Die Weissagung, die die Zeit der Wiederkunft Jesu am deutlichsten vor Augen zu führen schien, war die in Daniel 8,14: „Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind; dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.“ Seiner Regel getreu folgend, das Wort Gottes zu seinem eigenen Ausleger zu machen, lernte der eifrige Bibelstudent William Miller, dass ein Tag in sinnbildlicher Weissagung ein Jahr bedeutet. (4. Mose 14, 34; Hesekiel 4, 6) Er sah, dass der Zeitraum von 2300 prophetischen Tagen oder buchstäblichen Jahren sich weit über den des Alten Bundes hinaus erstreckte und sich somit nicht auf das damalige Heiligtum beziehen konnte (Daniel 8,17.19.26). Miller teilte die verbreitete Ansicht, dass im christlichen Zeitalter die Erde das Heiligtum sei, und verstand deshalb, dass [das Weihen oder] die Reinigung des Heiligtums, von der in Daniel 8,14 gesprochen wird, die Reinigung der Erde durch Feuer beim zweiten Kommen Christi darstelle. Wenn also der richtige Ausgangspunkt für die 2300 Tage gefunden werden könnte, dann wäre man auch leicht imstande, meinte er, die Zeit der Wiederkunft Christi festzustellen. Auf diese Weise würde die Zeit jener großen Vollendung offenbar werden, die Zeit, da der gegenwärtige Zustand mit „all seinem Stolz und seiner Macht, seinem Gepränge und seiner Eitelkeit, seiner Gottlosigkeit und Unterdrückung ein Ende hat,“ da der Fluch „von der Erde hinweggenommen, der Tod vernichtet, die Knechte Gottes, die Propheten, die Heiligen und alle, die seinen Namen fürchten, belohnt, und jene, die die Erde verderben, vernichtet werden sollen.“ (Bliß, S. 76.)
Mit neuem und größerem Ernst setzte Miller die Prüfung der Weissagung fort und widmete Tag und Nacht dem Studium dessen, was ihm von so gewaltiger Wichtigkeit und alles überragender Bedeutung zu sein schien. Im achten Kapitel Daniel konnte er keinen Anhalt für den Ausgangspunkt der 2300 Tage finden. Der Engel Gabriel, obgleich beauftragt, dem Daniel das Gesicht zu erklären (Daniel 8,15.16), gab ihm nur eine teilweise Auslegung (Daniel 8,27). Als der Prophet die schreckliche Verfolgung sah, welche die Gemeinde befallen würde, verließ ihn die körperliche Kraft. Er konnte nichts mehr ertragen, und der Engel verließ ihn einstweilen. Daniel „ward schwach und lag etliche Tage krank. … Und (ich) verwunderte mich des Gesichts“, sagte er, „und niemand war, der mir’s auslegte.“
Doch Gott hatte seinem Boten befohlen: „Lege diesem das Gesicht aus, dass er’s verstehe.“ Dieser Auftrag musste vollzogen werden, und deshalb kehrte der Engel später zu Daniel zurück und sagte: „Jetzt bin ich ausgegangen, dich zu unterrichten. … So merke nun darauf, dass du das Gesicht verstehst.“ (Dan.9, 22.23.2527.) In dem Gesicht des achten Kapitels war ein wichtiger Punkt nicht erklärt worden, nämlich die Zeit (der Zeitraum der 2300 Tage); deshalb verweilte der Engel in der Wiederaufnahme seiner Erklärung hauptsächlich bei dem Gegenstand der Zeit. „Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt. … So wisse nun und merke: von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, dass Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen, so werden die Gassen und Mauern wieder gebaut werden, wiewohl in kümmerlicher Zeit. Und nach den zweiundsechzig Wochen wird der Gesalbte ausgerottet werden und nichts mehr sein. … Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang. Und mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören.“ (Dan. 9, 22. 27.)
