johannes 14,8.9) In der Schilderung seiner irdischen Aufgabe sagte Jesus: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum dass er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen.“ (Lukas 4,18) Dies war sein Werk. Er zog umher, tat wohl und machte alle gesund, die vom Teufel überwältigt waren (Apostelgeschichte 10,38). Es gab viele Dörfer, in deren Häusern man nicht mehr das Seufzen und Klagen der Kranken vernahm; denn er war hindurchgegangen und hatte die Kranken geheilt. Seine Werke erbrachten den Beweis seiner göttlichen Sendung. Liebe, Barmherzigkeit und tiefes Mitgefühl zeigten sich in jeder Handlung seines Lebens. Sein Herz suchte die Menschen in liebevollem Erbarmen. Er nahm die menschliche Natur an, um desto besser unsern Bedürfnissen gerecht zu werden (Hebräer 2,14-18). Die Ärmsten und Geringsten waren nicht bange, sich ihm zu nähern; selbst die Kinder fühlten sich zu ihm hingezogen. Sie saßen gern zu seinen Füßen und auf seinen Knien und schauten zutraulich in sein ausdrucksvolles Antlitz; denn es strahlte Liebe aus. Jesus unterdrückte auch nicht ein Wort der Wahrheit, aber er sagte sie stets in Liebe.
In seinem alltäglichen Umgang mit dem Volk war der Heiland voller Schicklichkeitsgefühl, aufmerksam und besorgt. Nie war er unhöflich oder unfreundlich, nie sprach er ohne Ursache ein hartes Wort, nie kränkte er unnötig ein fühlendes Herz (Jesaja 42,2.3). Er sagte die Wahrheit, aber immer in Liebe. Menschliche Schwäche verurteilte er nicht, wohl aber rügte er die Heuchelei, den Unglauben und die Ungerechtigkeit; doch tat er dies nur mit Tränen in den Augen und mit bewegter Stimme. Er weinte über Jerusalem, die Stadt, die er so lieb hatte und die sich weigerte, ihn aufzunehmen, ihn den Weg, die Wahrheit und das Leben (Lukas 19,41; Johannes 14,6). Obgleich die Bewohner Jerusalems den Heiland verworfen hatten, blickte er doch auf sie mit erbarmender Liebe. Sein Leben war ein Leben der selbstverleugnenden und nachdenklichen Fürsorge für andere. In seinen Augen war jeder Mensch wertvoll. Während er stets eine göttliche Würde bewahrte, beugte er sich doch mit zartester Rücksicht zu jedem Glied der Hausgenossenschaft Gottes herab. In allen Menschen sah er Geschöpfe, deren Errettung vom ewigen Tod seine Aufgabe war (Lukas 19,10).
Christus offenbarte in seinem Leben sein Wesen; dies ist zugleich das Wesen Gottes. Aus des Vaters Herzen fließen die Ströme göttlicher Barmherzigkeit, zeigen sich in Christus und ergießen sich über die Menschen. Jesus, der barmherzige, liebevolle Heiland, wurde Gott, „offenbart im Fleisch“ (1. Timotheus 3,16). Christus lebte, litt und starb, um uns zu erlösen. Er wurde ein „Mann der Schmerzen“, auf dass wir an der ewigen Freude teil hätten. Gott ließ es zu, dass sein geliebter Sohn, voller Gnade und Wahrheit, aus einem Reich unbeschreiblicher Herrlichkeit in eine von Sünden verderbte und vergiftete Welt kam, die von dem Schatten des Todes und dem Fluch verdunkelt war. Er stellte es ihm frei, den Himmel zu verlassen, auf die Anbetung der Engel zu verzichten und dafür Schande, Beleidigung, Demütigung, Hass, ja den Tod zu erdulden. „Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jesaja 53,5) In der Wüste, in Gethsemane und am Kreuz nahm der reine Sohn Gottes die Last der Sünde auf sich. Er, der mit Gott eins gewesen war, fühlte die furchtbare Trennung, die die Sünde zwischen Gott und den Menschen verursacht. Dieses Bewusstsein entlud sich in seinem Schmerzensschrei: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Matthäus 27,46) Die Schwere der Sünde, das Gefühl ihrer entsetzlichen Tragweite, ihrer Macht, den Menschen von Gott zu trennen, brach das Herz des Gottessohnes. Christus entschloss sich zu diesem großen Opfer jedoch nicht, um in dem Herzen des himmlischen Vaters Liebe zu den Menschen wach zurufen oder ihn willig zu machen, uns zu erlösen. Nein, nein! „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab.“ (Johannes 3,16) Der Vater liebt uns nicht des großen Sühnopfers wegen, sondern er wählte es, weil er uns liebte (Johannes 16,27). Christus wurde zum Mittler, durch den Gott seine unendliche Liebe auf die in Sünden gefallene Welt ausgoss. „Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit ihm selber“ (2.Korinther 5,19). Gott litt mit seinem Sohn. In der Seelenangst im Garten Gethsemane und beim Todeskampf am Kreuz auf Golgatha bezahlte die ewige Liebe den hohen Preis für unsere Erlösung. Jesus sagt: „Darum liebt mich mein Vater, dass ich mein Leben lasse, auf dass ich’s wiedernehme“ (Johannes 10,17). Das heißt: Mein Vater hat euch so lieb, dass er mich um so mehr liebt, weil ich mein Leben für eure Erlösung dahin gegeben habe. Durch diese Preisgabe meines Lebens bin ich euer Stellvertreter und Bürge geworden; ich habe eure Schuld und eure Übertretungen auf mich genommen und dadurch die Liebe meines Vaters erworben. Denn nur durch mein Opfer bleibt Gott gerecht und ist dennoch ein Rechtfertiger dessen, der an mich glaubt. Niemand anders als der Sohn Gottes war fähig, unsere Erlösung zu vollbringen; denn allein der eingeborene Sohn, der in des Vaters Schoß war, konnte ihn offenbaren. Nur er, der die Höhe und Tiefe der Liebe Gottes selbst kannte, vermochte sie der Welt zu verkünden.