Der Engel war zu dem besonderen Zweck zu Daniel gesandt worden, um ihm den Punkt, den er in dem Gesicht vom achten Kapitel nicht verstanden hatte, zu erklären, nämlich die Angabe bezüglich der Zeit. „Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen um sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden.“ Nachdem er Daniel aufgefordert hatte, „so merke nun darauf, dass du das Gesicht verstehest“, waren die ersten weiteren Worte des Engels: „Siebzig Wochen sind bestimmt über dein Volk und über deine heilige Stadt.“ Das hier mit „bestimmt“ übersetzte hebräische Wort (hebr. „chatak“) bedeutet wörtlich „abgeschnitten“. Der Engel erklärt, dass siebzig Wochen, also 490 Jahre, abgeschnitten seien, als besonders den Juden gehörig. Wovon aber waren sie abgeschnitten? Da die 2300 Tage die einzige im achten Kapitel erwähnte Zeitspanne ist, so müssen die siebzig Wochen von diesem Zeitraum abgeschnitten sein und somit einen Teil der 2300 Tage ausmachen; und zwar müssen diese beiden Abschnitte zusammen anfangen. Die siebzig Wochen sollten nach der Erklärung des Engels mit dem Ausgehen des Befehls, Jerusalem wieder herzustellen, anfangen. Ließe sich das Datum dieses Befehls finden, so wäre auch der Ausgangspunkt der großen Periode von 2300 Tagen festgestellt.
Im siebten Kapitel Esras befindet sich dieser Befehl. (Esra 7, 12-16.) Er wurde in seiner vollständigen Form von Artaxerxes, dem König von Persien, im Jahre 457 v. Chr. erlassen. In Esra 6,14 heißt es jedoch, dass das Haus des Herrn zu Jerusalem gebaut worden sei „nach dem Befehl des Kores (Cyrus), Darius und Arthahsastha (Artaxerxes), der Könige in Persien.“ Diese drei verfassten, bestätigten und vervollständigten den Erlass, der dann die für die Weissagung notwendige Vollkommenheit hatte, um den Anfangspunkt der 2300 Jahre zu bezeichnen. Indem das Jahr 457 v. Chr., in welchem das Dekret vollendet wurde, als Zeit des Ausganges des Befehls angenommen wurde, zeigte sich, dass jede Einzelheit der Weissagung hinsichtlich der siebzig Wochen erfüllt worden war und somit die Richtigkeit des Datums korrekt sei.
„Von der Zeit an, da ausgeht der Befehl, dass Jerusalem soll wiederum gebaut werden, bis auf den Gesalbten, den Fürsten, sind sieben Wochen und zweiundsechzig Wochen“ — also 69 Wochen oder 483 Jahre (1 Tag = 1 Jahr: 4. Mose 14,34; Hesekiel 4,1-6) . Der Erlass des Artaxerxes trat im Herbst des Jahres 457 v. Chr. in Kraft. Von diesem Zeitpunkt an gerechnet erstreckten sich 483 Jahre bis auf den Herbst des Jahres 27 n. Chr. Zu jener Zeit ging die Weissagung in Erfüllung. Im Herbst des Jahres 27 n. Chr. wurde Christus von Johannes getauft und empfing die Salbung des Heiligen Geistes. Der Apostel Petrus legte Zeugnis ab, dass „Gott diesen Jesus von Nazareth gesalbt hat mit dem Heiligen Geist und Kraft.“ (Apostelgeschichte 10,38) Und der Heiland selbst erklärte: „Der Geist des Herrn ist bei mir, darum dass er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt zu verkündigen das Evangelium den Armen.“ (Lukas 4, 18.) Nach seiner Taufe „kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium vom Reich Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt.“ (Markus 1, 14. 15.)
„Er wird aber vielen den Bund stärken eine Woche lang.“ Die hier erwähnte Woche ist die letzte der siebzig; es sind die letzten sieben Jahre der den Juden besonders zugemessenen Zeitspanne. Während dieser Zeit, welche sich von 27-34 n. Chr. erstreckte, ließ Jesus erst persönlich, dann durch seine Jünger die Einladung des Evangeliums ganz besonders an die Juden ergehen. Als die Apostel mit der frohen Botschaft vom Reich hinausgingen, war die Anweisung des Heilandes: „Geht nicht auf der Heiden Straße und ziehet nicht in der Samariter Städte, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel.“ (Matthäus 10, 5.6)
„Mitten in der Woche wird das Opfer und Speisopfer aufhören.“ Im Jahre 31 n. Chr., 3 1/2 Jahre nach seiner Taufe, wurde der Herr gekreuzigt. Mit diesem großen auf Golgatha dargebrachten Opfer hörte jenes Opfersystem auf, welches vier Jahrtausende lang vorwärts auf das Lamm Gottes hingewiesen hatte. Der Schatten war im Wesen aufgegangen, und alle Opfer und Gaben des Zeremonialgesetzes sollten hier enden. Die besonders für die Juden bestimmten siebzig Wochen oder 490 Jahre liefen, wie wir gesehen haben, im Jahre 34 n. Chr. ab. Zu jener Zeit besiegelte das jüdische Volk durch den Beschluss des Hohen Rates die Verwerfung des Evangeliums, indem sie Stephanus steinigte und die Nachfolger Christi verfolgte. Dann wurde die Heilsbotschaft, die hinfort nicht länger auf das auserwählte Volk beschränkt war, der Welt verkündigt. Die Jünger, durch Verfolgung gezwungen, aus Jerusalem zu fliehen, „gingen um und predigten das Wort. Philippus aber kam hinab in eine Stadt in Samarien und predigte ihnen von Christus.“ (Apostelgeschichte 8, 4.5) Petrus, von Gott geleitet, erschloss dem Hauptmann von Cäsarea, dem gottesfürchtigen Kornelius, das Evangelium, und der eifrige Paulus, für den Glauben an Jesu gewonnen, wurde beauftragt, die frohe Botschaft „ferne zu den Heiden“ zu tragen. (Apostelgeschichte 22,21) Soweit ist jede Angabe der Weissagung auffallend erfüllt und der Anfang der siebzig Wochen ohne irgendwelchen Zweifel auf 457 v. Chr. und ihr Ablauf auf 34 n. Chr. festgelegt worden. Mittels dieser Angaben ist es nicht schwer, das Ende der 2300 Tage zu finden. Da die siebzig Wochen 490 Tage von den 2300 Tagen abgeschnitten sind, bleiben noch 1810 Tage übrig. Nach Beendigung der 490 Tage mussten die 1810 Tage noch erfüllt werden. Vom Jahre 34 n. Chr. erstrecken sich 1810 Jahre bis zum Jahr 1844. Nach dem Ablauf dieser großen prophetischen Zeitspanne sollte nach dem Zeugnis des Engels Gottes „das Heiligtum wieder geweiht [gereinigt] werden.“ Somit war die Zeit der Weihung oder Reinigung des Heiligtums – das Ereignis, das wie man beinahe allgemein glaubte, zur Zeit des zweiten Kommens stattfinden sollte — genau und bestimmt angegeben.
Im Jahr 1833, zwei Jahre nachdem Miller angefangen hatte, die Beweise des baldigen Kommens Christi öffentlich zu verkündigen, erschien das letzte jener Zeichen, die der Heiland als Vorläufer seiner Wiederkunft verheißen hatte (vgl. Matthäus 24,29.30; Markus 13,24-26) Jesus sagte: „Die Sterne werden vom Himmel fallen,“ und Johannes erklärte in der Offenbarung, als er im Gesicht die Vorgänge, die den Tag Gottes ankündigen sollten, erblickte: „Die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Winde bewegt wird.“ (Matthäus 24,29; Offenbarung 6,13.)
Diese Weissagung erfüllte sich treffend und eindrücklich in dem großen Meteorregen vom 13. November 1833. Es war das ausgedehnteste und wunderbarste Schauspiel fallender Sterne, von dem je berichtet worden ist. „Das ganze Himmelsgewölbe über den gesamten Vereinigten Staaten war damals stundenlang in feuriger Bewegung. Noch nie hatte sich von der ersten Ansiedlung an in diesem Land eine Naturerscheinung gezeigt, die mit solch großer Bewunderung von einem Teil der Bevölkerung und mit so viel Schaudern und Bestürzung von dem anderen Teil betrachtet wurde.“ „Die Erhabenheit und feierliche Pracht lebt noch heute frisch in manchem Gedächtnis. … Noch nie ist der Regen dichter auf die Erde gefallen als jene Meteore fielen; im Osten, Westen, Norden und Süden war es gleich. In einem Wort, das ganze Himmelsgewölbe schien in Bewegung zu sein. … Das Schauspiel, wie Prof. Sillimans Journal es schildert, wurde in ganz Nordamerika gesehen. … Bei vollkommen klarem und heiterem Himmel wurde von zwei Uhr bis zum hellen Tageslicht ein unaufhörliches Spiel blendend glänzender Lichtkörper am ganzen Himmel unterhalten.“ (Devens Fortschritt Amerikas, 28. Kap. Abschn. 15.) „Keine Sprache kann der Pracht jenes herrlichen Schauspiels gerecht werden; … niemand, der es nicht selbst gesehen, kann sich eine entsprechende Vorstellung von seiner Herrlichkeit machen. Es schien, als ob der ganze Sternenhimmel sich in der Nähe des Zenits in einem Punkt gesammelt hätte und mit Blitzesschnelle gleichzeitig nach allen Richtungen des Horizonts hin seine Sterne hervorschieße; und doch wurden diese nicht erschöpft — Tausende folgten schnell der Bahn, die Tausende durcheilt hatten, als seien sie für diesen Anlass erschaffen.“ (Christian Advocate and Journal, 13. Dez. 1833.)