Nichts Geringeres als das von Christus für die gefallene Menschheit dargebrachte, unendlich große Opfer war imstande, unseres himmlischen Vaters Liebe für das verlorene Menschengeschlecht auszudrücken. „Also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab“ (Johannes 3,16). Er gab ihn nicht nur, damit er unter den Menschen lebte, der Welt Sünden trüge und am Kreuzesstamm den Opfertod stürbe, er schenkte ihn der gefallenen Menschheit. Christus sollte die Bestrebungen und Bedürfnisse des Menschengeschlechtes aus eigener Anschauung kennenlernen. Deshalb verband sich der eingeborene Sohn Gottes unlösbar mit den Menschenkindern. „Darum schämt er sich auch nicht, sie Brüder zu heißen“ (Hebräer 2,11). Er wurde unser Opfer, unser Fürsprecher, unser Bruder, der vor des Vaters Thron unsere menschliche Gestalt trägt und für alle Zeiten eins ist mit dem Geschlecht, das er erlöst hat. Er wurde des Menschen Sohn. All dies tat er, um die Menschen von dem Verderben und der Erniedrigung durch die Sünde zu erretten und empor zu heben; sie sollten die Liebe Gottes widerspiegeln und teilhaben an der Freude, die aus der Heiligkeit erwächst.
Der Preis unserer Erlösung, das unendlich große Opfer unseres himmlischen Vaters, das in der Hingabe seines Sohnes besteht, sollte uns mit erhabenen Gedanken über das erfüllen, was wir durch Christus werden können. Berührt vom Heiligen Geist, wird der Apostel Johannes im Hinblick auf die Höhe, die Tiefe und die Breite der Liebe des Vaters zu einer sterbenden Welt mit Anbetung und Ehrfurcht erfüllt; unfähig, eine passende Sprache zu finden, in der er die Größe und Herzlichkeit solcher Liebe ausdrücken könnte, ruft er der Welt zu, ihr Auge auf sie zu lenken: „Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erzeigt, dass wir Gottes Kinder sollen heißen!“ (1.Johannes 3,1) Welch hohen Wert erhalten dadurch die Menschen! Durch die Sünde wurden sie Untertanen Satans; durch das Versöhnungsopfer Christi aber können die Nachkommen Adams wieder Kinder Gottes werden. Durch die Annahme der menschlichen Natur hebt Christus die gefallenen Menschen zu sich empor, so dass sie durch die Verbindung mit ihm wirklich des Namens „Kinder Gottes“ würdig zu werden vermögen. Solche Liebe ist ohnegleichen. Kinder des himmlischen Königs sollen wir heißen! Welch köstliche Verheißung! O Gegenstand des tiefsten Nachdenkens! O unvergleichliche Liebe Gottes zu einer Welt, die ihn nicht liebte! Dieser Gedanke übt einen bezwingenden Eindruck aus und macht das Herz dem Willen Gottes untertan. Je mehr wir über das göttliche Wesen Christi im Lichte des Kreuzes nachdenken, desto mehr Barmherzigkeit, Liebe und Vergebung, verbunden mit Unparteilichkeit und Gerechtigkeit, erblicken wir; desto klarer erkennen wir die unzähligen Beweise der grenzenlosen Liebe Gottes und das herzliche Mitgefühl, das noch über die sehnende Liebe einer Mutter zu ihrem wunderlichen Kinde hinausgeht.