Im New Yorker „Journal of Commerce“ vom 14. Nov. 1833 erschien ein ausführlicher Artikel über diese wunderbare Naturerscheinung, worin es heißt: „Kein Weiser oder Gelehrter hat je, wie ich annehme, eine Erscheinung wie diejenige von gestern morgen mündlich oder schriftlich berichtet. Vor 1800 Jahren hat ein Prophet sie genau vorausgesagt, so wir uns nur die Mühe nehmen wollen, unter Sternenfall das Fallen von Sternen … in dem allein möglichen Sinne, in dem es buchstäblich wahr sein kann, zu verstehen.“ So spielte sich das letzte jener Zeichen seines Kommens ab, worüber Jesus seinen Jüngern sagte: „Also auch, wenn ihr das alles seht, so wisst, dass er nahe vor der Tür ist.“ (Matth. 24, 33.) Als das nächste große Ereignis, das nach diesen Zeichen geschah, sah Johannes, dass der Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch, während die Erde erbebte, die Berge und Inseln aus ihren Örtern bewegt wurden und die Gottlosen vor der Gegenwart des Menschensohnes entsetzt zu fliehen suchten. (Offenbarung 6,12-17.)
Viele, die Augenzeugen von dem Sternenfall waren, sahen ihn als den Vorboten des kommenden Gerichts an, „als ein schreckliches Vorbild, einen sicheren Vorläufer, ein barmherziges Zeichen jenes großen und schrecklichen Tages.“ (Portland Advertiser, 26. Nov. 1833.) Auf diese Weise wurde die Aufmerksamkeit auf die Erfüllung der Weissagung gerichtet, und viele wurden dadurch veranlasst, die Botschaft von dem zweiten Kommen Christi zu beachten.
Im Jahre 1840 erregte eine andere merkwürdige Erfüllung der Weissagung große Aufmerksamkeit. Zwei Jahre zuvor hatte Josia Litch, einer der leitenden Prediger, die das zweite Kommen Christi verkündigten, eine Auslegung des neunten Kapitels der Offenbarung veröffentlicht, in der der Fall des Osmanischen Reiches vorhergesagt wurde. Seiner Berechnung gemäß sollte diese Macht im Jahre 1840 im Monat August gestürzt werden; und nur wenige Tage vor der Erfüllung schrieb er: „Wenn wir zugeben, dass die erste Zeitperiode, 150 Jahre, sich genau erfüllt hatte, ehe Konstantin XI. mit der Erlaubnis der Türken den Thron bestieg, und dass die 391 Jahre und 15 Tage am Schluss der ersten Zeitperiode anfingen, so müssen sie am 11. August enden, wenn man erwarten darf, dass die osmanische Macht in Konstantinopel gebrochen werden wird. Und ich glaube gewiss, dass dies der Fall sein wird.“ (‚Signs of the Times and Expositors of Prophecy.‘ 1. Aug. 1840.) Genau zu der bezeichneten Zeit nahm die Türkei durch ihre Gesandten den Schutz der vereinigten Großmächte Europas an und stellte sich auf diese Weise unter die Aufsicht der christlichen Nationen. Dieses Ereignis erfüllte die Weissagung genau. Als es bekannt wurde, gewannen viele die Überzeugung, dass die Grundsätze der prophetischen Auslegung, wie Miller und seine Gefährten sie angenommen hatten, richtig seien, und ein wunderbarer Antrieb wurde der Adventbewegung gegeben. Gelehrte und angesehene Männer vereinigten sich mit Miller, um zu predigen und die Botschaft zu veröffentlichen, und von 1840 bis 1844 dehnte sich das Werk rasch aus.
Als Jesus im Jahr 1844 nicht wie erwartet zur Erde zurückkam gab es eine große Enttäuschung und viele bekenntliche Gläubige sagten dem Glauben ab. Die Erfahrung der Jünger, die beim ersten Kommen Christi „das Evangelium vom Reich“ verkündigten, hat ihr Gegenstück in der Erfahrung derer, die die Botschaft seiner Wiederkunft verbreiteten. Gleichwie die Jünger hinausgingen und predigten: „Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist herbeigekommen“, und dabei dachten, dass Jesus das irdische Reich Gottes aufrichten würde, so verkündigten Miller und seine Mitarbeiter, dass die längste und letzte prophetische Zeitperiode, die die Bibel erwähnt, fast abgelaufen sei, dass das Gericht unmittelbar bevorstehe und das ewige Reich bald anbrechen würde. Das Predigen der Jünger bezüglich der Zeit war auf die 70 Wochen von Daniel 9 gegründet. Die von Miller und seinen Gefährten verbreitete Botschaft kündete den Ablauf der 2300 Tage von Dan. 8,14 an, von welchen die 70 Wochen einen Teil bilden. Die Verkündigung beider beruhte auf der Erfüllung eines anderen Teiles derselben großen prophetischen Zeitperiode. Gleich den ersten Jüngern verstanden auch William Miller und seine Gefährten selbst nicht völlig die Tragweite der Botschaft, die sie verkündigten. Lange in der Kirche genährte Irrtümer hinderten sie, zu der richtigen Auslegung eines wichtigen Punktes der Weissagung zu gelangen, und obgleich sie die Botschaft predigten, die Gott ihnen zur Verkündigung an die Welt anvertraut hatte, wurden sie dennoch durch die verkehrte Auffassung ihrer Bedeutung enttäuscht. In der Erklärung von Daniel 8,14: „Bis zweitausenddreihundert Abende und Morgen vergangen sind, dann wird das Heiligtum wieder geweiht werden“, hatte Miller die allgemein herrschende Ansicht angenommen, dass die Erde das Heiligtum sei, und er glaubte, dass die Weihe des Heiligtums, die Läuterung der Erde durch Feuer, am Tage der Wiederkunft des Herrn sei. Als er fand, dass der Ablauf der 2300 Tage bestimmt angegeben worden war, schloss er daraus, dass dies die Zeit der Wiederkunft offenbare. Sein Irrtum entstand dadurch, dass er bezüglich des Heiligtums die volkstümliche Ansicht annahm. In dem Schattendienst, der ein Hinweis auf das Opfer und die Priesterschaft Christi war, machte die Weihe oder Reinigung des Heiligtums den letzten Dienst aus, der von dem Hohenpriester im jährlichen Amtszyklus verrichtet wurde. Es war dies das abschließende Werk der Versöhnung, ein Wegschaffen oder Abtun der Sünde von Israel, und versinnbildete das Schlusswerk im Amt unseres Hohenpriesters im Himmel, wobei er die Sünden seines Volkes, die in den himmlischen Büchern verzeichnet stehen, hinwegnimmt oder austilgt. Dieser Dienst erfordert eine Untersuchung, ein Richten, und geht der Wiederkunft Christi in den Wolken des Himmels mit großer Macht und Herrlichkeit unmittelbar voraus; denn wenn er erscheint, ist jeder Fall schon entschieden worden. Jesus sagt: „Mein Lohn [ist] mit mir, zu geben einem jeglichen wie seine Werke sind.“ (Offenbarung 22,12) Dieses der Wiederkunft unmittelbar vorausgehende Gericht wird in der ersten Engelsbotschaft von Offenbarung 14, 7 verkündigt: „Fürchtet Gott und gebt ihm die Ehre; denn die Zeit seines Gerichts ist gekommen!“
Alle, die diese Warnung verkündigten, gaben die richtige Botschaft zur rechten Zeit. Doch wie die ersten Jünger auf Grund der Weissagung in Daniel 9 erklärten: „Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen“ und dennoch nicht erkannten, dass der Tod des Messias in der gleichen Schriftstelle angekündigt wurde; so predigten auch Miller und seine Mitarbeiter die auf Daniel 8,14 und Offenbarung 14,7 beruhende Botschaft, ohne zu erkennen, dass in Offenbarung 14 noch andere Botschaften dargelegt waren, die ebenfalls vor der Wiederkunft des Herrn erkannt und verkündigt werden sollten. Wie die Jünger sich über das Reich täuschten, das am Ende der 70 Wochen aufgerichtet werden sollte, so irrten die Adventisten bezüglich des Ereignisses, das sich am Ende der 2300 Tage zutragen sollte. In beiden Fällen war es eine Annahme oder vielmehr ein Festhalten der volkstümlichen Irrtümer, wodurch der Sinn gegen die Wahrheit verblendet wurde. Beide erfüllten den Willen Gottes, indem sie die Botschaft brachten, die verbreitet werden sollte, und beide Gruppen erlitten durch ihre eigene verkehrte Auffassung der Botschaft Enttäuschungen.
Dennoch erreichte Gott seine eigene gute Absicht und ließ es zu, dass die
Warnung des Gerichts auf die erwähnte Weise verkündigt wurde. Der große Tag
stand nahe bevor, und in seiner Vorsehung wurden die Menschen in bezug auf die
bestimmte Zeit geprüft, um ihnen zu offenbaren, was in ihren Herzen war. Die
Botschaft war zur Prüfung und Reinigung der Gemeinden bestimmt. Sie sollten zur
Einsicht gebracht werden, ob ihre Herzen auf diese Welt oder auf Christus und
den Himmel gerichtet waren. Sie gaben vor, den Heiland zu lieben; nun sollten
sie ihre Liebe beweisen. Waren sie bereit, ihre weltlichen Hoffnungen und
ehrgeizigen Pläne fahren zu lassen und mit Freuden die Ankunft ihres Herrn zu
erwarten? Die Botschaft sollte sie befähigen, ihren wahren geistlichen Zustand
zu erkennen; sie war in Gnaden gesandt worden, um anzuspornen, den Herrn mit
Reue und Demut zu suchen.
Auch die Täuschung, obgleich sie die Folge ihrer eigenen verkehrten Auffassung
der von ihnen verkündigten Botschaft war, sollte zum Besten gewendet werden. Sie stellte die Herzen auf die Probe,
die vorgegeben hatten, die Warnung anzunehmen. Würden sie angesichts ihrer
Enttäuschung ohne weiteres ihre Erfahrung aufgeben und ihr Vertrauen auf das
Wort Gottes wegwerfen? Oder würden sie demütig unter Gebet zu entdecken suchen,
worin sie verfehlt hatten, die Bedeutung der Weissagung richtig zu erfassen?
Wie viele hatten aus Furcht, aus blindem Antrieb und in Erregung gehandelt? Wie
viele waren halbherzig und ungläubig? Tausende bekannten, die Erscheinung des
Herrn liebzuhaben. Würden sie unter dem Spott und Schmach der Welt, unter der
Verzögerung und Enttäuschung den Glauben verleugnen? Würden sie, weil sie Gottes
Verfahren mit ihnen nicht gleich verstehen konnten, Wahrheiten beiseitesetzen,
die auf den deutlichsten Aussagen seines Wortes beruhten? Diese Probe sollte
die Standhaftigkeit derer offenbaren, die im Glauben gehorsam gewesen waren
gegen das, was sie als Lehre des Wortes und des Geistes Gottes angenommen
hatten. Diese Erfahrung sollte, wie keine andere es tun kann, ihnen die Gefahr
zeigen, Theorien und Auslegungen der Menschen anzunehmen, statt die Bibel sich
selbst erklären zu lassen. In den Kindern des Glaubens würden die aus ihrem
Irrtum hervorgehenden Schwierigkeiten und Sorgen die nötige Besserung wirken;
sie würden zu einem gründlicheren Studium des prophetischen Wortes veranlasst
werden und lernen, mit mehr Sorgfalt die Grundlagen ihres Glaubens zu prüfen
und alles Unbiblische zu verwerfen, wie weitverbreitet es in der Christenwelt
auch sein mochte. Diesen Gläubigen sollte, wie einst den ersten Jüngern, das,
was sie in der Stunde der Prüfung nicht verstanden, später aufgeklärt werden.
Würden sie „das Ende des Herrn“ sehen, dann würden
sie auch wissen, dass sich seine Liebesabsichten ihnen gegenüber trotz der
Schwierigkeiten, die sich aus ihren Irrtümern ergaben, erfüllt haben. Sie
würden durch eine segenbringende Erfahrung erkennen, dass der Herr „barmherzig
und ein Erbarmer“ ist; dass alle seine Wege „lauter
Güte und Wahrheit“ sind „denen, die seinen Bund und
seine Gebote halten.“(Psalm 25,10)